Virus Mutant

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Virus Mutant

Impressum

Virus Mutant

Yuriko Yushimata

Copyright: © 2014 Yuriko Yushimata

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-1270-1

Geliebter Virus

Das erste, was sie bemerkte, war, dass ihre Blutungen ausblieben. Ihre Haut veränderte sich und ihr Appetit. Etwas wuchs in ihr. Sie wusste, dass es kein Kind war und doch war es ein Teil von ihr. Etwas, was leben wollte. Sie entschloss sich, es zu lieben und umschlang sich zärtlich mit ihren Armen.

Der Arzt diagnostizierte eine unheilbare gefährliche Viruserkrankung. Das war ihr egal, was wusste der Arzt schon von dem, was in ihr wuchs.

Ihrem Mann verschwieg sie es, es war ganz ihres.

Sonst hatte sie ja nichts.

Stück für Stück nahm es sie ganz in Besitz. Als die Geschwüre nach außen traten, konnte sie es ihrem Mann nicht mehr verheimlichen. Zusammen mit dem Arzt wollte er es ihr wegnehmen. Sie wollten es rausschneiden. Das konnte sie nicht zulassen. Aber sie hatte inzwischen Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Der Schmerz war jetzt ihr dauernder Begleiter. Nur in den Momenten, in denen der Schmerz so stark wurde, dass er sie ganz nahm, war sie wieder bei sich. Die Geschwüre schmiegten sich an, der Schmerz durchflutete ihr Gehirn. Es war lange her, dass sie in dieser Form vollständig begehrt wurde, und sie gab sich ganz hin.

Früh in der Nacht kletterte sie aus dem Fenster. Sie fror und schwitzte, aber sie hatte eine Aufgabe. Sie hatte sich über ihr dünnes Sommerkleid einen dicken alten Mantel gezogen. In der Straßenbahn setzte sie sich unauffällig in eine Ecke.

Niemand beachtete sie.

Sie stieg um in die Linie 11. Im Industriegebiet stieg sie aus.

Hier in der Konservenfabrik hatte sie einmal gearbeitet, nur kurz, nur einige Monate lang. Im Zaun war ein Loch und eines der Kellerfenster war beschädigt.

Sie hatte Glück und kam ohne Probleme in die Halle mit der großen Maschine. Von oben sah sie in den Bottich des riesigen Fleischwolfs, hier wurden die Wurstkonserven hergestellt. Sie stand an der Metallbrüstung und blickte hinab. Sie erinnerte sich an den Vorarbeiter. "Wenn Sie da hineinfallen, werden Sie zu Wurst verarbeitet, das merkt die Maschine nicht mal. Also passen Sie auf." Sie hatte genau aufgepasst.

Sie zog sich ganz aus und versteckte die Kleidung hinter einigen Palettenstapeln, dann trat sie wieder an die Metallbrüstung, sie stand jetzt da wie Eva im Paradies, zärtlich strich sie über die Unebenheiten der Knoten, die sich überall auf ihrem Körper abzeichneten. Der Schmerz war langsam unerträglich, aber es war ein guter Schmerz. Der Schmerz zeigte an, dass es soweit war. Sie kletterte auf die Metallbrüstung und sprang. Sie würde sterben, aber der Virus würde weiterleben, immer weiter und überall, weltweit. Damit war ihr Tod nicht umsonst.

Sie spürte nur kurz den Aufprall in der Maschine, dann wurde der Schmerz unerträglich, als ihre Gebeine in dem riesigen Fleischwolf zermahlen wurden.

Die Konserven reisten am nächsten Morgen in alle Welt und mit ihnen der Virus.

FIN

Die Gottespest

Der Papst hatte zugestimmt, endlich. Der Kardinal war hochzufrieden. Dies war sein Lebenswerk zum Wohlgefallen Gottes, es würde seinen Namen unsterblich machen.

Als Verantwortlicher für die geheimen Genlabore der katholischen Kirche in den polnischen Karparten war er derjenige, auf dessen Initiative DAS PROJEKT zurückging, so nannten es alle, DAS PROJEKT.

Er stand auf der leicht baufälligen Außentreppe der alten Klosteranlage, in deren geheimen Kellerräumen die katholische Kirche die modernste biotechnologische Forschungseinrichtung der Welt unterhielt. Das Kloster lag weit ab jeder modernen Zivilisation in einem Teil Polens, der sich seit dem Zusammenbruch des Sozialismus noch weiter entvölkert hatte. Nachts war das Heulen der Wölfe zu hören. Niemand ahnte etwas von dem, was hier vorging. Selbst die Spitzel des Opus Dei wussten nichts von dieser Anlage.

Die Polen waren zum Glück ein gottesfürchtiges Volk, besonders hier auf dem Land. Als Kardinal wurde er ehrfürchtig gegrüßt, wie Kardinäle vor ihm schon vor Hunderten von Jahren. Die polnischen Zentren der Sünde, Krakau und andere Kulturhauptstädte, waren weit weg. Gerade hatte er den Abgesandten des Papstes verabschiedet. Nun musste es sich erweisen, dass er nicht zu viel versprochen hatte.

Er bekreuzigte sich und erbat Gottes Beistand. DAS PROJEKT konnte in seine letzte Phase gehen.

In der deutschen Kleinstadt irgendwo an einem mittelgroßen Fluss schlichen am helllichten Tage bei schönstem Sonnenschein auffällig viele dunkel gekleidete Mönche mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen durch die winkligen Gassen. Doch niemand dachte sich groß etwas dabei, vielleicht war es eine kirchliche Tagung. Im Dunkel einer Einfahrt tuschelten zwei der Mönche miteinander. Einzelne Worte wehten durch die Luft.

"... DAS PROJEKT ... Freisetzung hat begonnen ..."

Aber niemand beachtete die Mönche. Die Kleinstadt lebte gut als wichtiges Oberzentrum der Geflügelmast, mit einem der größten Schlachthöfe Europas. Auch in vielen anderen Städten waren die Mönche in diesen Tagen zu sehen. Insbesondere in Städten mit großen Häfen und Flughäfen und einem hohen Anteil an Durchreisenden.

Es waren jetzt schon drei Monate vergangen. Der Kardinal lief unruhig im Büro der Klosterkammer auf und ab. Hier in diesen unscheinbaren Kölner Bürohaus, im reichsten Bistum der Welt, liefen alle Fäden für DAS PROJEKT zusammen. Bisher waren alle Meldungen negativ, keine positiven Ergebnisse waren bisher beobachtet wurden. Schon leistete sich der Sekretär des Bischofs ihm gegenüber Respektlosigkeiten. Er kniete nieder und betete zum Kreuz, das in der Ecke des Zimmers hing.

"Mein Schicksal liegt in Deiner Hand."

Einen Fehlschlag konnte sich DAS PROJEKT nicht leisten, schon wurden Forderungen laut, die exorbitanten Geldmittel zu kürzen.

Einen Tag später kam endlich die erlösende Nachricht, in einer Kleinstadt mit Schlachthof, einem der ersten Freisetzungsorte, begannen die Menschen wieder vermehrt in die Kirchen zu strömen. Noch waren es nicht viele, doch die Zahl der Beichtgänger hatte sich verdreifacht und sie stieg die nächsten Tage weiter.

Der Kardinal dankte Gott, und der Papst rief den Kardinal an und dankte ihm.

In den nächsten Tagen und Wochen breitete sich überall dort, wo sie das Gottesvirus freigesetzt hatten, eine neue Kultur des tugendhaften Glaubens und der Gottesfürchtigkeit aus. Und das Virus verbreitete sich überall auf der Erde.

Der Kardinal sah dies mit Stolz. Nicht überall führte es die Menschen aber zum Christentum. In anderen Regionen profitierten zum Teil, bedauerlicherweise aus Sicht der Kirche, der Islam und der Buddhismus. Doch das hatte der Kardinal erwartet. Der Papst hatte die Freisetzung trotzdem gebilligt. Für den Papst galt es, zuerst den Atheismus zu bekämpfen, die Atheisten waren der gefährlichste Feind, insbesondere für die christliche Kirche.

Der Kardinal teilte diese Einschätzung des Papstes.

Diese Gefahr war nun vorbei, das Ziel war erreicht. Und dabei hatten die Atheisten, die Aufklärer, ihnen die technischen Mittel dafür bereitgestellt. Der Kardinal lachte bei diesem Gedanken. Gott ließ seine Gegner für sich arbeiten.

Fast bereute der Kardinal, dass er eine Schutzimpfung hatte, so glücklich sahen die neuen Gläubigen aus. Aber die Hierarchie der Kirche hatte die Schutzimpfung für alle höheren Diener Gottes zur Bedingung gemacht, ansonsten hätte DAS PROJEKT keine Chance gehabt.

Insbesondere hatte die Angst vor dem selten vorkommenden gegenteiligem Effekt des Virus bestanden.

In einem von 10 000 Fällen führte der Virus zum Atheismus. Leider war es ihnen nicht möglich gewesen, dies auszuschalten.

Die nächsten Monate waren ein Fest für die katholische Kirche. Die Menschen strömten wieder in Massen zu den Gottesdiensten. In den großen Städten mussten überall sonntags auch die großen Freiplätze mit moderner Technologie von den Priestern bespielt werden. Die alten Kirchenschiffe waren nicht in der Lage, die Massen zu fassen. Alles lief wie geplant.

Der Kardinal frühstückte mit dem Papst.

Dann gab es die ersten Zwischenfälle. Auf einmal wollte niemand in der Kirchenhierarchie mehr etwas mit ihm zu tun haben. Zuerst war nur ein Priester gekreuzigt worden von fanatisierten Massen, doch dann wurden es immer mehr Zwischenfälle. Überall nagelten frenetisch schreiende Massen ihre Priester an Kreuze und trugen sie durch die Stadt, um sie dann langsam sterben zu lassen, in Stücke zu reißen und die Einzelteile als Reliquien aufzubewahren. Teilweise gab es schwere gewaltsame Auseinandersetzungen um diese Reliquien.

Der Papst hatte sich vor den gläubigen Massen, die den Petersdom stürmten, nur noch durch geheime Fluchtwege und dann mit einem Hubschrauber retten können, sein engster Vertrauter und Sekretär wurde lebend zerrissen, und um die Einzelteile kam es zu brutalen Kämpfen. In einigen Städten zelebrierten die Gläubigen auch das Abendmahl mit den zerrissenen Stücken aus Leibern von Priestern und Nonnen.

Niemand konnte sich nun mehr daran erinnern, dass der Papst seine Zustimmung für DAS PROJEKT gegeben hatte. Der Kardinal musste feststellen, dass er nichts Schriftliches hatte, keine Belege. Vor seiner Tür stand eine dunkle Limousine, er war sicher, dass dies Mitglieder des Opus Dei waren. Am nächsten Morgen fand man ihn tot in seinem Büro.

 

In den polnischen Karparten brannte ein Kloster ab und dabei wurden die Keller darunter verschüttet.

Doch dann schien sich alles für die katholische Kirche noch einmal zum Guten zu wenden. Es setzte das ein, was später als Hallelujaphase der Gottespest bezeichnet wurde.

Auf einmal schlug die Stimmung um. Alle Menschen priesen nun den Herren und die Liebe. Laut singend zogen sie durch die Städte und liebten ihre Brüder und Schwestern auf öffentlichen Plätzen und in den Gotteshäusern. Das Halleluja der Massen schall aus allen Gassen. Der Zölibat wurde aufgehoben im Namen der Liebe des Herren. Der Papst nahm die Zeichen als Zeichen Gottes. Im Petersdom umarmten sich die jungen Ministrantinnen und Ministranten und sangen Lieder zum Lobpreise des Herren, und in der Nacht huschten die jungen Gestalten durch die Gänge und fanden zueinander.

Die kirchlichen Institutionen erlebten einen Massenzulauf. Der Name des Kardinals kam auf die Liste für die Seligsprechungen und mit ihm viele der toten Priester und Nonnen. Der Papst kniete in der Sixtinischen Kapelle und dankte Gott.

Die Wege des Herren waren unerforschlich.

Doch auch die Hallelujaphase ebbte ab und der Virus verlor seine Macht, das Immunsystem löschte jeden Rest Glauben in den Menschen aus. Zurück blieb eine atheistische Welt.

Schon die Ansicht religiöser Symbole löste nun bei den meisten Menschen Brechreiz aus.

Nur einige wenige Punkbands spielten noch zur Provokation religiöse Lieder.

Die Kirchen verfielen und dienten nur noch, vergleichbar den Folterkammern in Burgen, für die Touristen zum erbaulichen Gruseln.

FIN

Alles Viren

Albert saß an ihrem Küchentisch und blickte sich immer wieder um, als stünde da irgendwo jemand hinter ihm, unsichtbar, unter dem Küchenschrank, hinter dem Kühlschrank oder im Abfluss. Katrin sah ihn beruhigend an.

"Möchtest Du einen Kaffee?"

Misstrauisch betrachtete er ihre Kaffeekanne. Sie lachte. "Ich koche ihn in der Espressokanne, da ist dann alles tot."

Ein bitterer Zug breitete sich um seine Mundwinkel aus. "Du nimmst mich nicht ernst. SIE sind hier. Überall. Wir bilden uns nur ein, wir hätten einen freien Willen. Dabei bestimmen SIE alles. SIE benutzen uns wie Fleischkühe für ihre Fortpflanzung und Verbreitung. Jetzt sind SIE auch schon auf dem Mond und dem Mars – dank uns.

Sie sind in uns, in dicken Klumpen, und übernehmen von dort aus Stück für Stück die Kontrolle über alles. SIE sind in unserem Inneren, steuern uns und fressen uns von innen her auf. SIE steuern unsere Gefühle mit ihrer Chemie. Die Menschen lassen sich naiv von IHNEN manipulieren. VIREN sind die ältesten lebenden Organismen auf der Erde. SIE sind uns in ihrer Entwicklung Millionen von Jahren voraus. Und Du denkst, alles wäre normal.

Du bist auch nur eine IHRER Marionetten."

Er sah nun auch sie misstrauisch an. "Vielleicht haben SIE auch Dich schon übernommen und ich rede mit einem Haufen Viren?"

Seine Stimme klang aggressiv. Katrin stellte ihm den Kaffee hin. "Zumindest kochen Dir dann die Viren Kaffee. Was willst Du mehr?"

Er kicherte in sich hinein. "Du wirst noch sehen. Ich habe nämlich IHREN Schwachpunkt entdeckt. Ich werde SIE vernichten. Aber Du darfst niemanden etwas erzähle. Warte nur ab."

Dann wurde sein Gesicht seltsam ernst und er schien auf einen fernen Punkt zu starren. "Aber SIE versuchen mich auszuschalten. SIE haben bemerkt, dass ich gefährlich für SIE bin."

Katrin versuchte das Thema zu wechseln. "Dann solltest Du nicht weiter darüber sprechen, wer weiß, ob SIE nicht mithören. Wie geht es Deiner Katze?"

Er sah sie aus hohlen Augen an. "SIE haben sie getötet."

Katrin nahm ihn in die Arme. "Das tut mir leid."

Plötzlich ergriff er ihren Arm und zwang sie, sich zu ihm herabzubeugen. Um seinen Mundwinkel herum hatte sich Speichel gebildet. Er flüsterte, und doch klang seine Stimme dabei so durchdringend wie ein abgebrochenes Stück Kreide auf der Tafel. "Falls SIE mich erwischen. Du bist die einzige, die Bescheid weiß. Du musst es dann beenden. Der Karton oben auf meinem Nachtschrank, hinten links, da findest Du meine Aufzeichnungen. Aber pass auf, SIE werden dann auch Dich verfolgen."

Damit sprang er plötzlich auf. Er lachte verlegen. "Ich muss los. Ich wollte Dir keine Angst machen."

Sie umarmte ihn noch einmal kurz, dann war er schon bei der Tür und draußen. Die Treffen wurden langsam immer anstrengender. Früher war es mit Albert anders gewesen. Sie seufzte und wischte mit dem Schwammtuch über den Küchenschrank.

Zwei Tage später stand die Polizei vor ihrer Tür. Albert, Albert war tot. Ihre Adresse hatten die Beamten an verschiedenen Stellen in der Wohnung gefunden. Sie begleitete sie.

Die Beamten hatten einige Fragen und Albert hatte sie als Erbin eingesetzt.

Die Todesursache stand noch nicht fest. Sie hatten den Toten in der Badewanne gefunden. Er war am Abend des Tages gestorben, an dem er sie besucht hatte. Sie musste weinen. Die Beamten versprachen, sich zu melden, sobald Genaueres feststand. Aber es gab keinen Hinweis auf Fremdverschulden.

Alberts Wohnung war schon wieder freigegeben. Einen Schlüssel hatte sie noch.

Und der Vermieter wollte wissen, was mit den Sachen geschehen sollte.

Noch am selben Nachmittag ging sie zur Wohnung, um zu schauen, was zu tun war. Sie hatte Albert lange nicht mehr besucht. Sie erinnerte sich an das letzte Treffen.

Viren, überall Viren.

Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. In der Wohnung herrschte Chaos. Hier war kaum etwas von Wert. Sie suchte zwei, drei Platten aus der Plattensammlung heraus, Platten, die sie beide zusammen gehört hatten.

Dann setzte sie sich ans Fenster, rauchte und schaute hinaus. Sie dachte an die gemeinsamen Gespräche und das letzte Treffen. Viren. Sie sah sich im Zimmer um. Ihr Blick streifte fast gezwungen die Kartons oben auf dem großen Schrank. Schnell hatte sie den besagten Karton gefunden. Zeitungsartikel fielen ihr entgegen. Alles Texte über Viren. Sie las nur die Titel.

'Sie kommen aus einer anderen Dimension.'

'Gefahr aus dem Inneren.'

'Die geheimen Herrscher der Welt.'

'Der verlorene Krieg.'

Darunter lag eine kopierte Dissertation aus den 70er-Jahren – 'Virencluster als autopoietische Systeme. Systemtheoretische Überlegungen zur Mensch-Virus-Beziehung' – noch mit Schreibmaschine geschrieben. Die Typografie entlockte ihr ein Lächeln.

Sie überflog die Zusammenfassung. Die Autorin warf dort in einer Nebenbemerkung die Frage auf, ob Virencluster Intelligenz entwickeln könnten. Sie argumentierte offensichtlich mit der biologischen Systemtheorie von Maturana dafür.

Die Bemerkung war fett unterstrichen.

Unter der Dissertation lagen einige kürzere Texte über Computerviren und Künstliche Intelligenz. Ein Text über Cluster von Computerviren, genetische Algorithmen und die Fähigkeit künstlichen Lebens, Intelligenz zu entwickeln, war mit Dutzenden von kaum lesbaren Kommentaren versehen.

Unter allen Texten lag eine Mappe aus schwarzer Pappe, in der krakeligen Schrift Alberts stand auf der Außenseite mit Bleistift kaum lesbar geschrieben 'Der Tag, an dem wir zurückschlagen'.

Vorsichtig nahm sie die Mappe aus dem Karton und öffnete sie. Aber da war nichts, nichts, nur leere Seiten.

Sie schüttelte den Kopf und musste ein Weinen unterdrücken.

Noch einmal ging sie durch die Wohnung, überall lagen Desinfektionsmittel, viele waren umgekippt und ausgelaufen, als hätte ein Kampf mit einem unsichtbaren Gegner stattgefunden. Im Bad lag überall Seife. Und an der Wand hing ein riesiges Poster über die richtige Art, sich die Hände zu waschen, vom Bundesgesundheitsministerium.

Dann sah sie den Spiegel und die rote Schrift – 'Sie kommen. Sie greifen an' –.

Langsam sah sie selbst überall unsichtbare Gegner. Fluchtartig verließ sie die Wohnung.

Nachts hatte sie einen Alptraum. Ein fetter lachender Virus wälzte sich auf ihren Bauch und drohte sie zu zerquetschen. Schweißgebadet wachte sie auf. Vielleicht hatte Albert doch Recht gehabt. Sie konnte nicht mehr schlafen und kochte sich Kaffee.

Woran war Albert eigentlich gestorben?

Am Morgen rief die Polizei an. Die Untersuchungen waren abgeschlossen. Die Todesursache stand nun fest.

Sie schluckte trocken. "Was?"

"Herr Albert Barnim ist auf einem Stück Seife ausgerutscht und hat sich dabei am Badewannenrand das Genick gebrochen."

Sie fing an zu lachen, erst leise, dann immer lauter. Der Beamte am Telefon musste denken, sie sei verrückt geworden. Aber ihr war so leicht zumute. Keine Viren, die Seife war schuld.

Noch am selben Tag ließ sie sich in einem kleinen Laden um die Ecke ein etwa 15 mal 10 Zentimeter großes Schild anfertigen – 'SEIFE ist gefährlich!' – und hängte es über ihrem Waschbecken auf.

FIN

Das Mädchen mit dem Springseil

Die ersten Aufkleber mit dem Aufruf - 'Freiheit für A/H1N5' - hatte Nina für einen schlechten Scherz gehalten. Wer konnte Freiheit für einen gefährlichen Grippevirus fordern?

Doch dann hatten die Medien angefangen zu berichten. Die Virusbefreiungsbewegung hatte zwei Hochsicherheitslabore gestürmt, um den Viren ihre Freiheit zurückzugeben. Im Internet wurde ein Video verbreitet, in dem ein maskierte Frau sich als Sprecherin der Täter bezeichnete.

Sie verlas ein Bekennerschreiben. Ihre Augen erschienen dabei zwischendurch in Großaufnahme, sie waren gleichzeitig voll Angst und Hass. "Viren sind der Anfang allen Lebens. Was sind wir dagegen? Die Menschen bilden sich ein, die Krone der Schöpfung zu sein und sind dabei das zerstörerischste Lebewesen auf der Erde. Menschen sind eine Krankheit und virale Mutationen sind die Antwort der Natur."

Nina versuchte dies auszublenden und nicht an früher zu denken, an das kleine Kind, das Seil hüpfte. Ihr Springseil war noch irgendwo.

Aber das lag 20 Jahre zurück, A/H1N5, die Deutsche Grippe, die Toten. Aber immer wieder sah sie sich als Mädchen mit dem Springseil. Das Mädchen mit dem Springseil.

Es war Dienstag. Am Abend schrien die Medien ihre Botschaft aus allen Löchern, auf den TV-Schirmen in der S-Bahn, auf ihrem Handy, im Supermarkt, überall die Berichte über die Virusbefreiungsfront.

Auf dem Rückweg nach Hause musste sie am Robert-Karl-Institut für Mikrobiologie vorbei.

Die Zeitungen hatten groß berichtet, dass hier in den Hochsicherheitslaboren die wirklich gefährlichen Erreger verwahrt wurden. Als wollten sie, dass ein Anschlag stattfindet.

Überall stand Polizei, die Straße war für Autos gesperrt. Ihr Ausweis wurde kontrolliert, aber ein anderer Weg hätte für sie einen 15 Minuten längeren Fußweg bedeutet.

Als sie den Haupteingang erreichte, ging alles ganz schnell.

Zwei Polizisten zogen Schnellfeuergewehre und schossen wahllos auf ihre Kollegen. Sie war wie gelähmt. Dann griff sie einer der Schießenden und zog sie als Schutzschild mit sich.

Aus dem Institut waren Explosionen zu hören, Rauch drang aus zersplitternden Fenstern, dann liefen ein Mann und eine Frau, beide als Ärzte gekleidet, die Treppen vom Haupteingang hinunter und schlossen sich ihnen an.

Bevor die Polizei die Situation überblickte, waren die Vier mit ihr bereits in dem Teil des Hafens, der in der Nähe des Instituts lag. Handlungsunfähig ließ sie alles über sich ergehen.

Die als Ärztin verkleidete Frau wurde angeschossen. Einer der als Polizisten verkleideten Männer warf Rauchgranaten und schoss wahllos um sich. Dann nahm er eine am Boden kauernde Frau als weitere Geisel.

Im Hafenbecken lag ein Schnellboot. Irgendwer drückte ihr einen Lappen auf das Gesicht. Es roch nach ...

 

Als sie wieder zu sich kam, sah sie die beiden Männer, die als Polizisten verkleidet gewesen waren, an einem Holztisch sitzen und essen. Nun trugen sie unauffällige Alltagskleidung. Sie hörte ein Wimmern. Die andere Geisel saß mit Handschellen an Händen und Füßen auf dem Boden in einer Ecke. Das Zimmer wirkte wie ein Teil eines Ferienhauses, draußen sah sie im Dunkel nur Bäume und Schnee.

Aus einem anderen Teil des Hauses hörte sie Schmerzensschreie, das musste die angeschossene Frau sein. Der Mann, der als Arzt gekleidet gewesen war, war auch nirgends zu sehen.

Nina merkte, wie sie wieder wegsackte, dann verschwand die Welt.

Als sie wieder aufwachte, war von den beiden Männern nichts mehr zu sehen. Auch die zweite Geisel war verschwunden. Am Fenster saß der Mann, der als Arzt gekleidet gewesen war. Als sie sich bewegte, sah er zu ihr herüber. Nur ihre Hände waren mit Handschellen gefesselt. Er wies mit dem Kopf nach draußen.

Aus dem Fenster war nur Schnee und Wald zu sehen. "Der Schnee liegt inzwischen zwei Meter hoch, die Temperatur liegt bei 17 Grad minus, der nächste Ort ist 60 Kilometer entfernt. Versuchen Sie gar nicht erst zu fliehen."

Nina sah ihn an: "Wo sind wir?"

"Das ist nicht wichtig."

"Wieso tun Sie das?"

Der Mann schien einen Augenblick an ihr vorbeizuschauen: "Haben Sie sich schon mal überlegt, wie es kommt, dass diese Gesellschaft immer korrupter und egoistischer wird? Die Menschen denken nur noch an das nächste große Auto, PC-Spiele, Sex und alles käuflich. Wir zerstören die Lebensgrundlage für kommende Generationen. Die Abwehrsysteme der Natur funktionieren nicht mehr. Wir helfen nur, damit alles wieder ins Gleichgewicht kommt. Irgendwer muss die Verantwortung übernehmen. Das ist wie im Krieg. Wenn Sie das richtige tun, machen Sie sich damit nicht unbedingt beliebt. Die Demokratie verhindert heute, dass das Notwendige getan wird. Wir tun es."

Nina zitterte: "Was haben Sie vor?"

"Wir werden weltweit drei bis vier Virusepidemien auslösen. Danach wird die Welt anders aussehen. Vielleicht überleben 10 Prozent, vielleicht 20 Prozent, aber die Menschen werden wieder gelernt haben, die Natur zu respektieren."

Der Mann kam auf sie zu: "Sie werden uns dabei helfen."

Sie spuckte ihm ins Gesicht. Er wischte die Spucke ab, er blieb ruhig: "Sie haben keine Wahl."

Ihr wurde untersagt, den Raum, in dem sie sich befand, zu verlassen. Aber wo sollte sie auch hin?

Einige Tage vergingen eintönig, sie waren hier offensichtlich isoliert vom Rest der Welt. Am Samstag, es musste Samstag sein, wenn sie sich nicht verzählt hatte, hörte sie Türen schlagen und Streit.

"Wir müssen das Virus testen vor der massenhaften Fr eisetzung."

Das war die Stimme der Frau, die angeschossen worden war. Sie schien sich erholt zu haben. Die anderen Stimmen konnte sie nicht verstehen. Sie hörte nur noch die Worte "... die Geiseln ..."

Dann nach einer Weile hörte sie das Schreien der anderen Geisel.

Dann war es wieder ruhig.

Vier Tage später hörte sie Schüsse. Dann sah sie die andere Geisel durch den Schnee kriechen, und sie sah die blaue aufgesprungene Haut, das Blut aus den Mundwinkeln, A/H1N5, die Deutsche Pest.

In ihr kamen alle Erinnerungen hoch, die Leichen überall, ihre tote Mutter zusammengekrümmt auf dem Küchenboden, die Maden in älteren Leichen. Sie konzentrierte sich ganz auf das Bild ihres Springseils, ihr Springseil, und atmete langsam ein und aus.

Draußen schienen die beiden Männer, die sie zuerst als Polizisten verkleidet gesehen hatte, Spaß an der Jagd zu finden. Sie hörte weitere Schüsse und Lachen.

Später brannte es etwas abseits des Hauses, was brannte, konnte sie nicht sehen.

Die Frau und der Mann, die als Ärzte verkleidet gewesen waren, schienen zufrieden.

In der Nacht schneite es. Am nächsten Tag lag der Schnee so hoch, dass an ein Verlassen des Hauses für die nächsten Tage nicht zu denken war. Nina wusste jetzt, was zu tun war.

Sie wartete auf die Nacht. Zwar schlossen die Entführer sie an ein Heizungsrohr, doch sie waren nicht mehr achtsam, es gelang ihr, ihre Hand aus der Handfessel zu lösen. Leise schlich sie durch das Haus. Sie musste nicht lange suchen. Die Kühlbox mit den Viren war nicht einmal versteckt. Sie nahm die Ampulle heraus, A/H1N5, und strich sich damit ein, dann die Türklinken und die Handtücher im Bad.

Ihr liefen Tränen über das Gesicht.

Dann legte sie sich wieder hin.

Als am nächsten Morgen ihre Hand nicht gefesselt war, schrie der Mann, der als Arzt verkleidet gewesen war, rum, aber sonst passierte nichts.

Am nächsten Tag, es war der zweite Samstag, den sie nun hier war, bekamen sie alle Fieber. Zuerst wollten die Entführer es nicht wahrhaben. Dann, nach einem weiteren Tag, fingen die Halluzinationen an und nach weiteren 14 Stunden gab es den ersten Toten.

Dienstag waren alle tot.

Nina betrachtete die Toten: "Seid doch froh, jetzt habt Ihr Euren Lieblingen zur Speise gedient."

Sie schaffte die Toten in einen abseits gelegenen Schuppen, sie deponierte dort auch die Kühlbox und zündete dann den Schuppen an.

Dann desinfizierte sie das Haus gründlich. Die Entführer hatten große Kanister mit Desinfektionsmittel im Anbau gelagert. Sie badete fast darin. Sie durfte niemanden gefährden.

Aber im Haus konnten die Viren ohne Wirt sowieso nur ein paar Tage überleben.

Sie dachte zurück an ihre Kindheit, an die Schlagzeilen über den einzigen Menschen, der die Virusepidemie vor 20 Jahren trotz Infektion unbeschadet überlebt hatte, an das kleine Mädchen mit dem Springseil.

Die Zeitungen hatten damals alle ihr Bild abgedruckt. Das Springseil hatte sie damals vor dem Verrücktwerden bewahrt zwischen all den Toten. Als die Seuchenkommandos in ihren Anzügen kamen und das kleine Mädchen mit dem Springseil trafen, mussten sie einen Moment an ihrem Verstand gezweifelt haben.

Später wurde sie untersucht und wieder untersucht. Alle anderen waren tot. Sie hatte als einzige Infizierte überlebt.

Das war jetzt 20 Jahre her.

Sie war immun, zu essen war ausreichend da und der Schnee würde schmelzen.

FIN