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Die Zwillingsschwestern von Machecoul

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V.
Eins Traum, der beinahe zur Wirklichkeit wird

Etwa zwei Stunden nach diesen Ereignissen hörte die Schildwache des kleinen Postens einen den Weg heraufkommenden Wagen. Der Soldat rief: »Wer da?« und als der Wagen nahe an das Hofthor gekommen war, mußte er anhalten.

Der Corporal kam mit vier Soldaten heraus, um den Wagen und Fuhrmann zu besichtigen.

Der Wagen war mit Heu beladen und allen jenen Fuhrwerken, die Abends vorbeigekommen waren, ganz ähnlich. Der Fuhrmann erklärte, daß er das Heu nach St. Philibert fahre und zur Ersparniß der im Frühjahr so kostbaren Zeit die Nacht zu Hilfe nehme. Der Unteroffizier befahl, ihn durchzulassen.

Aber diese Willfährigkeit schien dem Fuhrmann wenig zu nützen. Der Wagen, der nur mit einem Pferde bespannt war, hatte an dem steilsten Theile des Abhanges angehalten, und war trotz aller Anstrengungen des Pferdes und des Fuhrmanns nicht von der Stelle zu bringen.

»Man sieht wohl,« sagte der Corporal, »daß euer Gaul mehr Verstand hat als Ihr; denn es ist nicht möglich, daß ein Pferd den schweren Wagen den Berg heraufzieht.«

»Schade, daß der Sergent den zerlumpten Goliath fortgewiesen hat,« sagte ein Anderer, »wir hätten ihn mit vorspannen können.«

»Es fragt sich,« versetzte ein Anderer, »wie er sich hätte vorspannen lassen.«

Der Soldat hatte nicht Unrecht; wenn er gesehen hätte, was hinter dem Heuwagen vorging, so würde er sogleich bemerkt haben, daß Trigaud sich gewiß nicht zum Vorwärtsziehen des Wagens verstanden hätte; er würde auch gesehen haben, warum das Pferd den Wagen nicht von der Stelle ziehen konnte. Diese Schwierigkeit bestand nämlich größtentheils darin, daß der in der Dunkelheit nicht sichtbare Bettler den Heubaum ergriffen hatte und den Wagen mit aller Kraft zurückhielt.

»Wir wollen Euch helfen,« sagte der Corporal.

»Wartet nur, ich will’s noch einmal versuchen,« antwortete der Fuhrmann, der den Wagen schräg geschoben hatte und das Pferd beim Zügel nahm.

Er hieb tüchtig auf das arme Thier ein, welches nun, überdies durch den lauten Zuruf der Soldaten angetrieben, alle Kräfte aufbot und mit den Vorderhufen so kräftig in den steinigen Weg einschlug, daß die Funken sprühten. Aber es stürzte und zugleich verlor der Wagen das Gleichgewicht er fiel dicht neben dem Gebäude um.

Die Soldaten sprangen herbei und machten das Pferd von den Strängen los. In der Eile bemerkten sie nicht, daß Trigaud, nachdem er den Wagen umgeworfen, hinter eine Hecke schlüpfte.

»Wir wollen Dir helfen,« sagte der Corporal zu dem Bauer, »aber Da mußt Vorspann holen.«

»O nein,« sagte der Fuhrmann, »ich will den Tag abwarten; der liebe Gott will einmal nicht, daß ich weiter fahre, und man muß nicht gegen seinen Willen handeln.«

Der Bauer warf die Stränge über das Pferd, stieg auf und ritt davon, nachdem er den Soldaten gute Nacht, gewünscht hatte.

Zweihundert Schritte von der Hauptwache holte ihn Trigaud ein.

»Nun, habe ich’s gut gemacht?« fragte ihn der Bauer, »bist Du zufrieden?«

»Ja,« antwortete Trigaud, »so hatte es Aubin Courte-Joie befohlen.«

»Viel Glück!« sagte der Bauer, »ich will jetzt das Pferd wieder abliefern, es ist bequemer als der Wagen. Aber wenn der Fuhrmann morgen aufwacht und sein Heu sucht, so wird er sich wundern, wenn er’s dort oben findet.«

»Du mußt ihm sagen, weshalb es geschehen ist,« erwiderte Trigaud, er wird nichts sagen.«

Die beiden Männer trennten sich. Aber Trigaud entfernte sich nicht, er schlich in der Nähe umher, bis er in Saint-Colombin elf schlagen hörte; dann ging er leise zur Hauptwache hinauf. Die Schildwache ging auf und ab.

Trigaud kam unbemerkt bis an das Kellerloch. Nachdem er eine kleine Weile schweigend gelauscht hatte, zog er Heu vom Wagen und breitete es auf dem Boden aus, und auf diese dicke Schicht legte er vorsichtig den Mühlstein, der das Kellerloch verschlossen hielt, bückte sich auf diese Oeffnung, schob die von innen aufgestellten Bretter zurück, holte den von Michel aufgehobenen Courte-Joie heraus, zog den jungen Baron mit beiden Händen an sich, setzte Beide auf seine Schultern und entfernte sich, trotz seiner kolossalen Gestalt und der doppelten Last, so leise wie eine auf einem Teppich schleichende Katze.

Als Trigaud etwa fünfhundert Schritte gemacht hatte, stand er still, nicht weil er müde war, sondern weil es Aubin so wollte.

Michel sprang von der Schulter des Riesen auf die Erde, griff in die Tasche, nahm eine Handvoll kleiner Münze mit Goldstücken gemischt heraus und legte sie in Trigaud’s breite Hand.

Trigaud machte Miene, das Geschenk in eine Tasche zu stecken, die noch zweimal größer war als die Hand, die es empfangen hatte.

Aber Aubin hielt ihn zurück.

»Gib es dem Herrn zurück,« sagte er, »wir nehmen nicht mit beiden Händen.«

»Wie, mit beiden Händen?« fragte Michel.

»Ja, wir haben Ihnen persönlich keine Dienste geleistet, wie Sie vielleicht glauben,« sagte Courte-Joie.

»Ich verstehe Euch nicht, mein Freund.«

»Mein junger Herr,« fuhr der Krüppel fort, »jetzt, da wir draußen sind, kann ich wohl gestehen, daß ich vorhin ein bisschen gelogen habe, als ich Ihnen sagte, daß ich mich bloß in der Absicht, Sie aus dem Loche zu holen, habe einstecken lassen. Ich brauchte Ihre Hilfe, sonst würde ich nicht an’s Kellerloch gereicht haben; aber jetzt, da wir glücklich entwischt sind, muß ich Ihnen gestehen, daß Sie Ihre Gefangenschaft nur gegen eine andere vertauscht haben.«

»Was bedeutet das?«

»Es bedeutet, daß Sie vorhin in einem feuchten, ungesunden Kerker waren, jetzt aber in einer stillen heitern Nacht auf freiem Felde sind – aber trotzdem sind Sie doch im Gefängniß.«

»Im Gefängniß?«

»Oder wenigstens mein Gefangener.«

»Euer Gefangener?« sagte Michel lachend.

»Ja, vor der Hand wenigstens – bis ich Sie abgeliefert habe.«

»An wen wollt Ihr mich denn abliefern?«

»Das werden Sie bald sehen. Ich halte mich an meinen Auftrag, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich glaube nicht, daß Sie Ursache haben werden, sich zu beklagen.«

»Aber so saget doch —«

»Man berief sich auf die Dienste, die mir erwiesen worden waren, und bezahlte meinen armen Trigaud reichlich, und man sagte mir: »Befreie den Baron Michel de La Logerie und führe ihn zu mir.« Ich habe Sie befreit, Herr Baron, und liefere Sie ab.«

»Höre,« erwiderte Michel, der den Schenkwirth von Montaigu nicht recht verstand, »hier ist meine ganze Börse; aber führet mich auf den Weg nach La Logerie, ich will diesen Abend noch nach Hause.«

Er dachte, seine beiden Befreier hätten die Belohnung nicht groß genug gefunden.

»Herr Baron,« erwiderte Courte-Joie,sich in die Brust werfend, »mein Gevatter Trigaud kann diese Belohnung von Ihnen nicht annehmen, denn er ist bereits bezahlt worden, um gerade das Gegentheil von dem zu thun, was Sie von ihm verlangen. Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen, ich will Ihnen daher sagen, wer ich bin. Ich bin ein ehrlicher Gewerbsmann, der durch einige von den Grundsätzen der Regierung abweichende Meinungen gezwungen wurde, sein Haus zu verlassen; aber wie elend mein Aeußeres in diesem Augenblicke auch sey, so müssen Sie doch nicht glauben, daß ich für Geld Dienste leiste.«

»Aber wohin wollt Ihr mich denn führen?« fragte Michel, der bei seinem Befreier ein so feines Ehrgefühl nicht erwartet hatte.

»Belieben Sie uns zu folgen, in einer Stunde sollen Sie es erfahren.«

»Ich soll Euch folgen, nachdem Ihr mir erklärt habt, daß ich euer Gefangener sey? Das fehlte noch!«

Courte-Joie antwortete nicht; aber ein leiser Wink war genügend, um Trigaud anzudeuten, was er zu thun habe. Der junge Baron hatte diese Worte kaum gesprochen, so faßte ihn der riesige Bettler beim Kragen.

Er wollte um Hilfe rufen, denn er wollte lieber der Gefangene der Soldaten als Trigaud’s seyn; aber dieser hielt ihm die noch freie Hand auf den Mund. So liefen sie sieben- bis achthundert Schritte querfeldein; denn Michel schwebte am Arm des Kolosses fast in der Luft und berührte die Erde nur mit den Fußspitzen.

»Genug, Trigaud,« sagte Courte-Joie, der seinen Platz auf den Schultern des Bettlers wieder eingenommen hatte, ohne daß dieser durch die doppelte Last im mindesten belästigt zu werden schien. »Genug! dem jungen Baron muß jetzt der Gedanke, nach La Logerie zu geben, ziemlich verleidet seyn. Er ist uns überdies dringend empfohlen worden, wir müssen ihn also wohlconditionirt abliefern. Sind Sie jetzt vernünftig, Herr Baron?« fragte er seinen halberstickten Gefangenen, als Trigaud Halt machte.

»Ihr seyd die Stärkeren, ich führe nie Waffen bei mir,« antwortete der junge Baron, »ich muß mir eure schlechte Behandlung schon gefallen lassen.«

»Schlechte Behandlung! Sagen Sie das nicht; denn ich würde Sie auffordern müssen, mir bei Ihrer Ehre zu erklären, ob Sie nicht im Gefängniß der Blauen wie auf dem Wege unaufhörlich gesagt haben, daß Sie nach Logerie wollen, und daß Sie mich durch diese Halsstarrigkeit gezwungen haben, Gewalt zu brauchen.«

»So nennet mir wenigstens die Person, die Euch aufgetragen hat, mich aufzusuchen und zu ihr zu führen.«

»Das ist mir ausdrücklich verboten worden,« erwiderte Aubin Courte-Joie, »aber ohne meine Befehle zu übertreten, kann ich Ihnen sagen, daß es eine Person ist, die es gut mit Ihnen meint.«

Michel dachte mit Schaudern an Bertha; er meinte, sie habe seinen Brief erhalten, und obschon er eine peinliche Erklärung zu erwarten hatte, so sah er doch ein, daß er nicht umhin konnte, sich zu der von ihr gewünschten Unterredung zu begeben.«

»Gut,« sagte er, »ich weiß, wer mich erwartet.«

»Sie wissen es?«

»Ja, es ist das Fräulein von Souday.«

Aubin Courte-Joie antwortete nicht, aber er sah Trigaud mit einer Miene an, die zu sagen schien: »Wahrhaftig, er hats errathen!«

 

Michel bemerkte und verstand diesen Blick.

»Vorwärts!« sagte er.

»Und Sie wollen nicht versuchen zu entwischen?«

»Nein.«

»Auf Ihr Ehrenwort?«

»Ja, auf mein Ehrenwort.«

»Nun, da Sie vernünftig sind, so wollen wir Ihnen die Mittel an die Hand geben, sich nicht die Füße wund zu laufen auf den Steinen und zwischen dem Gestrüpp.«

Michel fand bald die Erklärung dieser Worte, denn nachdem sie Trigaud über die Landstraße, an deren Rande sie sich befanden, und kaum hundert Schritte durch den angrenzenden Wald geführt hatte, hörte der junge Baron das Wiehern eines Pferdes.

»Mein Pferd!« rief Michel, ohne sein Erstaunen zu verbergen.

»Glaubten Sie denn, wir hätten es gestohlen?« fragte Aubin Courte-Joie.

»Wie kommt es denn, daß ich Euch nicht an dem Orte wiederfand, wo ich Euch das Pferd anvertraut hatte?«

»Ich will's Ihnen sagen,« antwortete Aubin, »wir sahen Leute umherschleichen, die uns mit gar zu großer Aufmerksamkeit anschauten. Die neugierigen Leute können wir nicht leiden, und da die Zeit verging, ohne daß wir Sie zurückkommen sahen, entschlossen wir uns, Ihr Pferd nach La Banlœuvre zu führen; denn wir vermutheten, daß Sie sich wieder dahin begeben würden, falls Sie nicht arretirt würden. Unterwegs sahen wir, daß Sie es noch nicht waren —«

»Noch nicht?«

»Ja, aber es dauerte nicht lange, da wurden Sie festgenommen.«

»Ihr waret also in meiner Nähe, als mich die Gendarmen verhafteten?«

»Mein junger Herr,« erwiderte Aubin Courte-Joie mit seiner pfiffigen Miene, »Sie müssen sehr in Gedanken vertieft oder sehr zerstreut seyn, wenn Sie auf der Landstraße nicht Acht geben, was vorgeht, wer geht und kommt. Sie hätten seit zehn Minuten die Pferde der Herren hören sollen; wir haben sie gehört. Sie brauchten nur ganz einfach in den Wald zu gehen, wie wir es gemacht haben.

Michel dachte mit einem tiefen Seufzer an die Gedanken zurück, die ihn damals zerstreut hatten, und bestieg schweigend das Pferd, welches Trigaud inzwischen losgebunden hatte und ihm verführte, während Courte-Joie dem schwerfälligen Goliath begreiflich zu machen suchte, wie man den Steigbügel halten müsse.

Dann begaben sie sich wieder auf die Landstraße zurück, und der Bettler, der seine breite Hand auf den Hals des Pferdes legte, trabte nebenher.

Eine halbe Stunde nachher lenkten sie in einen Seitenweg ein, den Michel trotz der Dunkelheit an den schwärzlichen Umrissen des Waldes zu erkennen glaubte.

Bald kamen sie an einen Kreuzweg. Der junge Baron stutzte: er war hier vorbeigekommen, als er Bertha zum ersten Male begleitet hatte.

Als sie eben an den Weg kamen, der zu Tinguy’s Hütte führte, hörte man hinter einer Gartenhecke einen leisen Ruf.

Courte-Joie antwortete sogleich.

»Seyd Ihr es, Courte-Joie?« fragte eine weibliche Stimme und zugleich erschien eine weiße Gestalt über der Hecke.

»Ja wohl; aber wer seyd Ihr denn?«

»Rosine, die Tochter Tinguy’s. Erkennt Ihr mich denn nicht?«

»Rosine,« sagte Michel, den die Anwesenheit des Mädchens in der Vermuthung bestrickte daß er von Bertha erwartet werde.

Courte-Joie glitt mit seiner affenartigen Behendigkeit von Trigaud’s Rücken auf die Erde herab und eilte wie eine hüpfende Kröte auf die Hecke zu, während Trigaud den jungen Baron bewachte.

»Die Nacht ist so finster,« sagte Courte-Joie, »daß man eine weiße Katze leicht für eine graue halten kann. Aber,« setzte er leise hinzu, »warum bist Du denn nicht zu Hause?«

»Weil Leute im Hause sind; Ihr könnt den Baron Michel nicht hinführen.«

»Leute? Die verwünschten Blauen haben also überall Besatzung!«

»Es sind keine Soldaten. Jean Oullier ist den ganzen Tag auf den Füßen gewesen, und hat Leute von Montaigu mitgebracht.«

»Was machen sie denn?«

»Sie schwatzen. Geht nur zu ihnen, Ihr könnt Eins mit ihnen trinken und Euch ein bisschen wärmen.«

»Ja wohl; aber was machen wir unterdessen mit eurem jungen Herrn?«

»Ueberlaßt ihn nur mir; ist’s nicht so verabredet, Maître Courte-Joie?«

»Wir sollten ihn im Hause abliefern; man hätte ihn im Keller oder auf dem Boden verstecken können, und er hätte sich gewiß ganz ruhig verhalten, denn er ist gar nicht böse. Aber hier draußen könnte er uns abhanden kommen, er entschlüpft Einem unter den Händen wie ein Aal.«

»Was fällt Euch ein?« erwiderte Rosine, indem sie seit dem Tode ihres Vaters vielleicht zum ersten Male wieder lächelte. »Glaubt Ihr denn, er werde einem jungen Mädchen nicht ebenso gern folgen, wie zwei alten Kerlen?«

»Wenn aber der Gefangene seine Wächterin entführt?« fragte Courte-Joie.

»O, das habt Ihr nicht zu fürchten: ich bin flink auf den Füßen und habe gute Augen; ich komme auch nicht leicht in Verlegenheit. Ueberdies ist der Baron Michel mein Milchbruder; wir kennen uns so lange als wir denken können, und er wird mir gewiß nichts zu Leide thun. Was hat man Euch denn eigentlich aufgetragen?«

»Ihn wo möglich zu befreien und nöthigenfalls mit Gewalt in deines Vaters Haus zu bringen, wo wir Dich finden würden.«

»Nun, ich bin ja hier, das Haus ist vor Euch, und der Vogel aus dem Käfig: mehr hat man ja nicht von Euch verlangt.«

»Ich glaube auch.«

»Gute Nacht also.«

»Höre, Rosine, sollen wir ihm nicht der größeren Sicherheit wegen einen Faden um den Fuß binden?« fragte Courte-Joie grinsend.

»Schönen Dank, Maître Courte-Joie,« sagte Rosine, indem sie auf Michel zuging, »Ihr solltet nur einen Faden um eure Zunge binden!«

Michel hatte, ungeachtet der Entfernung, in der er geblieben war, den Namen Rosine unterschieden und das Einverständniß zwischen seinen beiden Befreiern oder nunmehrigen Hütern bemerkt. Er wurde daher noch mehr in der Vermuthung bestärkt daß er Bertha seine Befreiung verdanke.

Die Handlungsweise Aubins, die Gewalt, welche er durch Vermittlung Trigauds gegen ihn gebraucht hatte, die Geheimnißkrämerei des Schenkwirthes hinsichtlich der Ursache seiner Hingebung für einen Mann, den er kaum kannte – alles dies stimmte genau zu der Erbitterung, welche wie Michel vermuthete, der dem Notar Loriot anvertraute Brief hervorgerufen haben mußte.

»Du bist’s, Rosine!« sagte er laut, als er das Mädchen in der Dunkelheit auf sich zukommen sah.

»Das läßt sich hören!« erwiderte Rosine, »Sie machen’s nicht wie der garstige Courte-Joie, der mich durchaus nicht erkennen wollte. Nicht wahr, Herr Baron, Sie haben mich gleich erkannt?«

»Nein, aber setzt erkenne ich Dich. Aber sage mir, Rosine, wo ist Fräulein Bertha?«

»Fräulein Bertha?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Rosine mit einer Arglosigkeit, welche Michel sogleich nach ihrem wahren Werthe würdigte.

»Wie, Du weißt es nicht?« wiederholte er.

»Ich glaube, daß sie in Souday ist.«

»Du weißt es nicht gewiß? Du glaubst es? Hast Du sie denn heute nicht gesehen?«

»Nein, Herr Baron, ich weiß nur, daß sie heute mit dem Herrn Marquis in’s Schloß gehen wollte; aber ich war unterdessen in Nantes.«

»In Nantes!« sagte Michel erstaunt.

»Du bist heute in Nantes gewesen?«

»Ja Wohl.«

»Um welche Stunde warst Du da?«

»Es schlug neun, als wir über die Rousseaubrücke gingen.«

»Wir, sagst Du?«

»Allerdings.«

»Du warst also nicht allein?«

»Nein, ich war hingegangen, um Fräulein Mary zu begleiten. Eben dadurch wurde die Reise verzögert, man mußte mich erst im Schlosse rufen lassen.«

»Aber wo ist Fräulein Mary?«

»Jetzt?«

»Ja.«

»Sie ist auf der Binseninsel, und dahin soll ich Sie führen. Aber Sie kommen mir ganz sonderbar vor, Herr Baron!«

»Du sollst mich zu ihr führen?« erwiderte Michel, sehr freudig überrascht. »Komm doch, liebe Rosine, komm geschwind!«

»Was steckt denn dem alten Narren Courte-Joie im Kopfe? er meinte, Sie würden mir davonlaufen!«

»Rosine, liebes Kind, um des Himmels willen, wir wollen keine Zeit verlieren!«

»Ich bin bereit. Aber um schneller fortzukommen, müssen Sie mich mit auf’s Pferd nehmen.«

»Das versteht sich,« sagte Michel, dessen eifersüchtiger Argwohn durch den Gedanken, Mary wiederzusehen, schnell vertrieben worden war, und der mit Entzücken dachte, daß sich die Geliebte so eifrig um seine Befreiung bekümmert hatte.

»Aber komm doch!«

»Da bin ich. Reichen Sie mir die Hand.« sagte Rosine, indem sie auf den Fuß des jungen Barons stieg und sich behende auf den Mantelsack schwang. »Ich sitze schon. Jetzt reiten Sie rechts.«

Michel ritt fort, ohne sich um Trigaud und Courte-Joie im mindesten zu kümmern.

Für ihn war jetzt nur Mary in der Welt.

Er ritt eine Strecke fort.

»Aber,« fragte der junge Baron, der begierig jede Gelegenheit ergriff, von Mary zu sprechen, »aber wie hat denn das Fräulein erfahren, daß ich von den Gendarmen verhaftet worden war?«

»Um Ihnen das zu erzählen, Herr Baron, muß ich weit ausholen.«

»Hole nur so weit aus wie Du willst, liebes Kind.« erwiderte Michel. »Aber sprich, ich brenne vor Ungeduld. O, wie schön ist’s doch, frei zu seyn und Fräulein Mary wiederzusehen!«

»Sie müssen wissen, Herr Baron, daß Fräulein Mary diesen Morgen, als der Tag kaum graute, nach Souday ging, meine Sonntagskleider borgte und zu mir sagte: Rosine, Du mußt mich begleiten.«

»Weiter, Rosine, ich höre.«

»Wir nahmen also Eier in unsere Körbe und gingen nach Nantes, wie zwei Bauernmädchen. Während ich meine Eier verkaufte, besorgte Fräulein Mary ihre Geschäfte.«

»Was für Geschäfte?« fragte Michel, vor dessen Augen die Gestalt des in einen Bauer verkleideten jungen Mannes wie ein Gespenst erschien.

»Das weiß ich nicht, Herr Baron.« erwiderte Rosine, und ohne den Seufzer Michel’s zu beachten, fuhr sie fort: »Da Fräulein Mary sehr müde war, so bat man Herrn Loriot, den Notar von Légé, uns mit in seinen Wagen zu nehmen. Wir hielten unterwegs an, um das Pferd zu füttern, und während der Notar mit dem Wirth über den Preis der Lebensmittel plauderte, gingen wir in den Garten; denn alle Bauern schauten das Fräulein an. Es ist auch nicht zu verwundern, denn ein so schönes Bauernmädchen ist wohl noch nie in einer Carriole gefahren. Da las sie einen Brief und weinte dabei so heiße Thränen —«

»Einen Brief?« fragte Michel.

»Ja, einen Brief, den ihr Herr Loriot unterwegs übergeben hatte.«

»Mein Brief!« erwiderte Michel betroffen, »sie hat meinen Brief an ihre Schwester gelesen!«

Er hielt sein Pferd an, denn er wußte nicht, ob er sich über diesen Zwischenfall freuen oder erschrecken sollte.

»Nun, was machen Sie denn?« fragte Rosine, welche die Ursache dieses Anhaltens nicht begriff.

»Nichts, nichts!« erwiderte Michel, indem er sein Pferd wieder in Trab setzte.

Rosine erzählte nun weiter:

»Während sie weinte und immer wieder in den Brief schaute, rief man uns hinter der Hecke. Es waren Courte-Joie und Trigaud. Courte-Joie erzählte uns Ihr Abenteuer und fragte, was er mit dem Pferde, das Sie ihm übergeben hatten, anfangen sollte. Das arme Fräulein war nun ganz außer sich; sie redete dem Krüppel, der dem Herrn Marquis übrigens sehr viel verdankt, so dringend zu, daß sie ihn überredete, Sie wo möglich mit List aus der Gewalt der Soldaten zu befreien. Sie haben wirklich eine eifrige Freundin an ihr, Herr Baron!«

Michel hörte mit Entzücken zu; er hätte gern jedes Wort von Rosinens Erzählung mit einem Goldstück bezahlt. Er fand, daß sein Pferd zu langsam ging. Er brach einen Nußbaumzweig ab und trieb sein Pferd zu einem stärkern Trab an.

»Aber warum hast Du mich nicht in deines Vaters Hause erwartet, Rosine?« fragte er.

»Es war auch unsere Absicht, Herr Baron; wir waren dort abgestiegen und sagten, daß wir uns zu Fuß nach Souday begeben wollten. Sie hatte dem Krüppel dringend empfohlen, Sie dahin zu fuhren und nicht nach La Banlœuvre gehen zu lassen, ehe Sie mit ihr gesprochen. Aber zum Unglück war unser Haus, das seit dem Tode meines armen Vaters so einsam und verlassen gewesen war, den ganzen Abend so voll wie ein Wirthshaus. Erstens kehrten der Herr Marquis und Fräulein Bertha auf dem Wege nach Souday ein; dann kam Jean Oullier mit den Gemeindevorstehern zusammen. Als es Abend wurde, bat mich Fräulein Mary, die sich auf dem Boden versteckt hatte, sie an einen Ort zu führen, wo sie unter vier Augen mit Ihnen sprechen könnte, wenn Courte-Joie Sie befreite. – Aber da kommen wir an die Mühle von St. Philibert, und werden bald das Wasser von Grand-Lieu sehen.«

Diesen letzten Worten Rosinens, welche die baldige Ankunft an dem Orte, wo Mary wartete, in Aussicht stellte, folgte wieder ein tüchtiger Hieb auf den Hals des Pferdes. Michel sah wohl, daß sich sein Schicksal nun entscheiden mußte. Mary wußte ja, daß er sie liebte, sie wußte, daß diese Liebe den jungen Baron bewogen hatte, die ihm angetragene Verbindung abzulehnen. Sie fühlte sich dadurch nicht beleidigt, denn die Theilnahme, die sie ihm widmete, ging ja so weit, daß sie ihm einen sehr wichtigen Dienst erwies, daß sie sogar ihren Ruf aufs Spiel setzte. Michel hielt es daher für unmöglich, daß Mary, welche der öffentlichen Meinung, dem Zorn ihres Vaters, den Vorwürfen ihrer Schwester trotz bot, um ihren Verehrer zu retten, seinen Bitten kein Gehör geben, seine Hoffnungen nicht verwirklichen sollte. Er sah seine Zukunft freilich noch in Wolken gehüllt, aber diese Wolken waren rosenfarben.

 

»Sind wir bald da?« fragte er seine Führerin, als er den Hügel hinabritt, der den See Grand-Lieu auf der Südostseite begrenzt, und die Wasserfläche wie einen matten Stahlspiegel glänzen sah.

»Ja,« antwortete Rosine, indem sie vom Pferde hinabglitt. »Jetzt folgen Sie mir.«

Michel stieg ebenfalls ab. Beide gingen in das Weidengebüsch, wo Michel sein Pferd an einen Baum band; dann gingen sie noch etwa hundert Schritte in diesem Dickicht fort, und kamen an eine kleine Bucht des Landsees.

Rosine sprang in einen kleinen Kahn, der am Ufer festgebunden war. Michel wollte die Ruder ergreifen, aber Rosine, die ihm nicht genug Geschicklichkeit zutraute, wehrte ihn ab und setzte sich, mit jeder Hand ein Ruder fassend, vorn in den kleinen platten Nachen.

»Lassen Sie nur,« sagte sie. »ich kann besser damit umgehen als Sie; ich habe gar oft gerudert, während mein armer Vater die Netze in die See auswarf.«

Dabei blickte sie zum Himmel auf, als ob sie den verstorbenen alten Mann dort suchen wollte, und zwei Thränen quollen aus ihren schönen Augen.

»Aber kannst Du die Insel in der Dunkelheit auch finden?« fragte Michel mit dem Egoismus der Liebe.

»Sehen Sie nur,« antwortete sie, ohne sich umzusehen, »bemerken Sie nichts auf dem Wasser?«

»Ja wohl,« sagte Michel, »es sieht aus wie ein Stern.«

»Den Stern hält Fräulein Mary in der Hand; sie muß uns 0gehört haben und kommt uns entgegen.«

Michel hätte sich in’s Wasser stürzen mögen, um dem Nachen vorauszuschwimmen, der ungeachtet der nautischen Kenntnisse Rosinens ziemlich langsam über den Wasserspiegel glitt. Es schien ihm, als ob der Raum, der ihn noch von dem Lichte trennte, gar nicht kleiner würde, obgleich das Licht mit jeder Minute größer wurde.

Aber als er der Insel so nahe war, daß er den einzigen auf derselben stehenden Weidenbaum erkennen konnte, sah er sich vergebens nach Mary um. Mary war nicht am Ufer. Sie hatte vermuthlich ein Feuer mit Rohr und Binsen angezündet, und dieses brannte, ohne geschürt zu werden.

»Rosine,« sagte Michel ganz bestürzt, indem er sich so rasch aufrichtete, daß der Kahn fast umschlug, »ich sehe ja Fräulein Mary nicht,«

»Sie ist in der Hütte auf der Lauer,« erwiderte Rosine, als der Kahn an’s Ufer stieß. »Nehmen Sie einen brennenden Span und Sie werden die Hütte am andern Ufer, gegen den offenen See finden.«

Michel sprang schnell an’s Land und eilte auf die andere Seite der Insel zu, wo die Hütte stand.

Die Binseninsel mochte etwa zwei- bis dreihundert Quadratmeter Flächenraum halten; der niedrige Rand, der ringsum mit Schilf und Binsen bewachsen war, stand nach anhaltendem Regen immer unter Wasser; nur ein etwa fünfzig Fuß breiter Raum blieb selbst bei dem höchsten Wasserstande des Sees trocken. Auf diesem Raume hatte der alte Tinguy eine kleine Hütte erbaut, wo er in den langen Winternächten auf Wildenten lauerte.

In diese Hütte hatte Rosine das Fräulein Mary von Souday geführt.

Michel’s Herz pochte fast hörbar, als er sich der Hütte näherte. Er stand zögernd vor der Thür still, als er im Begriff war, die hölzerne Klinke zu ergreifen.

Sein Blick fiel nun auf eine im oberen Theile der Thür eingefügte Glasscheibe, durch die er in die Hütte sehen konnte.

Er bemerkte Mary, die traurig und sinnend auf einem Bündel Binsen saß.

Bei dem trüben Licht einer auf einem Schämel stehenden Laterne glaubte er zwei Thränen an den langen Augenwimpern der Geliebten schimmern zu sehen, und der Gedanke, daß er diese Thränen verursacht, vertrieb in einem Augenblicke seine Schüchternheit.

Er riß die Thür auf und sank Mary zu Füßen.

»Mary!« sagte er begeistert, »Mary, ich liebe Sie!«