Extra Krimi Paket Sommer 2021

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Ellwein schauderte und der Grenzschutzoffizier betrachtete ihn herablassend. An die Einsamkeit hatten sie sich gewöhnt, auch an diese merkwürdige Stille, in der alle Geräusche auf Kilometer deutlich zu vernehmen waren. Nicht einmal die Blätter raschelten und das Oderwasser floss lautlos.

Auch so ein Schreibtischstratege, der längst von der Realität abgehoben hatte. Warum Ellwein sich seinem Trupp angeschlossen hatte, wusste der Offizier nicht so genau, das BGS-Gebietskommando hatte einen Besucher vom Bundesnachrichtendienst angekündigt und den dienstlichen Befehl übermittelt, ihm alle technischen Geräte im Einsatz vorzuführen, falls nötig und möglich. An welchem Fall der Mann arbeitete, wollte man dem Grenzschützer nicht verraten; das war ungewöhnlich, aber hier an der deutsch-polnischen Grenze würde noch viel Wasser die Oder hinunterfließen, bis man von normalen Verhältnissen ausgehen konnte.

Hinter der Scheune stand ein Unimog. Die Mannschaft hatte auf der Ladefläche einen Mast hochgeklappt, der an der Spitze eine riesige Halbkugel aus festem Kunststoff trug, die Öffnung zur Oder gerichtet, die knapp einen Kilometer entfernt lag. In der Mitte der Halbkugel war eine kleinere Halbkugel montiert, bestückt mit zwei empfindlichen Mikrofonen. Kabel verbanden sie mit einem anderen Unimog, auf dem sich die batteriegespeisten Verstärker mit den vielen elektronischen Störfiltern befanden. Während der Fahrt hatte der Oberleutnant mit lässigem Stolz erklärt, dass sie mit diesen Fernmikrofonen hören konnten, wenn auf der anderen Seite des Flusses Ruder in das Wasser tauchten, vorausgesetzt natürlich, Wind und Wellen spielten ihnen keinen akustischen Streich.

»Falls doch - was tun Sie dann?«

Ach du meine Güte, ein Anfänger. Es gab Restlichtverstärker. Infrarotnachtsichtgeräte. Transportable Radargeräte. An einigen Stellen, die von den Schleusern bevorzugt wurden, hatten sie auf dem Flussgrund Kabel verlegt, die jede Veränderung des Magnetfeldes, etwa durch ein darüber fahrendes Boot, registrierten. Ja, sie maßen so genau, dass sie inzwischen Vorhersagen konnten, was sich da näherte, ein Holz- oder Metallboot, groß oder klein. Und wenn die Polen mitspielen und ihnen eines Tages erlauben würden, die Kabel auch auf der polnischen Hälfte zu installieren ... Na ja, man durfte ja wohl noch träumen. Mit dem Schleusen wurde viel Geld verdient, wahrscheinlich schon mehr als durch Drogenhandel und -transport.

»Ernie, es geht los!« Der Mann mit den Kopfhörern hatte in normaler Lautstärke gesprochen, trotzdem schrak Ellwein zusammen, als sei eine Bombe explodiert.

»Und wo?«

Auf dem Mast bewegte sich die Halbkugel ganz langsam.

»Planquadrat 11-26.«

»Die alten Buhnen. Auf geht’s!«

Die Männer bewegten sich geschickt und sicher durch die Dunkelheit. Dunkle Uniformen, dunkle Sportschuhe, die Gesichter geschwärzt.

»Kein Geräusch!«, mahnte der Oberleutnant. »Bleiben Sie dicht hinter mir!« Er steckte sich den Knopfhörer ins Ohr und schaltete das Funkgerät ein.

Die nächste Viertelstunde wuchs sich zu einem Albtraum aus. Ellwein hätte nie geglaubt, dass es so finster sein könnte, dass man wortwörtlich seine eigene Hand vor den Augen nicht sah. Und in dieser schwarzen Hölle hasteten die Männer, als trainierten sie Langstreckenlauf. Den Grund für die Eile hatte ihm der Oberleutnant voller Erstaunen über so viel Naivität dargelegt: »Ja, was denken Sie denn? Die beobachten seit heute Mittag unser Ufer. Eine ungewöhnliche Aktivität, ein Mensch, den sie nicht kennen, und das Übersetzen wird um 24 Stunden verschoben. Oder an einen anderen Ort verlegt.«

Natürlich, das hätte Ellwein sich selbst sagen können, aber das tröstete nicht über die Bäume und Sträucher, den unebenen Boden, die Löcher und Rinnen hinweg. Erst aufwärts, das musste der Deich sein, dann abwärts. Nach drei Minuten stachen Ellweins Lungen, er keuchte wie ein Blasebalg und der Oberleutnant drehte sich ungehalten nach ihm um, sagte dann aber doch nichts. Dabei schleppten die anderen Männer noch jeder ein Ausrüstungsstück, Scheinwerfer, Akkus, Handschellen, Fotoapparate, Stricke, Netze. Und natürlich ihre Waffen, mit denen sie die illegalen Einwanderer, die viel Geld für diese Reise in das gelobte Land zusammengekratzt hatten, einschüchtern konnten. Oder gegen die Schlepper benutzten, die sich mehr als einmal den Weg zurück über die sichere Grenze freigeschossen hatten; schließlich wussten diese Leute sehr genau, was auf dem Spiel stand.

Kein Laut, nur das dumpfe Poltern der Sohlen; dann schimmerte ein hellerer Streifen auf, der Fluss, die Männer schwärmten aus, Befehle brauchten sie nicht, das war alles oft geübt. Der Oberleutnant warf sich zu Boden, hielt das Glas mit dem Restlichtverstärker vor die Augen und pfiff kaum hörbar vor sich hin.

»Da, schauen Sie mal!«, triumphierte er.

Auf dem flachen Glas leuchteten grünliche Konturen auf. Tatsächlich, ein Boot, nicht leicht zu erkennen vor dem unruhigen Hintergrund. Ellwein gab das Gerät zurück, sein Begleiter summte entspannt, hielt dann plötzlich etwas vor den Mund: »Trupp zwei auf die Buhne. Links halten, ducken.«

Es war nicht zu glauben, er brummte den Gefangenenchor aus Nabucco, brach plötzlich ab: »Licht!«

Keine zwei Sekunden später flammten zwei Scheinwerfer auf und tauchten die Szene in grelles Licht. Ein Boot hatte an der Buhne angelegt, ein Mann kniete auf den Steinen und hielt den Bug fest, während andere Männer eilig an Land sprangen, jetzt plötzlich innehielten, als sei ein Film gerissen.

»Na prima!«, lobte der Oberleutnant laut. »Das hat ja hingehauen.«

Die Truppe zwei erschien wie aus dem Wasser gestiegen an der Heckseite des Bootes, die Maschinenpistolen im Anschlag. Zehn Sekunden rührte sich niemand.

»Wir haben sie. Platt machen und Abmarsch zum Einsammeln.« Unendlich weit entfernt sprangen Motoren an, es war fast beängstigend, wie weit die Nacht den Schall trug. Plötzlich schnellte unten ein Mann hoch, raste in Zickzacksprüngen auf das Wasser zu, eine Maschinenpistole belferte einen kurzen Stoß, dann verschwand der Mann im Fluss.

»Los! Platt machen!«, brüllte der Offizier in sein Mikrofon und mit diesem Befehl brach die Hölle los.

Von allen Seiten stürmten dunkle Gestalten auf die immer noch Versteinerten zu, zwei oder drei versuchten dann doch zu fliehen, aber sie hatten keine Chance, wurden zu Boden gerissen und gefesselt. Die meisten wehrten sich nicht, wie gelähmt durch diese Explosion von Härte und Rücksichtslosigkeit.

Eine Minute später war alles vorbei.

»Ich hab zweiundzwanzig gezählt«, sagte der Oberleutnant gleichmütig. »Nummer 23 haben wir leider verpasst, aber der wird uns keinen Ärger mehr machen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Zurück schafft er es nicht mehr. Die Oder hat hier eine stärkere Strömung, als es aussieht. Na, da sind ja unsere Erntewagen.«

In dem verlassenen Dorf tranken sie Kaffee aus Thermoskannen und Ellwein ließ sein Zigarettenpäckchen herumwandern. Der Oberleutnant musterte ihn immer noch wie einen schrägen Vogel, trotz seiner Jugend versprühte er viel Zynismus und seine Leute spurten, wenn er lässig einen Befehl hinwarf. Ein Landsertyp, nicht unbedingt Vertrauen erweckend, aber sicher tüchtig, und von seinen Männern verlangte er nur, was er selbst leistete.

Beim ersten Morgengrauen brachen sie auf.

Bevor Ellwein in Berlin losgefahren war, hatte er ein kurzes und unangenehmes Gespräch mit einem furztrockenen Juristen geführt, der beim Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt arbeitete und das Wort Kooperation noch nie gehört hatte, sogar ausfällig wurde, als Ellwein seine Kenntnisse ausbreitete: »Es gibt ein loses Spitzelnetz in Polen, über das der Grenzschutz gelegentlich erfährt, wann und wo eingeschleust werden soll.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Unwichtig.«

»Von wegen. Wer?«

»Vergessen Sie’s, ich hab den Informanten auch schon vergessen.«

»O nein, so geht das nicht, das werden Sie ...«

»Genau so und nicht anders geht das.«

»Sie hören noch von mir! Sie Bond-Verschnitt!«

»Ich wusste gar nicht, dass man seine Eier abliefern muss, sobald man das Kanzleramt betritt.«

Das Netz existierte, sein Informant hatte ihn nicht betrogen und der forsche Oberleutnant hatte nicht nachgefragt, warum man ihn in dieser Nacht gerade an diesen Flussabschnitt kommandiert hatte. Aber das Netz konnte nicht auf Polen beschränkt sein, es musste weit nach Weißrussland und die Ukraine hineinreichen, wenn solche Meldungen bis zu achtundvierzig Stunden vor dem Schleusungsversuch eintrafen. Denn in Polen mussten sich die illegalen Einwanderer verborgen halten, weil sonst ihr Aufenthalt in einem so genannten sicheren Drittland aktenkundig wurde, oder anders: Sie mussten Polen so rasch wie möglich durchqueren, damit sie nicht - zufällig oder gezielt - entdeckt oder aufgehalten wurden. Dass diese Schleuserei trotz des Risikos ein grandioses Geschäft für die Schlepperbanden war, stand fest. Und wenn so eine Organisation erst einmal funktionierte, musste man sich nicht auf hilflose Menschen beschränken. Es gab Waren, Informationen, Gelder, Personen, die unbemerkt nach Deutschland zu schaffen waren - was äußerst generös bezahlt wurde. Oder aus Deutschland heraus.

Aber als Ellwein seine Idee vorgetragen hatte, den Grenzschutz einzuweihen, erstarrten die Gesichter vor ihm. Um Gottes willen! Das Netz aufrollen, dem man so viele Zugriffe auf illegale Einwanderer und falsche Asylbewerber verdankte? Und das zu einer Zeit, in der man jeden Tag im Zusammenhang mit der Zuwanderungsregelung eine neue Asylrechtsdebatte erwarten musste? War er denn von allen guten Geistern verlassen?

 

»Die Spionage ist nicht gestorben, nur weil die Sowjetunion nicht mehr existiert«, hatte Ellwein sie beschworen. »Das Geschäft ist sozusagen privatisiert worden, Patente sind jetzt wichtiger und lukrativer als Panzerzahlen und Raketenpläne und die Agenten schmuggeln nicht nur Menschen oder Zigaretten. Unsere alten KGB-Freunde arbeiten inzwischen auf eigene Rechnung, sie sind nicht weniger gefährlich, nur weil sie nicht mehr vom Obersten Sowjet entlohnt werden.«

Ellwein hatte gegen eine Wand gesprochen und zu den mildesten Beleidigungen gehörte noch die süffisante Frage, ob er für den BND händeringend neue Aufgaben suche, um seine Auflösung zu verhindern. Den schmerzhaftesten Schlag versetzte ihm ein Kollege, der ganz diskret murmelte: »Ich hatte doch läuten hören, dass Sie hinter einem rechten Ding her sind?!«

Dass er in ein Wespennest gestochen hatte, begriff Ellwein erst tags darauf: strikter Befehl, jede Kontaktaufnahme mit dem Grenzschutz war verboten. Wenn sein nächtlicher Ausflug bekannt werden würde, musste er mit einem Disziplinarverfahren rechnen. Aber Ellwein hatte nicht kneifen wollen, es gab Grenzen der Selbstachtung, die man nicht verletzen durfte, wenn man sich noch im Spiegel anschauen wollte, und von Gönter und Weinert hatte er die Schnauze gestrichen voll. Das war doch Kinderkram, herumzusitzen und Däumchen zu drehen, nichts zu tun und auf ein Wunder zu hoffen, während das Objekt sich über sie lustig machte. Okay, es gab Phasen, in denen man sich tot stellen musste, aber doch nur, um die Zeit abzuwarten, zu der man selbst aktiv werden konnte. Weinert würde das nie kapieren, und Gönter traute Ellwein nicht mehr hundertprozentig.

Sein Bekannter bedauerte am Telefon: »Die Sendung ist angekommen, aber dein Paket war nicht dabei.«

»Ein Päckchen ist ins Wasser gefallen.«

»Ja, hab ich auch gehört. Wahrscheinlich ist es jetzt ruiniert.«

Und wenn er nicht ertrunken war, würde der Mann diesen Weg nach Deutschland nicht mehr riskieren. Einmal pro Jahr reiste er ein und brachte Rohdiamanten mit, die ein Mitglied der Organisation unauffällig verkaufte. Der Erlös diente dazu, hiesige Agenten zu bezahlen oder Wissenschaftler zu bestechen, Patente zu erwerben oder Industriespionage zu finanzieren. Manche Regierungen zogen es vor, ihre Bestellungen auf diese Weise zu bezahlen, um keine Spuren bei den Banken zu hinterlassen.

Dem ersten, ungewöhnlich präzisen Tipp hatten sie nicht getraut, aber alle Einzelheiten trafen zu. Bei der letzten Kontrolle im Zug nach Wien musste etwas das Misstrauen des Kuriers so erregt haben, dass er sich nicht mehr auf seinen gefälschten Pass verlassen wollte. Zu der Zeit kannten sie schon seinen Tarnnamen und staunten nicht schlecht, als der Computer ihn bei der Auswertung einer Agentenmeldung identifizierte. Der Mann musste geahnt haben, wer das Boot aufgriff, und hatte lieber sein Leben als eine Festnahme riskiert. Also durften sie auch dieses Kapitel schließen.

Donnerstag, 21. September

Über Nacht war es kalt geworden, Rogge kehrte vor dem Gästehaus um und zog sich einen Pullover an. Die Sonne verbarg sich hinter einem grauen Schleier und auf seinem Marsch zum Beltenstein rüttelten ihn scheußlich kühle Böen durch. Sein letzter Wandertag, und wenn er Simon nicht erklärt hätte, er werde bis Freitag wegbleiben, wäre er heute schon abgefahren.

Von der ehemaligen Burg auf dem Beltenstein existierten nur noch wenige Mauern, der Eichenwald war bis zum Gipfel heraufgewachsen und nur durch eine kleine Schneise glitzerte wie ein heller Strich am Fuß des Berges die Bundesstraße, die hier auf der Trasse einer uralten Handelsstraße aus dem Böhmischen Richtung Rhein verlief.

Auf dem Parkplatz hätte Rogge sich am liebsten die Ohren zugehalten. Aus einem Bus stolperten, stürzten, drängten und purzelten Kinder heraus, die ihrem aufgestauten Bewegungsdrang durch Schreien, Toben und Rangeln erst einmal Luft machen mussten, bevor sie bereit waren, sich um eine energische Frau zu scharen.

Rogge schnitt eine Grimasse, blieb aber unwillkürlich stehen und hörte zu, nachdem sich ein Kreis um die Frau gebildet hatte. An die dreißig Kinder, zwölf, dreizehn Jahre alt, wie er schätzte, die meisten Jungen noch richtige Rüpelbolzen mit zu viel Kraft, einige Mädchen aber schon zurückhaltend, kleine gezierte Damen, die für solche Kindereien überhaupt kein Verständnis mehr besaßen. Ein Klassenausflug, Wandertag. Und die Frau mit den kurzen sandfarbenen Haaren und dem entschlossenen Kinn war die arme Lehrerin. Der Bus entfernte sich.

»So, jetzt schaut ihr alle mal runter ins Tal. Was seht ihr da?«

»Eine Straße.« - »Autos.« - »Luft.« Schrilles Lachen, ach Gott, was war man witzig.

»Richtig. Eine Straße. Und eine Straße, allerdings nicht so breit und glatt und asphaltiert, gab es hier schon vor über fünfhundert Jahren.«

Langsam schob sich Rogge näher heran und buchte ihr in Gedanken einen Pluspunkt gut. Laut anfangen, unmerklich leiser werden, der Lärm verstummte, alle mussten die Klappe halten und die Ohren spitzen, um sie verstehen zu können, den Trick lernten die Polizisten in der psychologischen Schulung beim Kapitel Umgang mit Demonstranten.

Schon damals herrschte auf der Straße viel Verkehr und hier oben auf der Burg saß der Beltensteiner, ein gefürchteter Raubritter, der immer wieder mit seinen Leuten den Berg hinunterstürmte und die Wagen überfiel, ausraubte oder von den Kutschern ein Wegegeld erpresste. Manchmal wehrten sich die Fuhrleute, es gab Tote, der Beltensteiner war nicht zimperlich und hinter den dicken Mauern trotzte er seinen Gegnern. Bis sich die Nürnberger und der Mainzer Erzbischof verständigten und mit einem richtigen Heer anrückten, um die Reichsacht an dem Beltensteiner zu vollstrecken.

Rogge grinste breit, an seine Schulzeit hatte er nicht die besten Erinnerungen, aber Geschichte von dieser Lehrerin gefiel ihm.

Sie warf ihm einen gereizten Blick zu, Rogge verbeugte sich knapp und sie fuhr fort. Fünf Minuten, dann brach sie ab: »So, den Rest erzähle ich euch oben auf der Burg.«

Prompt entwickelte sich ein mittleres Chaos. Dann bemerkte Rogge zwei Jungen, die sich strategisch geschickt in die Büsche abzusetzen versuchten,

»Vergesst es!«, rief er ihnen laut nach, schuldbewusst drehten sie die Köpfe zu ihm und er wies mit der Hand auf den Pfad: »Da geht’s rauf!«

Ihre Flüche las er nur von ihren Lippen ab und die wütenden Blicke ließen ihn kalt. Mit sich zufrieden kletterte Rogge den schmalen, steilen Weg hoch. Bei der nächsten Erklärung der Lehrerin mischte er sich schon unter die Schüler.

»Okay, in einer Viertelstunde geht’s weiter.« Die Bande stob wie ein aufgescheuchter Hühnerschwarm auseinander, Rogge fing wieder einen Blick auf und stellte sich vor: »Jens Rogge. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

»Sibylle Wagner. Nein, Sie stören nicht, und wenn Sie sich nützlich machen wollen, dürfen Sie die Nachhut bilden.«

»Alles klar. Einige Herrschaften gieren nach einer Zigarette, wie ich vermute.«

Sie lachte, was sie ausgesprochen sympathisch wirken ließ: »Schlimmer noch. Ich kann nicht alle Saftflaschen und -behälter kontrollieren.«

Den Rest des Tages war Rogge als Aushilfswächter engagiert, sie stellte ihn den Kindern vor und damit war für seine Unterhaltung gesorgt. Die jungen Damen siezten ihn ausnahmslos, die meisten Jungen duzten ihn und nur in zwei Fällen hatte er das Gefühl, dass darin aggressive Verachtung mitschwang. Von der Burg liefen sie ins Tal hinunter. Rogge musste alle seine Kenntnisse zusammenklauben, um zu erklären, wie Holzkohle gebrannt wurde, und die Lehrerin machte den Kindern klar, welchen Wert in früheren Zeiten Holz besaß, als Baumaterial und für das Heizen im Winter. Rogge räusperte sich und erklärte, dass Fleisch teuer und selten war, dass aus Hunger regelmäßig gejagt wurde, aber nicht jeder einfach schießen durfte. Es gab Wald- und Jagdrechte, außerdem Fischrechte, und weil Wald so wertvoll war, durfte auch nicht jeder Bäume schlagen, wie er wollte. Bei seinem Vortrag zerkaute die Lehrerin ein Lächeln und fragte hinterher halblaut: »Sind Sie Jurist?«

»Nein, Polizist.«

»Hervorragend, dann weiß ich ja, wie ich meine Terroristen notfalls einschüchtern kann.«

In der Kochenbachmühle war für Rogge und die Lehrerin gedeckt und sie unterhielten sich wie alte Bekannte. Zwei Mädchen setzten sich zu ihnen und begannen, ihm ein Loch in den Bauch zu fragen. Nein, er war kein Lehrer. Ja, er hatte auch Kinder. Nein, die gingen nicht mehr zur Schule. Ja, er war schon Großvater. Nein, er machte Urlaub. Ja, er lief gerne. Nein, er kannte Frau Wagner nicht von früher. Ja, er würde gerne noch bei ihnen bleiben.

»Dann is ja gut.« Und weg waren sie.

»Der Ritterschlag«, belehrte Sibylle Wagner Rogge und amüsierte sich.

Der restliche Tag verging wie im Fluge, und am meisten erstaunte und rührte ihn sogar, dass ihm die Kinder freiwillig die Hand gaben, als er sich verabschieden musste.

»Sie waren eine große Hilfe«, dankte die Lehrerin ernsthaft und Rogge verbeugte sich: »Das vernimmt man gerne.«

Gertrud schien ein wenig beleidigt: »Kein Essen heute?«

»Nein, danke, ich musste über Mittag eine Riesenportion Erbsensuppe mit Würstchen essen.«

»Nicht doch eine Kleinigkeit? Die Chefin hat falschen Hasen gebraten, der ist wirklich gut.«

»Also eine winzige Portion Bärenhase und einen gemischten Salat.«

Zufrieden spitzte sie die Lippen und wirbelte davon. Der Bär war mittelprächtig besucht, die schwarze Schönheit stand hinter dem Tresen und zapfte, Olli schien sich einen freien Abend zu gönnen. Zwei aus Bennos Bande hockten rechts auf der Bank und ödeten sich an, den einen zierte ein prächtiger, wenn auch schon schmuddeliger Kopfverband und Rogge musste an die Diskoschlägerei vom Wochenende denken.

Der falsche Hase schmeckte wirklich ausgezeichnet und Gertrud freute sich über das Lob: »Ich richt's der Chefin aus.«

Was sie auch sofort tat, die Schwarzhaarige suchte seinen Blick und verneigte sich ungezwungen. Was Rogge brav erwiderte und sich wieder einmal fragte, was sie über ihr Leben mit Olli denken mochte. Wenn sie lächelte, war sie verführerisch schön.

Olli erschien gegen 23 Uhr und löste seine Frau am Zapfhahn ab. So weit es ihm überhaupt möglich war, eine Stimmung zu zeigen, wirkte er heute selten zufrieden, fast aufgekratzt; er verzichtete sogar darauf, sich mit einer Hand abzustützen.

»Tja, Gertrud, wir müssen uns auch auf Wiedersehen sagen. Ich fahre morgen Vormittag.«

»Die Chefin hat’s schon erzählt.« Gertrud nickte betrübt.

»Ich komm bestimmt noch einmal vorbei.«

»Ja, sicher«, sagte sie zögernd und musterte ihn verlegen, bevor sie sich vorbeugte und hauchte: »Können wir - ich meine, ich würde Sie gern noch - also, haben Sie nachher noch Zeit für mich?«

»Ja, natürlich«, entgegnete Rogge ruhig.

»Fein, ich komm dann zu Ihnen.« Sie huschte davon, und als er ihr nachsah, fing Rogge von Olli einen wütenden, gehässigen Blick auf, der ihm zu denken gab. Es hatte ihm nicht gefallen, dass Gertrud einen Moment so vertraulich mit Rogge gesprochen hatte.

Der Wirt merkte, dass Rogge ihn beobachtet hatte, und schaute ihn ausdruckslos an. Dem Kerl würde ich nicht gern allein im Dunkeln begegnen, schoss Rogge durch den Kopf.

Das Telefon hörte er, als er sein Zimmer aufschloss.

»Rogge.«

»Hei, Chef, hier spricht Kili. Wir erwarten dich dringend auf dem Revier in Herlingen.«

»Wir?«

»Simon ist auch da. Beeil dich!«

Nachdenklich legte Rogge auf. Wenn Simon und Kili nach Herlingen gefahren waren, musste es wichtig sein. Wichtig genug, um sich mit drei Gläsern Bier im Bauch ans Steuer zu setzen.

Rogge parkte direkt vor der Wache und Wibbeke hielt ihm die Tür auf. »Sie werden mir eine sehr lange Geschichte erzählen müssen«, bemerkte Wibbeke trocken.

»Meinen Sie?«

»Nein, das weiß ich. Der Besuch sitzt in meinem Zimmer.«

Im Bereitschaftszimmer füllte eine Streifenwagenbesatzung Formulare aus. Der Schichtleiter löste ein Kreuzworträtsel, ein Radio dudelte kaum vernehmbar. Die meisten Lampen wären ausgeschaltet und der düstere Raum wirkte kalt und abweisend.

Als Rogge die Tür zu Wibbekes Zimmer öffnete, gähnte Kili, dass seine Gelenke knackten, und Simon schreckte aus einem Halbdusel hoch. Der Besuch entpuppte sich als ein spindeldürres Männchen, das vor Unruhe schlotterte. Seine wässrigen Äuglein flitzten hin und her, während er sich nervös die Handflächen an der Hose trockenrieb. Die grauen Haare waren dünn geworden, Rogge schätzte ihn auf zweite Hälfte fünfzig und wunderte sich, dass man ihn wegen dieses Würstchens hierher zitiert hatte.

 

»Hans-Peter Eckard, 57 Jahre alt, verheiratet, wohnhaft Neustadt an der Eltz, Wiesenstraße 122, Lagerist bei der Firma Elektro-Markt in Neustadt«, leierte Kili herunter.

»Guten Abend«, sagte Rogge leise und Eckard zog den Kopf ein.

Simon schlenkerte seinen eingeschlafenen Fuß, und sobald Wibbeke sich zu Eckard gesetzt hatte, verzogen sie sich zu dritt ins Nebenzimmer, Kili schloss die Tür.

Simon verbreitete schlechte Laune: »Wir haben ihn heute Abend geschnappt, auf dem Autobahnparkplatz Feltenwiese.«

Rogge hockte sich auf eine Tischkante und zog seine Zigaretten hervor. Deshalb also!

»Er war dort mit einem anderen Mann verabredet.«

»Der euch entkommen ist«, flachste Rogge, aber das bekam Simon in die falsche Kehle, er schnarrte vor Wut: »Sparen Sie sich Ihre witzigen Bemerkungen. Der andere wartete bereits mit einem Kombi in dem Wald hinter dem Parkplatz, und weil es noch hell genug war, haben wir sein Kennzeichen entziffern können.«

»Und über Funk abgefragt«, warf Kili schnell ein; die Spannung zwischen den beiden Männern, die sich sonst so gut verstanden, irritierte ihn. »Der Kfz-Halter heißt Anton Lohse, Stockau, Hauptstraße 29.«

»Olli!« Verblüfft schüttelte Rogge den Kopf, was Simon zu besänftigen schien, jedenfalls fuhr er in halbwegs normalem Ton fort: »Und weil mir Ihre Vorzimmermedusa mitzuteilen geruhte, dass Sie sich in einer Gastwirtschaft Zum Bären, Stockau, Hauptstraße 29, einquartiert haben, habe ich angeordnet, den Mann laufen zu lassen. Um Ihnen Schwierigkeiten zu ersparen.«

»Danke«, murmelte Rogge.

»Dieser Eckard kam mit seinem Lieferwagen auf den Parkplatz gefahren, ist in den Wald eingebogen und dann haben die beiden Männer umgeladen.«

»Hinter dem großen Ilexstrauch«, riet Rogge und Simon räusperte sich: »Sie wissen wieder mal mehr?«

Er wehrte ab: »Ich habe nur Ihre Anweisungen befolgt, Herr Rat.«

»Ja, sicher. Botanisiert, wie? Kartons mit Elektrogeräten.«

Ein Lagerist bei einem Elektromarkt, ja, da blieb nicht viel zu rätseln.

»Der Lohse ist dann mit seinem Kombi aus dem Wald herausgefahren, über eine Wiese hinunter ins Tal.«

»Sie heißt Feltenwiese und hat dem Parkplatz den Namen gegeben«, erläuterte Rogge.

Kili atmete durch: »Diesen Eckard haben die Kollegen dann auf dem Parkplatz hops genommen.«

»Für das Umladen gibt es Zeugen?«

»Vier Beamte, ihre Aussagen sind bereits protokolliert. Und genügend Fotos, die Filme sind schon im Labor.«

»Fein. Ich würde Eckard gerne etwas unter Druck setzen.«

»Von mir aus!« Simon starrte einen Moment zur Decke. »Ich verdufte.«

»Ein fester Wohnsitz - kann ich ihn laufen lassen?«

»Natürlich. Sonst liegt nichts gegen ihn vor, sagt der Computer.«

»Und wegen der Hehlerware ...«

»Soll Wibbeke erledigen. Das ist sein Revier. Gute Nacht.«

»Der hat es aber eilig!«, knurrte Kili, vorsichtshalber so leise, dass Simon nichts hörte.

Rogge grübelte. Für Simons hastigen Abgang gab es nur eine vernünftige Erklärung: Die ganze Geschichte sollte so lange wie möglich inoffiziell, auf dem kleinen Dienstweg, behandelt werden. Wogegen Rogge nichts einzuwenden hatte.

Eckard schwitzte vor Angst, er konnte einem Leid tun, aber Rogge musste die Gelegenheit nutzen: »Tja, da haben Sie sich ja ganz schön in die Scheiße geritten, Herr Eckard.«

»Was soll das heißen, wieso hab ich mich in etwas ...«Er war immer langsamer geworden, weil Rogge energisch den Kopf schüttelte: »Bitte kein Theater jetzt! Wir haben Zeugen, dass Sie Diebesgut in Ollis Wagen umgeladen haben, wir sind gerade dabei, Olli auffliegen zu lassen, an Ihrer Stelle würde ich ganz schnell und ganz brav auspacken.«

Wibbeke stand auf: »Ich besorg mal Kaffee, was meinen Sie?«

»Eine sehr gute Idee!«, pflichtete Kili bei. »Ich helfe Ihnen.«

Rogge schwieg eine Minute, in der sich Eckards Gesicht grau verfärbte. »Nun machen Sie schon! Wir werden Ihren Arbeitgeber verständigen müssen, das ist Ihnen doch klar.«

Daran hatte Eckard noch gar nicht gedacht, erst jetzt wurde ihm das ganze Elend in seinem vollen Ausmaß bewusst und nun sprudelte es nur so aus ihm heraus. Den Olli habe er auf dem Rennplatz kennen gelernt, na ja, wie man so ins Gespräch kommt, wenn die Pferdchen immer anders einliefen, als man getippt hatte. Geld konnten sie beide gebrauchen, beim Bier hatte Eckard Olli erzählt, wo er arbeitete und wie lässig diese Reklamationsfälle gehandhabt würden. Olli hatte beiläufig bemerkt, dass er viele Bekannte und Gäste habe, die sich gerne mal einen neuen CD-Spieler leisten würden, aber mit den Mäusen seien sie halt auch klamm. Vielleicht könne man sich ja gegenseitig helfen.

»Und wann war das?«

Vor drei Jahren. Bis jetzt sei ja auch alles glatt gelaufen. Wenn Eckard etwas beiseite geschafft hatte, rief er Olli an und sie trafen sich in dem Wald hinter dem Parkplatz. Ware gegen Geld, Eckard fuhr auf die Autobahn und über die B 111 gleich nach Hause zurück. Manchmal packte ein großer Mann mit an, dem man den Mund zugenäht hatte, aber Olli hatte nur gebrummt, der wüsste Bescheid und wäre in Ordnung.

»Wie oft haben Sie sich getroffen?« Rogge fragte gleichmütig und Eckard räusperte sich ausgiebig.

»Ein-, zweimal im Monat«, krächzte er.

Wibbeke und Kili hatten tatsächlich Kaffee aufgetrieben und Rogge lobte: »Herr Eckard ist sehr kooperativ.«

»Wie uns das freut«, knurrte Wibbeke. Einer musste ja den Part des hässlichen Bullen übernehmen und Wibbekes Uniform beeindruckte den Kleinen.

Nach der Pause beugte Rogge sich vor: »Also immer auf der Feltenwiese?«

»Ja.«

»Und das ist immer glatt gegangen?«

»Nei-ein.« Eckard schluckte verzweifelt.

»Nein? Warum denn nicht?«

»Manchmal war da zu viel Betrieb.«

»Abends? Auf dem Parkplatz? - Das glauben Sie doch selber nicht!«

Doch, bestimmt. Nicht direkt auf dem Parkplatz, auch nicht im Wald, aber auf der Wiese dahinter. Mein Gott, was da herumgevögelt wurde - da trieb sich so eine Dorfschönheit herum, eine richtige kleine Hure, die hatte Freier von wer weiß woher, manchmal hatte Eckard eine Stunde oder länger warten müssen, bis sie ihre Kunden abgefertigt hatte und die Luft rein war» Einige Male hatte sie so lange auf dem Parkplatz gesessen, weil sich wohl ein Freier verspätet hatte, dass Eckard weitergefahren war und Olli über Handy abgesagt hatte; Olli schimpfte auch immer über diese läufige Hündin, die ihn wohl kannte. Olli traute sich deshalb erst über die Wiese zu fahren, wenn er sich vergewissert hatte, dass auf der Wiese kein Wagen mehr parkte und die kleine Hure ins Dorf zurückgegangen war. Aber das war zum Glück nicht oft passiert.

Rogge erhaschte Wibbekes Blick und winkte unauffällig ab.

»Na schön, Herr Eckard, dann beschäftigen wir uns mal mit einem bestimmten Monat. Mit dem September im vorigen Jahr.«

Wibbeke schaltete sofort, Kili brauchte einige Sekunden, bis er glänzende Augen bekam, also hatte er die Akten auf Rogges Schreibtisch gelesen.

»Was soll da gewesen sein? Im September?«

»Am 15. September ist auf dem Parkplatz Feltenwiese eine Frau gefunden worden ...«

Er brach ab, weil Eckard eine heftige Bewegung machte: »Die ihr Gedächtnis verloren hat?«

»Ja, woher wissen Sie das?«

»Aus der Zeitung. Und später ist sie im Fernsehen gewesen.«