Jetzt mal ehrlich ...

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

DREI

Hallo, Jeff,

hier ist der freundliche, abtrünnige Wanderer. Es ist schön, von Dir zu hören, und es tut besonders gut, so anschaulich daran erinnert zu werden, dass ich nicht der Einzige bin, der seine Zeit damit verbringt, mit wirren, idiotischen Gedanken und einem leidenschaftlichen Wunsch zu jonglieren, die Liebe Gottes im Leben von Menschen wirken zu sehen. Manchmal gelingt es mir mit lächerlich hektischen Anstrengungen, alle diese drei unhandlichen Gegenstände gleichzeitig in der Luft zu halten. Meistens jedoch fällt mir irgendwann einer davon herunter, und bei dem verzweifelten Versuch, ihn doch noch zu erwischen, gehen mir die anderen beiden auch noch durch die Lappen. Das ist kein Witz. Es macht mich wahnsinnig.

Wo wir gerade dabei sind: Du hast mir in Deinem Brief eine Frage gestellt. Es ging darum, ob ich die Possen und Tollheiten, die mein Leben mit solch unerbittlicher Regelmäßigkeit begleiten, wie wunde Stellen empfinde. Ich will Dir eine Antwort darauf geben, wenn auch eine ziemlich umständliche. Beginnen möchte ich mit einer kleinen Geschichte.

Vor zwei Wochen stellte ich mich in einer Krankenhaus-Cafeteria in der Nähe von King’s Lynn an, um mir einen Becher Kaffee zu holen. Am Anfang der Schlange bezahlten gerade ein älterer Mann und seine Frau ihr Mittagessen. Ich weiß nicht, ob Du den bezaubernden Akzent der Leute in Norfolk kennst. Er hört sich von Ort zu Ort in der Grafschaft ein wenig unterschiedlich an, aber im Allgemeinen hat er einen typischen langsamen, gemessenen Ton und auffällig gedehnte Vokale. Besonders am Ende der Sätze ist das so, wo die Stimme einen kleinen Schlenker nach oben macht, sodass sich jede Äußerung anhört wie eine Frage. Als die Frau sich noch ein Stück Obst zu ihrem belegten Brötchen aussuchte, wandte sie sich an den Mann hinter dem Tresen:

„Ich mag Biiiirnen. Er mag auch Biiiiirnen. Ich mag sie haaaart. Er mag sie weeeeeich. Also kriegt er nie welche aaaaab ...“

Es hätte diese einmalig knauserige Dame vermutlich überrascht und verwirrt, hätte sie gemerkt, dass ihre Worte mir besonders zu denken gaben, weil ich mich im Zusammenhang mit einer einwöchigen Freizeit, die Bridget und ich kurz zuvor im Scargill House geleitet hatten, intensiv mit dem Buch Maleachi beschäftigt hatte.

Du kennst doch Maleachi, Jeff, oder? Das letzte Buch im Alten Testament. Es besteht mehr oder weniger aus einer einzigen langen Schimpfkanonade Gottes über die erbärmlichen Opfer, die die Priester am Altar darbrachten: stinkige alte Ziegen, flohverseuchte Tauben, halb tote Schafe und dergleichen.

„Bietet ein solches Tier doch einmal eurem Statthalter an“, sagt Gott empört. „Ich habe genug von euch, und auf eure Gaben verzichte ich!“

Wollte man das Ganze aktualisieren, so würde es sich heute vielleicht so anhören:

Gott mag keine Blumen von der Tanke.

Er interessiert sich nicht für die hastig zusammengerafften Überreste unserer Zeit, unserer Kraft, unseres Geldes oder unseres Engagements. Warum sollte er auch?

„Ihr heult und werft mir vor, dass ich eure Gebete nicht erhöre“, beschwert er sich, „aber erhört ihr denn meine Gebete? Wenn ihr nichts zu bieten habt als unnützen Müll, den ihr sowieso nicht gebrauchen könnt, dann gebt mir lieber gar nichts.“

Gebt mir lieber gar nichts. Wie findest Du das?

Eines ist mir während unserer Studienwoche klar geworden: Obwohl Gott hier kompromisslos mit seinem Volk ins Gericht geht, gibt es doch ein unvollkommenes Opfer, das er jederzeit gerne von mir annehmen wird, wann immer ich willens bin, es ihm darzubringen. Welches? Ganz einfach (so einfach wie beängstigend, könnte man sagen): mich selbst. Adrian Plass. Jeff Lucas. Jeden, der verrückt oder tapfer genug ist, sich in den Ablauf von Karfreitag, Karsamstag und Ostersonntag hineinzubegeben, der unaufhörlich ebenso schmerzhaft wie wohltuend in unseren Lebensbereich eindringt, wenn wir es zulassen.

Tut mir leid, wenn ich Dich anpredige. Das war mehr für mich selbst als für Dich bestimmt.

Aber was hat das alles mit Deiner Frage zu tun? Ich schätze, es hängt irgendwie mit dem beunruhigenden Punkt zusammen, an dem ich mich im Moment befinde. Einem Punkt, an dem ich mich mit allen möglichen Problemen wie Eitelkeit, Unabhängigkeit, Furcht vor dem Unbekannten und mit meinem fortschreitenden Alter herumschlage. Wie soll ich Dir mein Problem schildern? Na schön, ich glaube, ich kann es in vier Wörtern zusammenfassen.

Gott braucht mich nicht.

Petrus hätte bestimmt verstanden, was ich damit meine. Nach seinem Totalausfall im Innenhof des Palastes hätte er vielleicht etwa Folgendes sagen können:

Warum habe ich eigentlich geweint? Seinetwegen. Er war schuld. Blöder Jesus. Er hat mich einfach nicht haben wollen. Er hat mich nicht gebraucht. Wisst ihr, manchmal hat er mit mir geredet, als wäre ich irgend so ein finsterer, schrecklicher Geselle – ein Teufel –, der ihn von seinem herrlichen, hirnigen Weg abbringen wollte, den er ging, weil er fest davon überzeugt war, sich massakrieren lassen zu müssen.

Einmal hat er mich sogar Satan genannt. Mich! Mich! Er sollte mal darüber nachdenken, was er eigentlich will. Ich meine, ich kann ja wohl nicht gleichzeitig der Fels sein, auf den er seine Gemeinde bauen will, und Satan, oder? Sagt ihr es mir. Vielleicht kann ich das ja. Vielleicht bin ich nur zu beschränkt, um es zu kapieren.

Aber ist es denn nicht so, dass man seinen Freunden helfen sollte? Und genau das hätte ich getan. Ich will nicht behaupten, ich hätte keine Angst gehabt, aber als sie ihn in diesem Garten abholen kamen, da habe ich tatsächlich mein Schwert in die Hand genommen und bin ehrlich überzeugt, dass ich für ihn gestorben wäre, wenn es hätte sein müssen. Wisst ihr, was ich meine? Dieser Mann war es mir wert, mich für ihn in Stücke schneiden zu lassen – weil ich ihn lieb hatte. So verhält man sich nun einmal, wenn man jemanden liebt, oder? Man gibt alles, was man hat. Über die Konsequenzen denkt man gar nicht nach. Man ist einfach zur Stelle und tut, was nötig ist.

Und er? Was sagt er? „Steck dein Schwert weg. Wenn ich wollte, könnte ich meinen Vater bitten, und er würde mir zwölf Legionen Engel schicken, um mich hier herauszuholen.“ Und warum tat er es dann nicht? Warum nicht? Was war sein Problem? Wollte er unbedingt irgendeine wilde, wahnwitzige Unabhängigkeit wahren? Er braucht mich nicht! Braucht mein Schwert nicht! Braucht die Engel seines Vaters nicht. Er braucht überhaupt nichts, nur dieses – dieses grausige, fürchterliche Unheil, das offenbar unbedingt geschehen muss. Wieso, weiß nur er. Was will er denn nur? Was will er? Was will er?

Warum ich behauptet habe, dass ich ihn nicht kenne? Ach, keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Doch, ich weiß es. Es war mir peinlich, dass die Leute denken könnten, ich hätte etwas mit diesem – diesem Loser zu tun.

Ich war verletzt. Er brauchte mich nicht. Nicht mich. Nicht mich, der ich alles für ihn getan hätte, außer – nun ja, außer ihm in ein finsteres, hoffnungsloses, sinnloses Unheil zu folgen. Ach, lieber Gott, ich wünschte, er hätte mich nicht angesehen! Seine Augen! Ach, ich liebe Dich, Jesus, und es tut mir so leid. Und ich würde alles geben – alles, um noch einmal eine Chance zu bekommen.

Aber daraus wird nichts. Ich habe es vermasselt. Daraus wird nichts ...

Im Licht dessen, was hinterher passierte, als Petrus beim Frühstück dem auferstandenen Jesus begegnete, lässt es sich auch anders ausdrücken: Jetzt, wo ich weiß, dass er mich nicht braucht, wird mir allmählich klar, wie nützlich ich eigentlich sein könnte. Wenn ich dieses Opfer auf den Altar lege, das Opfer der persönlichen Verantwortung für die Wirkung meines Schreibens und Redens und all dessen, was ich sonst noch so tue, mein Eigentumsrecht an alledem sozusagen, was bleibt mir dann noch? Du fragst mich, ob ich infolge meiner Possen und Tollheiten eine wunde Stelle empfinde? Schon, aber nicht annähernd so wund, wie ich mich fühle, wenn ich auf einer Kanzel oder Bühne stehe und ganz genau weiß, dass ich immer eine alte Rostlaube sein werde, an deren Steuer lächelnd Gott sitzt. (Hast Du in letzter Zeit mal deine Bremsen prüfen lassen, Jeff?)

Tatsächlich ging es mir erst neulich wieder so. Ich fühlte mich wie ein dreckiger alter Lappen, der seit drei Monaten hinter dem Heizkörper verschollen ist, und ich musste auf eine Kanzel steigen und vor dreihundert Leuten predigen. Die Ironie ist – ich glaube, Du kennst das –, dass es in gewisser Hinsicht leichter ist, wenn man sich wie ein unnützer Trottel vorkommt. Ich lehnte mich zurück und erzählte von Dingen, die ich über Gott gelernt habe. Konnte eigentlich gar nicht schiefgehen. Aber was war mit mir? Wo war ich? Was war ich? Ein Sprachrohr. Ein Briefträger. Ein demütiger Knecht? Ein Sprechknecht!

Weißt Du, Jeff, ich glaube, es gab Momente, in denen auch Jesus nicht weit davon entfernt war, sich so merkwürdig fehl am Platz zu fühlen. Bei ihm war es sogar noch viel schlimmer. Er war ein Mensch, der zugleich Gott war. Wie seltsam muss das gewesen sein! Wie ist er damit klargekommen? In meiner Gedichtsammlung Silences and Nonsenses (Milton Keynes: Authentic Media Limited, 2010) gibt es ein Gedicht, das genau dieser Frage nachspürt. Es heißt „Was ist mit mir?“. Hier ist es:

Ja, er wird auferstehen

Aber was ist mit mir?

Wenn auch der Tod sich krähengleich zu mir herabschwingt, mich zu packen

Und schwarze Schatten auf die Lilien dieses Tales

Und über milchig weißes Mondlicht auf den Meeren wirft

Des Sonnenaufgangs Herrlichkeit

Der Abendsonne Flammen

Pfirsich und Perlmutt am Himmel Galiläas

Die Kühle einer Frauenhand

 

Kinderaugen

Rohes Holz reibt sich an meiner Haut

Ein Licht im Blick von Männern, die durch ein Glaubenswunder sahen

Hörten, gingen, sprachen

Fanden, dass ihre Haut, eben noch schrundig, plötzlich heil und rein ist

Sabbatwanderungen durch ausgedehnte Weizenfelder

Das Plaudern und Gelächter meiner Freunde

Ihre süße Ahnungslosigkeit

Ein Duft von Fischen auf dem Feuer

Der Ruf zum Essen

Alte Geschichten an der Feuerstelle

Guter Wein

Ein Kuss

Liebe und Weisheit im Lächeln meiner Mutter

Die Tränen derer, die mich innig liebten

Weil sanft und wild ich ihre Sünde auf mich nahm

Werde ich auferstehen?

O ja, der Menschensohn muss auferstehn und wieder leben

Aber was ist mit mir?

Was ist mit mir?

Jedes Mal, Jeff. Jedes einzelne Mal. Jedes Mal, wenn ich denke, jetzt schnappe ich über und renne schreiend hinaus ins süße, bergende Dunkel, rettet mich Jesus, indem er mir immer wieder dieselben Worte ins Ohr flüstert.

„Das kenne ich. Da war ich schon. Ich habe sogar den Lendenschurz als Souvenir.“

Er ist so lästig – und so wunderbar.

Gottes Segen,

Adrian

VIER

Hi, Adrian,

ich habe lange über Deinen letzten Brief nachgedacht, in dem Du sagst – mit großer Erleichterung, wie ich empfinde –, das einzige unvollkommene Opfer, das Gott annehme, seist Du, seien wir.

Und das hat mich wiederum an Deinen ersten Brief erinnert, wo Du die herrliche Geschichte von dem kleinen Jungen in Scargill erzähltest, der Kissen unter die Teile des Kreuzes legte, wo Jesus seiner Meinung nach die schlimmsten Schmerzen empfunden haben musste. Diese Szene hat mich in mehr als einer Hinsicht umgehauen. Ich wünschte, ich wäre selbst dabei gewesen.

Doch wenn ich über diesen Moment nachdenke, gefällt mir besonders, dass der kleine Junge ohne irgendwelche Worte seine Anbetung ausdrückte. Stattdessen holte er Kissen für Jesus und platzierte sie behutsam. Das möchte ich auch gern lernen.

Manchmal bete ich nicht an, weil ich mich unter dem Druck fühle, zu reden; irgendetwas Sinnvolles oder Tiefsinniges zu Gott zu sagen. Mein Anbetungsgemurmel kommt mir erbärmlich vor; weniger Gold, Weihrauch und Myrrhe als vielmehr Styropor, 1411 und Old Spice. Mehr Rockröhre als Opernsänger. Ich befürchte gar nicht einmal, dass Gott mein Gemurmel missfallen könnte; nur, dass es ihn vielleicht langweilt.

Deshalb versuche ich zu lernen, einfach bei Jesus zu sein, ohne wirklich etwas zu sagen. Mich einfach von ihm ansehen zu lassen und irgendwie einen Weg zu finden, um mich auf ihn auszurichten. Aber das ist ziemlich schwer, nicht wahr? Meistens kommt es mir so vor, als wären meine geistlichen „Augen“ vom Grauen Star befallen. Ich bin wie Petrus, der auf dem Berg der Verklärung einfach den Mund nicht halten konnte und unbedingt ins größte verfügbare Fettnäpfchen treten musste. Stell Dir die Szene vor – Mose, Elia und Jesus stehen da in einer epischen, leuchtenden Parade, und Petrus verspürt dieses dringende Bedürfnis, irgendetwas zu sagen. Aber was dann aus seinem Mund herausquillt, ist einfach nur lächerlich: Hütten will er bauen für die großen Stars in Gottes überwältigender Geschichte. Er hat einen Platz in der ersten Reihe bei der wahrhaft größten Show auf Erden, und er denkt darüber nach, eine Barackensiedlung zu bauen.

Und so muss Gott ihn zum Schweigen bringen. Eine Stimme aus der Wolke legt Petrus praktisch den Finger auf die Lippen: „Das ist mein geliebter Sohn, auf ihn sollt ihr hören!“ Und schließlich passiert noch ein Wunder: Petrus hört auf zu reden. Ich möchte gern lernen, genau dasselbe zu tun, wenn ich lobpreise oder bete; einfach nur zu sein.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich in den letzten Jahren die Liturgie neu schätzen gelernt habe. Es fing damit an, dass ein Bischof, mit dem ich befreundet bin, mir ein Exemplar des Common Worship schenkte, der anglikanischen Gottesdienstordnung. Ich bedankte mich herzlich, aber innerlich rümpfte ich die Nase bei dem Gedanken, Gebrauch davon zu machen. Anfangs freute ich mich über das Geschenk etwa so, wie sich ein Rabbi über eine Packung Schinkenspeck gefreut hätte. Doch als ich das Buch aufschlug und anfing zu lesen, veränderte sich meine Haltung, auch wenn ich das Ganze ziemlich verwirrend fand.

Die Sache mit dem Kirchenjahr kapierte ich überhaupt nicht. Ich bin ja ein Nonkonformist (eigentlich hasse ich diese Bezeichnung. Hört sich so an, als wäre ich einer von den Leuten, die immer über alles streiten müssen. Allerdings, so gesehen ...). Wir Nicht-Anglikaner wissen ja noch, wann Weihnachten und Ostern ist, vor allem wegen des plötzlichen gehäuften Auftretens von Tannenbäumen und bunten Eiern in den entsprechenden Jahreszeiten, aber unseren Epiphanias und unseren Septuagesimae bringen wir schon gerne mal durcheinander.

Und es gab noch andere Schwierigkeiten, die der Gebrauch eines Gebetbuches mit sich brachte. Ich wusste zum Beispiel nichts mit den Stellen anzufangen, die eine Antwort der Gemeinde vorsahen: „Der Herr sei mit euch.“ „Und mit deinem Geiste.“ Also sprach ich beide Sätze mit jeweils verschiedener Stimme, was sich für Leute, die zufällig vorbeikamen, ziemlich seltsam angehört haben muss. Wenn man zwei Stimmen aus demselben Mund hört, könnte das auf Leute mit einem Hang zum Exorzismus wie ein Alarmsignal wirken, sodass sie versucht sind, sich eine Knoblauchgirlande zu schnappen und irgendetwas aus mir auszutreiben. Trotzdem wuchsen mir die Worte dieses Buches immer mehr ans Herz, weil ich sie nicht erst erschaffen musste. Ich konnte sie mir einfach zu eigen machen.

Kürzlich verbrachte ich vier Tage mit einer anglokatholischen Gruppe. Mir gefiel das Besprengen mit dem Weihwasser und das Schwenken der Weihrauchfässer (auch wenn ich davon husten musste; es ist gar nicht so einfach, ehrfürchtig zu husten). Die Priester in ihren prachtvollen Gewändern, das Flackern der großen Kerzen, der schön geschmückte Altar – all das berührte meine evangelische Seele, und ich genoss das Schauspiel. Aber das Beste von allem war die Liturgie. In manchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass die ganze Versammlung mich durch die Liturgie emporhob und trug.

Lass mich das erklären. Kay und ich sind stolze Großeltern unseres prächtig geratenen Enkels Stanley, der jetzt drei ist. Er und sein kleiner Bruder Alex sind zwei der größten Freudenquellen in unserem Leben. Wenn wir Stanley mit zum Einkaufen nehmen, mag er es am liebsten, zwischen uns zu gehen und uns beide an den Händen zu halten. Er liebt es, sich von uns schwenken zu lassen, statt zu gehen. Quietschend und kichernd lässt er sich von uns die Straße entlangtragen.

Durch die Teilnahme an der Liturgie wurde ich von den Worten, die andere sprachen, emporgehoben und mitgetragen. Manchmal sprach ich selber gar nicht mit, sondern nickte nur, während alle anderen die Worte intonierten. Und hin und wieder murmelte ich nur: „Ja, Jesus, dito. Das, was sie sagen – nimm das auch von mir.“ Mir wird daran deutlich, dass Liturgie eine starke Stütze sein kann, wenn wir durch schwierige oder tragische Zeiten in unserem Leben gehen und uns durch Tage schleppen, die so grauenvoll sind, dass sie uns die Sprache verschlagen. Ich fand das Erlebnis ungemein stärkend, und ich empfand hinterher noch lange Zeit einen ganz neuen Frieden. Streich das: Ich fühle mich bis heute davon gestärkt. Deshalb hat mich das Bild dieses Kindes, das schweigend Kissen unter das Kreuz legte, besonders bewegt.

Das Herrlichste ist natürlich, dass Jesus, als das passierte, es bemerkte und lächelte. Aber ist nicht unser Lobpreis, wie auch immer wir ihn darbringen, etwas winzig Kleines? Und doch wird er angenommen und ist sogar willkommen. Und das schließt auch das unvollkommene Opfer unserer selbst ein.

Ich komme mir oft so vor, wie sich ein anderer kleiner Junge wahrscheinlich fühlte: Du weißt schon, der, der Jesus nur sein Mittagessen anbieten konnte, als es darum ging, fünftausend Leute mit Essen zu versorgen. Aber auch dieser kleine Vorfall ging ja schließlich gut aus, nicht wahr?

Liebe Grüße,

Jeff

FÜNF

Hallo, Jeff,

danke für Deinen letzten Brief. Danke auch dafür, dass Du so ehrlich über das Problem mit Worten und Anbetung gesprochen hast: wie sie zusammenhängen und wie wir dabei authentisch bleiben. Wo wir gerade bei diesem Thema sind: Erinnerst Du Dich, dass wir bei unserer Tour letztes Jahr die Abende meistens damit beendet haben, dass ich ein ausgesprochen albernes Gedicht namens „In einem Paralleluniversum“ vorgelesen habe? Geschrieben habe ich es als Eisbrecher für eine Woche hier in Scargill, bei der es um das ganze Thema der Authentizität im christlichen Leben ging. Falls Du es vergessen hast, hier ist es:

In einem Paralleluniversum

Findet der Sommerschlussverkauf am Ende des Sommers statt

Ist Cliff Richard tatsächlich eine lebendige Puppe

Hat Morgenstund Gold im Mund

Gewinnt ein gutmütiger Engländer das Einzelfinale in Wimbledon

In einem Paralleluniversum

Ist eine kleine, kahlköpfige Frau Erzbischöfin von Canterbury

Dürfen Tankstellen keine Blumen verkaufen

Gießen Edelstahl-Teekannen perfekt tropfenfrei

Gibt es nur eine Sorte Müll, und sie wird wöchentlich abgeholt von netten, ziemlich poetisch veranlagten Leuten

In einem Paralleluniversum

Bezahlen uns die Fluglinien dafür, dass wir mit ihnen fliegen Scheint die Sonne nachts, wenn sie gebraucht wird, nicht tagsüber, wenn es sowieso hell ist

Hat jedes Jahr mindestens ein Abiturient, der sich in Englisch über Wuthering Heights prüfen lässt, Wuthering Heights tatsächlich gelesen

Müssen sich Teenager kein Geld bei ihren Eltern leihen, um ihnen das Geld zurückzuzahlen, das sie ihnen schulden

In einem Paralleluniversum

Geben Wettervorhersagen im Voraus Auskunft über das Wetter

Wird meine Frau sich irren – wenigstens manchmal

Schmeckt Süßstoff tatsächlich wie Zucker

Gehen Kinder nicht von der Schule ab in dem Glauben, Monet wäre die Einzahl von Moneten

In einem Paralleluniversum

Bedeutet der Klang eines Feueralarms, dass es tatsächlich brennt

Können Hühner die Straße überqueren, ohne dass über ihre Motive gerätselt wird

Sehen IKEA-Produkte zu Hause genauso gut aus wie im Laden

Und sind vor allem Fett, Sahne, Schokolade, Kuchen und

Rotwein fünfmal täglich für ein gesundes Leben unerlässlich

Alles Blödsinn, aber die Gemeinde Jesu sollte wirklich einmal ernsthaft über die Frage der Authentizität nachdenken, besonders im Blick auf die Anbetung. Ich habe in mancher Hinsicht ähnliche Erfahrungen gemacht wie Du. Als ich vor über zwei Jahrzehnten aus meiner ach so ausgiebig diskutierten Stresserkrankung herauskletterte, fühlte ich mich nur in solchen Gemeinden wohl, in denen der formelle Rahmen und die festen Abläufe der Liturgie meine unruhig wabernde Seele zusammenhielten, bis der Gottesdienst vorüber war. Sitzen, stehen, antworten, singen, knien, bekennen, wieder aufstehen, wieder niederknien, beten, zuhören, wieder singen, dem Pfarrer an der Tür die Hand schütteln und nach Hause gehen. Das kam mir entgegen. Es mag Dir ironisch vorkommen, aber, aus der behaglichen Geborgenheit eines gemeinschaftlich vereinheitlichten Verhaltens gelang es mir besser, wirklich individuell auf Gott zu reagieren, als wenn ich elend in irgendeiner supergeistlichen Megagemeinde in einem umgebauten Flugzeughangar hätte sitzen und zuschauen müssen, wie verzweifelte Ehemänner und Ehefrauen sich darum balgen, wer von beiden mit dem Baby auf dem Schoß auf seinem Stuhl sitzen bleiben darf und wer nach vorn gehen muss, um sich irgendeinen umwerfenden Segen anministrieren zu lassen.

Ein positiver Nebeneffekt aus diesem Teil meines Lebens war meine wachsende Freude an liturgischen Gebeten. Vielleicht habe ich das in einem meiner früheren Briefe an Dich schon erwähnt, Jeff: Ich finde das „Prayer of Humble Access“ (Gebet des demütigen Zukommens), das in der anglikanischen Liturgie der Kommunion vorausgeht, wirklich schön.

Wir maßen uns nicht an, o barmherziger Herr, im Vertrauen auf unsere eigene Gerechtigkeit an diesen deinen Tisch zu treten, sondern im Vertrauen auf deine vielfältige und große Gnade. Wir sind es nicht wert, auch nur die Krumen unter deinem Tisch aufzusammeln. Doch du bist derselbe Herr, dem es zu eigen ist, immer barmherzig zu sein ...

 

Prunkvolle Prosa. Ich liebe das. Aber eines ist komisch. Heutzutage komme ich am besten mit den beiden Extremen zurecht: entweder mit schön geschriebener, von Herzen kommender Prosa wie dieser oder mit einer wortlosen, gedankenverlorenen Erwartung der undefinierbaren, seltsam alltäglichen Gegenwart Gottes. Zwischen diesen beiden Polen gibt es Formen des Christentums, die mich in Angst und Schrecken versetzen. Die schlimmsten sind zusammengeflickt aus schwammigen Worten, blutleerem Optimismus und einem überwältigenden Verlangen, sich innerhalb von Grenzzäunen zusammenzukauern, die so niedrig sind, dass man über sie stolpern könnte, wenn man es je wagte, ihnen dafür nahe genug zu kommen.

Formell oder informell: So könnte man die beiden Ausdrucksformen etikettieren, die mich ansprechen. Aber auch darin schlummern Gefahren. In letzter Zeit war ich gezwungen, eine Menge darüber nachzudenken.

In dem christlichen Zentrum, in dem ich arbeite, ist in letzter Zeit viel von Marketing die Rede. Wie verkauft man ein Produkt, das im Kern aus dem Wirken des Heiligen Geistes an Menschen in Not besteht (oder bestehen sollte?). Die Frage lässt sich nicht leicht beantworten, wenn man an das ewige Problem der Balance zwischen finanzieller Machbarkeit und geistlicher Authentizität denkt. Aber eine Bemerkung, die dazu gemacht wurde, hat mich besonders getroffen. Jemand schlug vor, um möglichst viele Spenden zu erzielen und unseren Status in der christlichen Szene aufzubauen, solle das äußere Gesicht des Zentrums einen formelleren, selbstbewussteren Ausdruck dessen präsentieren, was wir sind und was wir zu bieten haben:

Wir sind eine ökumenische und zweckbestimmte Kommunität in der Tradition der neuen Klosterbewegung ...

Gleichzeitig sollte durch Kanäle wie z. B. Blogs das „ungezwungene“ Gesicht von Scargill gezeigt werden. Als ich zum ersten Mal davon hörte, zuckte ich mit den Achseln und nickte und gab ein zustimmendes Grunzen von mir, wie man das so macht. Aber später ging mir ein Licht auf. Moment mal, dachte ich, unser ungezwungenes Gesicht ist doch das, was wir in Wirklichkeit sind. Die langen Nächte, in denen wir uns grollend oder verwirrt über das Verhalten anderer in der Kommunität die Haare raufen oder uns mit Schuldgefühlen über unser eigenes Verhalten martern. Die Augenblicke grenzenlosen Staunens, in denen Gott in einen kalten, dunklen Raum eindringt und das Wunder vollbringt, dass im Leben eines Menschen Wärme und Licht entstehen. Die zermürbende, Angst einflößende Verpflichtung, wirklich ehrlich zu sein und einen Bogen um alle Klischees zu machen, während man eine Frau unter Tränen von drei Fehlgeburten, einer Totgeburt und einer anschließenden Leberkrebsdiagnose erzählen hört – eine Frau, die gebetet und gebetet und gebetet hat, bis ihr keine andere Wahl mehr blieb, als entweder den Glauben aufzugeben oder dem Gott zu vertrauen, der sie so enttäuscht hat, was immer er in Zukunft für sie tun oder nicht tun mag. Das Gelächter und die Geselligkeit, die oft und wirkungsvoll genug an diesem Wort widerhallen, um in uns die Zuversicht wach zu halten, dass Freundschaft und Humor in sich schon Gebete und Gebetserhörungen sind. Und auch die Momente, in denen man sich nur weit weg von hier wünscht.

Es ist ein heiliges Durcheinander, Jeff, dieses Gesicht, das wir haben. Eher interessant als schön. Und es erinnert mich an das Wirken Jesu. Er sperrte sich standhaft gegen jede künstliche Formalität, wie sehr sich andere auch bemühten, ihm ein Königtum oder falsche Konsequenz oder den manipulativen Gebrauch seiner Wundermacht aufzudrängen. Sein Herz wurde schwer, er weinte, er wurde vom Kummer nahezu erdrückt, er erlebte Enttäuschungen und war oft geschockt. All das war ebenso real und ebenso sehr Teil seines Lebens wie die Heilungen, die guten Zeiten mit seinen Freunden und die Belobigungen seines Vaters.

Das ist der Ausdruck auf seinem Gesicht, und so werden auch uns die Leute sehen, wenn wir es je so weit bringen, wirklich sein Leben widerzuspiegeln. Jesus hatte ein miserables Marketing, und er veränderte die Welt.

Hast Du Lust auf ein Bier, Jeff?

Liebe Grüße,

Adrian