Soraja

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Auch im nächsten Schulhaus fand ich kein Foto der Fee. Anschließend durchsuchte ich volle sieben Schulhäuser, aber das schöne Gesicht war auf keiner der Fototafeln dabei. Ich konnte meine Enttäuschung nicht mehr unterdrücken. Ich war müde vom Radfahren und gleichzeitig froh, mich genügend bewegt zu haben. Meine innere Stimme redete mir zu, sie habe zwar ein sehr schönes Gesicht, aber kurz vor der geplanten Reise sei es überhaupt nicht klug, sich noch auf eine neue Geschichte einzulassen.


Zu Hause kochte ich mir einen Pilaw und wärmte mir die Reste der weißen Bohnen auf. Während des Essens hörte ich wie jeden Abend die Nachrichten im Radio. Es berichtete als erstes vom befürchteten Bürgerkrieg in einem Land weit weg von hier und dann vom Plan einer Gruppe, die für viele Milliarden Franken eine Autobahn durch den großen Berg bauen wollte. Beide Nachrichten hatte ich auch am Tag zuvor gehört, ich stellte das Radio ab.

Als ich danach mit dem Sortieren meiner Bücher, die ich nach Ankara mitnehmen wollte, fortfuhr, waren die Gedanken an die Namenlose, die Fate eine Fee genannt hatte, schon ziemlich verblasst. Sie war wie ein Traum der vergangenen Nacht. In Gedanken versunken, wer mir welches Buch geschenkt hatte – ich hatte vor, nur die mir geschenkten Bücher mitzunehmen –, meinte ich zu hören, dass mein Handy im vorderen Fach meines Rucksacks vibrierte. Ich hastete hin und ertappte mich dabei, dass ich doch auf ein Zeichen der Fee gewartet hatte.

Es war Soraja. Sie foppte mich wie immer. «So Einsamer Was mchst zu dsr Std Was wühlst du in dnm dicken Schdl auf?»

Ich wusste, dass sie mir diese abgekürzten Zeilen ohne Punkt und Komma hastig auf der Toilette geschrieben hatte, in Anwesenheit ihres Mannes hätte sie nicht solch persönliche Dinge an einen anderen Mann schreiben können. Ich schrieb ihr zurück, dass ich nur in meiner Vergangenheit wühlte und die mir von der besten Frau der Welt geschenkten Bücher in den Koffer einpackte. Sie schrieb nicht mehr zurück, ein Zeichen, dass sie nicht mehr auf der Toilette war.

Soraja hatte mir zu jedem Geburtstag ein Buch geschenkt, ich zählte zwölf Stück, die in einer Reihe standen, ich hatte in jedem Buch auf die erste Seite gekritzelt: «Von ihr». Und das Datum. Ich schaute in all diese Bücher, spazierte durch meine Erinnerungen mit Soraja. Wann hatte ich sie das erste Mal gesehen? Sie stand neben ihrem Vater, der Spenden sammelte im Namen eines religiösen Hilfswerkes für die Erdbebenopfer in Istanbul. Das Datum wusste ich noch, es war der 20. August 1999: Drei Tage vorher hatte dieses apokalyptische Drama, das gegen hunderttausend Menschen das Leben kostete, sogar mich, den Soraja später als gottlos bezeichnen würde, erweicht gegenüber den Religiösen, die für mich bis anhin ein rotes Tuch waren. Ich war zu diesem Stand am Bahnhof gegangen, hatte mich vorgestellt und meine Absicht kundgetan, helfen zu wollen. Als der Vater von Soraja erklärt hatte, dass er plane, persönlich hinzureisen und das von ihm gesammelte Geld und die Waren eigenhändig einigen Bedürftigen auszuteilen, hatte ich ihm eine Spende versprochen. Und der kluge Mann erkannte meine Skepsis, sagte, dass er jede Geldübergabe fotografieren lasse, er werde schauen, dass meine Spende an eine kinderreiche Familie gelange. Als ich ihm Geld gegeben hatte, rezitierte er einen Vers, ebenso, als er mir eine Empfangsbestätigung aushändigte.

Tatsächlich hatte Soraja eine Woche später angerufen und mir im Café da Mila einige Fotos gezeigt, wie ihr Vater mit weißem Bart vor einer Hausruine Männern, die von vielen Kindern umgeben waren, mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen Geld übergab. Dort, eben in diesem Café, hatte ich zum ersten Mal das süße Parfüm einer Frau mit Kopftuch eingeatmet und erstmals auch die Gelegenheit gehabt, an einem kleinen, runden Tisch nah bei ihr zu sitzen und ein paar persönliche Worte mit ihr zu tauschen. Als sie von den Erdbebenopfern sprach, von der Trauer dort, fand ich in ihren Worten, ihren Empfindungen, ihrer Empathie auch meine eigene. Diese Frau in dem langen, grauen Mantel, der bis zu den Knöcheln reichte, begann mich zu interessieren. Als sie den Mantel auszog, überraschte mich der enge Pullover an ihrem schlanken Körper. Als hätte ich geglaubt, dass eine Frau im langen Mantel und mit einem Tuch auf dem Kopf überhaupt keinen Körper habe.

Mehr als ein Jahr lang sah ich Soraja mindestens zweimal im Monat, immer am späteren Vormittag, wenn sie sicher war, dass ihr Vater bei der Arbeit war. Erst nach dem dritten Treffen hatte sie mir die Hand gegeben, endlich ein Zeichen von Nähe. Ihre Hand war warm. Die Abende und die Wochenenden, Zeiten, in denen ihr Vater nicht bei der Arbeit war, waren tabu für ein Treffen. Und wenn ich sie sonst zufällig in irgendeiner Begleitung auf der Straße sah, begrüßte sie mich nur mit einem Kopfnicken.

Ich betrachtete die ersten Bücher, die sie mir geschenkt hatte. Sie waren verstaubt, das Papier vergilbt. Es waren religiöse Schriften, die religiöse Moral predigten, die Haditen des Propheten interpretierten oder in die Entstehung der islamischen Religion einführten. Ich hatte sie nicht gelesen, obwohl sie von Soraja, meiner großen Liebe, die ich nicht berühren durfte, kamen. Darunter war ein Buch, wie man Beten lernt, und ein anderes Buch berichtete vom Leben des Propheten Mohammed.

Ich lachte auf meinem Sofa laut auf, als ich die letzten in die Hand nahm, es waren ausschließlich Liebesromane, Bestseller, die irgendwo auf der Welt spielten. Auch «Romeo und Julia» war darunter. Die Ironie wollte es, dass sie mir diese Liebesromane nach ihrer berühmten Hochzeit mit Murad geschenkt hatte, zu der rund tausend Menschen eingeladen waren. Nur ich nicht. Soraja hatte jeweils eine Karte dazu geschrieben, worin sie erklärte, warum sie mich mit diesem Buch beehrte. Interessant daran war, was diese Bücher gemeinsam hatten: In all diesen Liebesromanen fanden sich die Verliebten erst nach schmerzvollen Jahren wieder, entweder im Jenseits oder in der realen Welt. Die Liebe hatte also nach vielen Leiden gesiegt.

Eine Sensation war es auf diesem, meinem einzigen Sofa gewesen, als Soraja mir zum ersten Mal ihre Haare gezeigt hatte. Ihre Eltern weilten damals im Heimatdorf in der Türkei, wenn ich mich heute richtig erinnere, wegen der Beisetzung eines nahen Verwandten. Die damals zwanzigjährige Soraja hatte sie zum Flughafen gefahren und mich schon auf dem Rückweg im Auto angerufen, sie sei zehn Tage ohne die Eltern, der Bruder werde sicher ihre Abwesenheit ausnützen und viel Zeit mit seiner Freundin, von der die Eltern nichts wussten, verbringen. Da biete sich erstmal die Gelegenheit, dass ich ihr meine Kochkunst, von der ich stolz erzählt habe, vorführen könne.

Den ganzen Nachmittag hatte ich in der Küche gestanden. Soraja hatte ihrem Bruder gesagt, dass sie mit der Freundin Claudia unterwegs sei. Claudia war natürlich in die Lüge eingeweiht worden. Ich war damals in einer Beziehung, die ich schon vom Beginn an als vorübergehend betrachtete, hatte meiner Geliebten mitgeteilt, dass ich bei Landsleuten eingeladen sei. Ich führte Soraja meine besten Speisen vor und bestand die Prüfung mit Bestnote.

Zwar schätzte sie es sehr, sie war gerührt, überhaupt von einem Mann bekocht zu werden, aber sie hatte an diesem Abend nur zwei Fragen im Kopf, die sie während des Essens mehrmals stellte: warum ich noch ledig sei im Alter von fast fünfunddreißig Jahren, und warum ich nicht gläubig sei. Ob diese beiden Ungewöhnlichkeiten miteinander zu tun hätten? Meine Antwort, dass ich noch nicht die richtige Frau getroffen hätte, überzeugte sie wenig, genauso wie meine Vorwände, ich sei zu beschäftigt, um fünfmal pro Tag zu beten.

Nach dem reichlichen Essen saßen wir auf meinem alten Sofa, das ich mit einem farbigen Tuch bedeckt hatte. Das seidene Tuch mit den bestickten Ecken war ein Andenken, das mir von meiner verstorbenen Mutter geblieben war. Soraja war nervös wie eine aufgescheuchte Taube. Wir saßen einen langen Moment da, ohne etwas zu sagen. Zwischen uns lag irgendeine Mappe, in der ich meine Monatsrechnungen aufbewahrte. Ich betrachtete Sorajas unterdessen rot angelaufenen, runden Backen. Sie spielte mit ihren braun lackierten Fingernägeln.

Plötzlich berührte meine Hand ihr Gesicht, das mir bis anhin so weit, so unerreichbar wie die Sterne vorgekommen war, und meine Finger glitten hinauf zu ihren Haaren, unter das Tuch, worauf sie das farbige Tuch, das unter ihrem Kinn gebunden war, lockerte. Nach der ersten Liebkosung ihrer Haare nahm sie das Tuch gänzlich ab und befreite die Haare von der Spange. Das kastanienbraune Haar breitete sich im Nu über ihre Schultern wie die Federn eines Pfaus. Sie fragte mich, ob mir ihre Haare gefielen, ich sagte: «Oh ja, sehr.»

Sie brach aber in Tränen aus, ich wusste nicht warum, mir war es peinlich.

Erst Monate später sagte sie mir, dass sie geweint hatte erstens, weil sie gesündigt und ihre Haare einem fremden Mann gezeigt hatte, zweitens aus Angst, dass sie und ich nicht zusammenfinden würden, weil zwischen uns zu viele Barrieren stünden. An diesem Tag gab sie mir nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange und betete danach, bat flüsternd ihren Gott um Vergebung, dass sie einen Mann berührt habe. Ich hielt ihre Hand, und mit leichtem Spott in der Stimme sagte ich, dass sie nichts Verbotenes gemacht habe. Sie müsse wissen, dass die Liebe schon vor der Erschaffung der Götter entstanden sei. Ich dürfe nicht sündigen, warnte sie mich ernsthaft, und ich wechselte das Thema, indem ich auf ihr kürzlich begonnenes Studium der Pharmazie zu sprechen kam. Da erzählte sie mir über ihre Lebensziele, sie war gesprächiger, offener, unverkrampfter. Sie wusste, dass sie, weil sie ein Studium machte, der Stolz ihrer Familie war, die selbst als Textilarbeiter in die Schweiz gekommen waren, und deshalb Freiheiten genoss, von denen auch wir profitierten, indem wir uns heimlich treffen konnten. Sie hatte zu Hause jeweils glaubhaft erzählt, dass sie bei einer Freundin lerne. Für ihre Lügen betete sie zusätzlich.

 

Zwei Tage später kam sie wieder zu mir, diesmal hatte ich nicht gekocht, nicht, weil ich keine Lust hatte, sondern weil mir vor Aufregung die Hände zitterten, wenn ich das Rüstmesser in die Hand nahm, und sie war damit einverstanden, dass wir für uns beide eine Pizza bestellten. Als hätten wir dies schon vorher abgemacht, kam sie herein, zog ihren grauen Mantel aus, den ich als Zelt, in dem ihr Körper versteckt war, bezeichnete, auch das Kopftuch faltete sie zusammen und legte beide Kleiderstücke auf die Ecke des Sofas, sie blieb stehen, schaute mich an und fragte, ob ich wisse, wann eine Frau dieses Tuch ablegen dürfe. Ich war von ihrem schlanken Körper, den ich zum zweiten Mal in einem engen Pullover sah, fasziniert und schaute sie an, wie wenn ich etwas ganz Fremdes, Unvorhergesehenes betrachtete.

Ich wusste keine Antwort, ich kam nicht aus einer religiösen Familie. Die einzige Frau, mit der ich aufgewachsen war, war meine zu mir äußerst strenge Stiefmutter, die nicht fromm war. Zudem hatte die Religiosität mich damals nicht interessiert, ich hatte als junger Mann nur die Schauspielerei im Kopf.

Als von mir keine Antwort kam, klärte Soraja mich auf: «Nur in der Familie. Nur in Anwesenheit des Vaters und des Bruders darf eine Frau das Tuch abnehmen.» Peinlich war es mir nicht, dass ich diese wichtigen Kenntnisse meiner Religion, oder sagen wir, meiner ursprünglichen Religion nicht hatte.

«Und was bin ich, in dessen Anwesenheit du dein Haupt entblößen darfst?», fragte ich sie lachend, während ich unser übliches Getränk, Tee, in den schmalen, tulpenförmigen Gläsern servierte.

Sie schaute mich an und murmelte vor sich hin, dass sie ihre Gedanken noch nicht ordnen könne und nicht wisse, was ich sei. Sie wisse mit aller Deutlichkeit, dass sie mit ihrem heimlichen Besuch bei mir sündige. Sie sei aber sonst ihrem Glauben gegenüber sehr loyal und zu ihrem Gott und zu den Menschen aufrichtig, sodass er ihr diesen einzigen Fehler, den sie leider nicht verhindern könne, da ihr Herz über ihren Kopf siege, verzeihen werde. «Du bist für mich nur du», sagte sie und widmete sich ihrem Tee, den sie lange klirrend rührte und dann in drei Zügen austrank.

Ich erzählte ihr von Filmen, von lustigen, von vielen Liebesgeschichten in diesen Filmen, mit dem Ziel, vom Thema Gott und Glauben wegzukommen. An diesem Tag küssten wir uns lange, ihre Lippen waren wie die Sonne, sie gaben Wärme und Zuneigung. «Du bist der erste Mann, den ich küsse», sagte sie nach jedem Kuss und fügte schallend lachend hinzu: «Abgesehen von meinem Bruder, mit dem ich als Kleinkind schmuste, und meinem Vater, der mich immer wieder auf die Wangen küsst, wenn ich bei einer Prüfung gut abgeschnitten habe.» Und ich glaubte ihr, dass ich der erste Mann in ihrem Leben war. Sie reagierte bei jeder Berührung ihrer warmen und weichen Haut mit dem Satz, in meinen Armen sei sie glücklich wie ein Mekkabesucher. Das brachte mich durcheinander. Wusste sie keinen anderen Vergleich?

Sie zog mich aus, bis auf die Jeans, erlaubte aber nicht, dass ich meinen Gürtel lockerte. Es überraschte mich sehr, dass Soraja mit dem Ausziehen ihrer Kleidung großzügig war, sie zog sich aus bis auf die weite Leinenhose. Das sei Gleichberechtigung. Als ich weitergehen wollte, sagte sie im Scherz, auf ihre Schenkel zeigend, dass da unten ihr ganzer Schatz und ihre Zukunft versteckt seien. Es dürfe nicht passieren, dass ein Mann, von dem sie noch nicht wisse, ob er ihr Ehemann werde, mit diesem Schatz in Berührung komme. Wir küssten uns leidenschaftlich, ich hatte meinen Arm um ihren schlanken jungen Körper gewunden wie eine Schlange um einen Ast. Als sie zum Orgasmus kam, flüsterte sie: «Mein Gott, was für ein schönes Gefühl ist das!»

Beim Anziehen sagte sie, sie fühle sich wie ein Raubtier, das zu einer selten guten Beute gekommen sei. Sie wusch sich, duschte, dann fragte sie mich, in welcher Richtung das Qibla, also Mekka sei, sie wolle beten und ihren Gott um Vergebung bitten. Ich fand, sie übertreibe es sehr mit ihrer Religion, sagte ihr aber nichts davon ins Gesicht, weil ich in sie verliebt war, das erste Mal so richtig in meinem Leben, wie ich glaubte.

Während zweier Jahre konnten wir uns heimlich treffen und schmusen, ohne miteinander zu schlafen. Danach ging sie immer duschen und betete zwei Rakat, um Gott um Vergebung zu bitten, weil sie ohne den Nikah mit einem Mann im Bett lag. Unser ersehntes Treffen war immer davon abhängig, dass der Vater bei der Arbeit war und die Mutter nichts merkte. Die Angst, es würde ans Licht kommen, dass wir uns liebten, begleitete uns beide wie ein dunkler Schatten. Einverstanden war ich überhaupt nicht damit, ich war aber ein Sklave meiner Gefühle geworden. Seit ich Soraja kennengelernt hatte, hatte ich keine Augen mehr für irgendeine andere Frau.

Ich holte mein Fotoalbum aus der Schublade meiner Kommode, betrachtete das einzige gemeinsame Foto von uns beiden, sie stand mindestens zwanzig Zentimeter von mir entfernt, als würde sie auch auf dem Foto Distanz markieren.

Mehrmals war ich nah daran, mich von Soraja zu trennen, konnte mich aber nicht überwinden.

Eines Tages – wir hatten uns in den Hosen geliebt wie immer, und nach der Liebe hatte sie sich gewaschen und gebetet wie immer – hatte sie mich überrascht mit dem Vorschlag, ob man nicht den Nikah machen könne, heimlich, in einem anderen Land, unter einem anderen Namen. Sie wolle keine Sünde mehr begehen, indem sie mich heimlich treffe und wir als unverheiratete Menschen einander berührten. Sie habe von Raubtieren geträumt, sie denke, dass dies die Strafe Gottes sei, weil sie mich berührt habe.

Ich rastete aus, schrie sie an, dass ich diese Doppelmoral nicht mehr aushalten könne. Wenn sie mich heiraten wolle, sei ich dazu bereit, trotz der bestehenden Hürden. Aber diese Heimlichtuerei wolle ich nicht mehr mitmachen.

Auch sie sei bereit, mich zu heiraten, schrie sie im selben Ton zurück, die Barrieren würden dies jedoch bestimmt verhindern, denn ihre Familie würde auf keinen Fall einwilligen, dass sie einen fünfzehn Jahre älteren Mann heirate, der dazu nicht gläubig sei und nicht aus einer intakten muslimischen Familie stamme. Wenn der Vater höre, dass ich eine Halbwaise sei und die Mutter noch dazu eine Nachkommin von kenianischen Sklaven, von Schwarzen, werde er Berge versetzen, um diese Heirat zu verhindern. Ich könne mich entscheiden, sie werde meinen Entscheid akzeptieren.

Damit hatte sie ihren starken Willen demonstriert.

Sie ging danach nach Hause, und es wühlte bis zum Morgengrauen in mir, wie ich aus dieser misslichen Situation herauskommen könne. Sie war am längeren Hebel, musste ich mir eingestehen. Ich war verliebt, ich wollte sie nicht verlieren. Ich schrieb ihr am frühen Morgen im Zug eine sms, dass ich einen Einsatz in Bern hätte, danach würde ich mich in dieser Stadt umsehen, ob ein muslimischer Gelehrter zu finden sei.

Schon zwei Tage später reisten wir nach Bern, im selben Waggon, aber nicht im selben Abteil. Sie hatte ihren Eltern gesagt, dass sie für ein Uniprojekt dort in Bern ein Labor besuchen müsse. Gemeinsam hatten wir die Moschee der Mazedonier gefunden, die in einem ehemaligen Billardsalon untergebracht war, und den Vorbeter, der ohne die Anwesenheit unserer Eltern kein Nikah schließen wollte, mit Lügen und Geld bearbeitet. Sie heiße Müjde, der Imam wusste sogar, dass die türkische Müjde in berühmten erotischen Filmen spiele. Über ihren von mir spontan erfundenen Namen hatten wir später viel gelacht, sie sei Studentin hier in der Schweiz, die Eltern könnten nicht aus der Türkei einreisen ohne Visum. Und ich hätte sowieso keine Eltern mehr. Soraja zitierte tatsächlich die entsprechende Sure für einen Nikah, die begründete, dass er ohne die Anwesenheit unserer Eltern eine religiöse Ehe schließen dürfe. Darauf rief der Vorbeter zwei Zeugen, wahrscheinlich seine Verwandten, die nichts sagten, aber nur kicherten, rezitierte lediglich einen Vers und sprach unsere Namen aus, die nicht unsere richtigen waren. Pflichtbewusst holte er von mir das Versprechen, als Ehemann bei einer Scheidung, Gott solle uns vor so was behüten, ihr fünf Goldtaler zu geben, wie unsere wertvolle Religion es vorschreibe, eine Art Brautgeld. Er fragte nur, ob wir einander wollten, wir sagten ja. Danach versuchte der Imam uns zu erklären, was eine Ehe sei und hielt einen langen Vortrag, den er mit dem Satz, man dürfe von Gottes Weg nicht abkommen, abschloss.

Müjde, die Überraschung, dieser Name einer früheren türkischen Schauspielerin, die eine Schönheitskönigin war und auf der Leinwand halb nackt und sehr freizügig küsste und liebte, gefiel ihr. Soraja wusste, dass sogar ihre Mutter Fan der Schauspielerin Müjde war.

Soraja war sehr aufrichtig, korrekt und offen, und ich liebte sie, aber nach diesem Nikah hielt ich die Widersprüchlichkeit der ganzen Sache einfach nicht mehr aus. Wir trafen uns weiterhin heimlich, wir waren nun vor Gott ein Paar, sprachen über alles, nur nicht über unsere Zukunft, von der wir beide keine Ahnung hatten, wie sie aussehen sollte. Wenn wir uns küssten und streichelten, war das nun keine Sünde mehr, nach der Liebe ging sie nur noch duschen, aber nicht beten. Ein paar Wochen später wollte ich wissen, wie es mit dieser Beziehung weitergehen solle. Es gebe drei Hindernisse für eine Ehe, sagte Soraja, sie könne ohne das Einverständnis ihrer frommen Eltern nicht heiraten.

Mit ihr konnte ich mir zum ersten Mal eine Heirat vorstellen, deshalb war ich bereit einzuwilligen, aber die Barrieren waren zu hoch. Sie traute sich nicht einmal, ihren Eltern von der Freundschaft mit mir zu erzählen, sie wusste genau, dass sie von diesem Moment an mit einer rigorosen Kontrolle zu rechnen hätte. Da hatte sie auch recht. Ich war viel älter als sie, ich war dunkler und dazu nicht gläubig. Alles konnte ich nicht ändern, bei den Eltern hätte ich zwar den gläubigen Mann spielen können, aber die zwei anderen Defizite würden auf der Waage schwerer wiegen, das wusste ich.

Soraja lebte in zwei Welten: In meiner, in der ich mit ihr gleichberechtigt war, ich kochte sogar für sie, was sie schätzte, und zu Hause, wo sie die traditionelle Frau spielte. Sie behauptete, dass sie stolz darauf sei, zwei unterschiedliche Welten in sich zu vereinen.

Ich aber suchte nun die ganze Zeit einen Grund, sie zu provozieren. Er ergab sich eines Tages von selbst. Ich erhielt die Einladung eines früheren Freundes, der in Schottland für drei Jahre einen Lehrstuhl hatte, sechs Monate mit ihm die Wohnung zu teilen. Dabei hätte ich die Gelegenheit, einen Master in Englisch zu machen. Ich teilte ihr meinen Plan per sms mit, um die Abendzeit. Am nächsten Tag musste ich im Café da Mila nur dreimal für sie hörbar sagen, dass ich als ihr Mann mich von ihr scheiden würde. Ich war erstaunt, dass sie es so leicht akzeptierte. Sie zeigte weder Trauer noch eine Spur von Zorn, was mir klar machte, dass auch sie eine Trennung wollte, aber den ersten Schritt von mir erwartet hatte.

Als ich ein paar Tage später im Flugzeug saß, fühlte ich eine große Erleichterung, fühlte mich leicht wie ein Vogel.

Die größte Überraschung erlebte ich aber bei meiner Rückkehr aus Schottland: Soraja hatte einen Mann. Murad, der ursprünglich aus dem anatolischen Dorf der Eltern stammte, war aus Istanbul importiert worden. Sorajas Eltern waren stolz, dass ihre Tochter verheiratet war und sie ein großes Hochzeitsfest veranstaltet hatten. Ob Soraja mit Murad glücklich sei, fragte ich sie nie. Nach einem Jahr begann sie aber, wenn wir uns sahen, über die Trägheit ihres frommen Gatten zu klagen, der anscheinend nichts anderes als Fußball im Kopf hatte. Seine Familie hatte es in Istanbul zu Geld gebracht, der älteste Sohn Murad musste auch nicht arbeiten. Von seinem Handy aus koordinierte er die Geschäfte der Liegenschaften.

Ich saß noch immer auf dem Sofa, sah durch das einzige Bild von Soraja und mir hindurch auf den Film unserer Liebe. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein.


Ich schaffte es nicht, ein Datum für die Abreise nach Ankara festzulegen, was mich beunruhigte. Ich begann um meinen Plan zurückzugehen zu fürchten. Wie schon vor rund zehn Jahren, vor meinem vierzigsten Geburtstag. Damals hatte ich zurückkehren wollen, aber keine Lösung gefunden für das Problem, wovon ich dort leben könnte. Nach einem kurzen Besuch in Ankara hatte ich feststellen müssen: Als Gemüseverkäufer auf einer Holzplanke in den Straßen der türkischen Hauptstadt sah ich mich doch eher nicht. Die Angst vor der neuen Herausforderung hatte gesiegt, und ich hatte meinen Wunsch, aus der Fremde nach Hause zu kommen, begraben. Der Wunsch zurückzukehren blieb als bittersüßer Stachel. Dass dieser Wunsch zehn Jahre später wieder hochkam wie eine innere Flut, erklärte ich mir nach langer Überlegung schließlich mit der nicht ausgelebten Beziehung zu meinem Geburtsland und seinen Menschen.

 

Geldsorgen hätte ich dieses Mal keine, wenn ich zurückkehren würde. Die letzten zehn Jahre hatte ich gespart, ich war kaum in Urlaub gefahren, lebte bescheiden. Und von meiner Mutter hatte ich ein großes Feld geerbt, fünfundvierzig Jahre nach ihrem Tod! Das Feld am Rand einer Provinzstadt, die bei den Investoren allein schon wegen ihrer Erdbebensicherheit beliebt ist, sei jetzt Gold wert, wurde mir berichtet.

Wie ich über Nacht zu einem vermögenden Mann wurde, ist ein Märchen. Mir gefror die Spucke auf der Zunge, als mir von meinem Erbe erzählt wurde: Ein Großgrundbesitzer, bei dem die Eltern meiner Mutter als «Schwarze Knechte» weilten, hatte damals unzählige Hektaren Land. Ihm gehörte ein ganzes Dorf mitsamt dem umliegenden Land. Um bei der damaligen Landreform die Ackerfelder nicht an die anderen zu verlieren, habe dieser schlaue Kerl einen Teil der Ländereien meinem Großvater und meiner Mutter überschrieben. Seine Knechte wussten davon nichts. Auch ich nicht, bis vor kurzem, als ich einen Anruf des Dorfvorstehers Memo erhielt. Diesen Memo hatte ich seit über einem Vierteljahrhundert nicht gesehen. Als er sich meldete, wusste ich zwar, wer er war, aber einen Moment lang war ich sprachlos, denn ich hatte an jenem Abend alles Mögliche erwartet, nur nicht ihn.

Zuerst erzählte er, der zwei Jahre jünger war als ich, was er in den letzten Jahren gemacht hatte. Er war schon mehr als zehn Jahre in Deutschland gewesen, mischte gar deutsche Worte in sein Kurdisch. Er sei zurückgekehrt, um Dorfvorsteher zu werden, er habe seine Tochter, das älteste der fünf Kinder, mit Hilfe Gottes schon verheiratet, und sein Sohn werde, so Gott es wolle, im nächsten Sommer heiraten. Eine weitere Tochter studiere Chemie. Ich nahm an, er würde mich zum Hochzeitsfest seines Sohnes einladen oder nach finanzieller Unterstützung suchen. Noch bevor ich ihn fragen konnte, kam er von sich aus auf das Thema: Ein Enkel dieses längst verstorbenen Großgrundbesitzers habe aufgeregt und verzweifelt nach Nachkommen des Schwarzen Knechtes, so nannte er immer noch meinen Großvater, gesucht. Seine Abklärungen bei den Einwohnerbehörden ergaben, dass ich der einzige Erbe dieses großen Ackerfeldes sei, das seit Jahrzehnten nicht bestellt wurde, weil es steinig war. Die Stadt habe sich ausgedehnt, sei riesig geworden. Der Boden an dem sanften Hang am Berg sei jetzt als Bauland deklariert. Ein Bauunternehmer hatte den Wettbewerb für eine staatliche Universität und ein Krankenhaus mitsamt Wohnungen für das Personal auf just diesem Boden gewonnen. Bei der Überschreibung des Bodens hatte der Notar auf eine Unterschrift von den Erben des Schwarzen Knechts gedrängt. Mindestens dreimal wiederholte Memo, dass ein Glücksvogel auf meinen Kopf geflogen sei, ich sei ein reicher Mann geworden. Schließlich ermahnte er mich, ich müsse auf mich aufpassen, dass ich das Land nicht diesem Enkel schenke, dessen Augen in ihren Höhlen vor lauter Gier wie Murmeln glänzten. Zumindest solle ich nicht zu einem tiefen Preis verkaufen.

Dann, einen Tag später, erhielt ich am Abend einen Anruf von einem Bauunternehmer aus der Provinzstadt, der mein Feld kaufen wollte. Und danach rief er ohne Ausnahme jeden Tag an, bot mir Unmengen von Geld, jeden Abend fünftausend Dollar mehr, weil er mein Zögern als Versuch, den Preis hochzutreiben, betrachtete. Ich hielt den Bauunternehmer mit dem Versprechen hin, ich würde bald kommen und die Sache regeln. Er schien mir erst zu glauben, nachdem ich beim heiligen Koran geschworen hatte.

Ich schaltete dann einen Anwalt ein, um die Sache abzuklären und mich juristisch beraten zu lassen. Sein Bericht zwei Wochen später: Der Boden gehöre mir, ich könne verkaufen oder nicht, wie ich wolle. Ich könne auch den Bau verhindern, beim Bauamt sei noch kein Gesuch für eine Universität eingegangen. Der Beamte dort habe gesagt, ihm sei zu Ohren gekommen, dass man den Boden an diesem Hang dem Militär verkaufe, das dort einen Schießplatz einrichten werde. Der Anwalt, der ein Verwandter meines Vaters war, warnte mich auch vor der Baumafia, die bei solchen Angelegenheiten skrupellos vorgehe. Um mir ein Bild zu machen, könne ich mal nach dem Wort Baumafia googeln und sehen, wie sie Menschen wie Ameisen aus dem Weg räume. Sie haben ihre bewährten Methoden, Grundstückbesitzer zum Verkauf zu überreden. Am besten sei es, wenn ich mich nicht ausfindig machen lasse.

Meine Telefonnummer war aber dem Bauunternehmer und dem Enkel des Großgrundbesitzers bekannt. Später erfuhr ich, dass der Dorfvorsteher Memo meine Telefonnummer dem Bauunternehmer und dem Enkel des Großgrundbesitzers, die nun Kontrahenten waren, teuer verkauft hatte.

Ich ahnte noch gar nicht, was dies alles für mich bedeutete. Es machte mich aber richtig kribbelig. Manchmal erwachte ich um drei Uhr morgens und fragte mich, wie ich mich dieses Feldes wieder entledigen könne. Der Enkel wollte mich natürlich nicht auszahlen, er war sich ganz sicher, dass das Feld ihm gehöre, ich solle nur eine Unterschrift geben, damit er über das Feld verfügen könne. Schenken wollte ich es ihm jedoch auf keinen Fall.

Meine Mutter, an die ich mich kaum erinnere und von der ich keine eigenen Bilder im Gedächtnis habe, hatte mich reich gemacht. Dabei wusste ich nicht viel über sie. Mir war über die Glücklose nur die folgende Geschichte erzählt worden: Mein Vater war elf Jahre alt, als sein Vater auf einem Fußmarsch nach Istanbul starb. Niemand weiß, warum. Er starb einfach, hieß es, man habe ihn dort in einem Dorf nach dem Freitagsgebet zu Grabe getragen. Er brachte Schafe von der Hochebene zu Fuß nach Istanbul. Eine Strecke von sechshundert Kilometern. Die Mutter meines Vaters war da sechsunddreißig Jahre alt und seine vier Schwestern waren sechzehn und sechs Jahre, die jüngsten, Zwillinge, erst elf Monate alt. Eine der Zwillingsschwestern sei kurz nach dem Tod des Vaters an einer Krankheit, die man «sich kratzen» nannte, gestorben. Sie musste sich lange gekratzt haben, bis sie sich nicht mehr bewegt habe, nur so viel wurde erzählt, wenn von ihrer Todesursache die Rede war.

Als mein Großvater starb, übernahm mein elfjähriger Vater als einziger Mann in der Familie die Schafherde und die sechs Kamele, die eine Karawane bildeten. Er hatte einen Hirten für die Schafe und einen für die Kamele, mit denen er aus fernen Regionen Datteln, Feigen und Rosinen in sein Dorf transportierte. Seine Mutter und seine Schwestern waren auf den tüchtigen jungen Mann stolz. Als mein Vater zwanzig wurde, musste er für zwei Jahre ins Militär. Die Hirten aber ruinierten innerhalb dieser zwei Jahre die Familie. «Mit ihrer Faulheit», pflegte die Großmutter noch jahrelang mit Vorwurf in der Stimme zu sagen. Und mein Vater fand nach dem Ende des Militärdienstes eine Familie vor, die nur noch von den Almosen der Verwandten lebte. Die Kamele waren als Lastenträger nicht mehr gefragt, nur noch Metzger interessierten sich für die kräftigen, aber bescheidenen Steppentiere. Für ein Kamel zahlten die Metzger den Dörflern, die unter der Dürre litten, einen Sack Mehl. Motorisierte Lastwagen brummten durch die Steppe und wirbelten auf Feldwegen Staub auf. Die Hälfte der Schafherde starb an der Dürre. Im Frühling darauf musste Großmutter ihren Sohn weit weg als Tagelöhner ins Taurusgebirge schicken, unter Tränen, die noch tagelang geflossen seien. Sie habe den ganzen Sommer sehnlichst auf sein Zurückkommen gewartet.