Kyopo – Weiße Schmetterlinge

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Kyopo – Weiße Schmetterlinge
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Kyopo /

Weiße Schmetterlinge

Drama/Coming of age

von Young-Mi Kuen

Tu, wovon du überzeugt bist – kritisiert wirst du sowieso!

Impressum

Kyopo – Weiße Schmetterlinge von Young-Mi Kuen

Copyright: © 2012 Young-Mi Kuen

info@ymk-words.de

www.ymk-words.de

Bildgestaltung für das Cover: Nico Chiriatti

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-2812-0

PROLOG

Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß So-Young. So-Young war 5 Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter in einem Dorf am Fuße der hohen Berge.

Am liebsten war So-Young draußen. Zuhause in ihrer kleinen Hütte gab es nicht viel Platz zum Spielen. Die Hütte hatte nur einen Raum, in dem So-Young und ihre Mutter auf Reismatten auf dem Boden schliefen.

Sobald die Sonne aufging, standen So-Young und ihre Mutter auf, legten ihre Decken zusammen und aßen Reis und Gemüse aus kleinen Schalen. Dabei saßen sie auf dem Boden.

Eines Tages, es war noch sehr früh, die Sonne war gerade aufgegangen, ging So-Young mit ihrer Mutter spazieren. Sie gingen an den Reisfeldern vorbei, die jetzt noch leer waren, aber auf denen später die Reisbauern stehen und arbeiten würden. Sie gingen über eine Brücke an einem kleinen Wasserfall vorbei, an dem So-Young, wenn es sehr heiß war im Sommer, ihre Beine in den Wasserstrahl hielt. An einer Blumenwiese machten sie halt. So-Young hüpfte fröhlich umher, während ihre Mutter Kräuter sammelte und Minsogak, eine koreanische Melodie summte.

Die Sonne schien auf die beiden nieder.

Aus der Mitte der Blumenwiese erhob sich ein kleiner weißer Schmetterling, der unbekümmert von einer Blüte zur nächsten Blüte flatterte. Als würde er So-Young kennen, flog der kleine weiße Schmetterling zu ihr und ließ sich auf ihre Schulter nieder. So-Young freute sich.

Sie lief zu ihrer Mutter und rief: „Schau mal, Mama, ich habe einen Schmetterling gefunden!“

Die Mutter blickte von ihrem Korb auf und gab einen erschrockenen Laut von sich. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. So-Young sah ihre Mutter irritiert an.

Sie fragte: „Was ist los? Hat dich eine Biene gestochen?“

Die Mutter schlug mit der Hand nach dem weißen Schmetterling auf So-Youngs Schulter. Doch der Schmetterling entwischte der mütterlichen Hand und flatterte weiter. Das Gesicht der Mutter wurde blass.

So-Young konnte sich keinen Reim auf das merkwürdige Verhalten ihrer Mutter machen und fragte sie: „Was hast du, Mama?“

Ihre Mutter nahm ihre Tochter in die Arme und schaute So-Young besorgt an. Ihre Mutter sagte: „Das war der erste Schmetterling in diesem Jahr.“ So-Young wurde ganz still. Sie spürte, dass dieser Satz etwas Schreckliches zu bedeuten hatte.

Die Augen der Mutter glänzten. Ihre Mutter fuhr fort: „Ein Mensch, den wir kennen, wird sterben.“

So-Young drückte sich fester an Ihre Mutter. Ängstlich fragte sie: „Wer? Wer wird sterben?“

Ihre Mutter schien So-Youngs Frage nicht gehört zu haben. Sie sah in die Ferne. Plötzlich wurden die Farben der Blumenwiese blasser und blasser...

KAPITEL 1

Hände griffen in Schälchen mit getrocknetem Tintenfisch. Erdnüssen. Salzigem Gebäck.

Aus dem Aschenbecher stieg der Qualm von Zigaretten empor. Eine Hand griff nach der Zigarette und führte sie zum Mund. In den dunklen Augen blitzte Triumph auf – bis der kleine Song (10 Jahre) auf die Karten in der Hand deutete. Song fragte: „Bist du der König, Papa?“ Songs Vater stöhnte laut auf und warf die Karten nach dem Kind. Auch die anderen Kartenspieler lachten.

Während die Männer die Karten neu mischten, saßen die koreanischen Frauen mit ihren Töchtern draußen auf der Terrasse. Sie legten den Boden der Terrasse mit viel Zeitungspapier aus. Dann setzten sich die Frauen auf den Boden und begannen, Gemüse klein zu schneiden. Ein paar Meter weiter kam Frau Chang, Cerins Mutter, aus dem Badezimmer. In ihrem Haar waren Lockenwickler. Mit Stolz verkündete sie: „Cerin wird gleich auf dem Klavier vorspielen.“ Die anderen Frauen sahen Cerin (8 Jahre) anerkennend an.

Frau Lee, Mutter von So-Young, schimpfte: „Was soll das, So-Young?“ Die anderen Frauen schauten neugierig zu So-Young (7 Jahre), die neben ihrer Mutter saß. In ihren Händen hielt sie ein Stück Gurke, das sie zu einem Schmetterling geschnitzt hatte. Ihre Mutter nahm den Gurkenschmetterling und warf ihn auf den Haufen für Abfälle. Frau Lee schimpfte weiter: „Werde endlich vernünftig!“ So-Young sah ihre Mutter unsicher an und verteidigte sich: „Aber das habe ich doch getan, damit niemand dieses Jahr sterben muss!“

Die anderen Frauen sahen sich an – und brachen in Gelächter aus. Frau Lee war das ganz offensichtlich unangenehm. Genervt sagte sie zu ihrer Tochter: „Geh schon spielen, So-Young, hier störst du nur!“ Schnell stand So-Young auf und verließ mit hochrotem Kopf die Terrasse. Sie ging an den Kartenspielenden Männern vorbei und beneidete ihren Bruder Song um seine Unbeschwertheit. Song wurde gerade von ihrem Vater in die Luft geworfen. Der hatte es gut, er konnte einfach Spaß haben. Mit einem Seufzen ging So-Young weiter. Im langen Flur der Changs stellte sie sich vor den Garderobenspiegel und betrachtete sich nachdenklich. Plötzlich bewegte sich die Tür der Bibliothek. So-Young drehte sich um. Frau Chang, die Mutter von Cerin, verließ mit wütendem Gesicht die Bibliothek. Schnell versteckte sich So-Young hinter einem Mantel. Sie hörte Frau Chang sagen: „Mein Herz IST nicht verschlossen!“ Dann rauschte Frau Chang, vor der alle Kinder, Mütter und sogar einige Väter Angst hatten, in die Küche. So-Young atmete auf. Ihr Blick wanderte wieder zu der offenen Bibliothekstür. Irgendetwas zog So-Young magisch an. Langsam, wie unter Trance, betrat So-Young die Bibliothek.

Wuchtige Bücherregale aus dunklem Eichenholz zogen sich an den Wänden entlang. So-Youngs Finger strichen ehrfürchtig über die kostbaren Ledereinbände, die aus einer Welt stammten, die ganz anders war als die Welt, in der So-Young lebte. Plötzlich veränderte sich das Licht. So-Young drehte sich erschrocken um – und erblickte eine alte Frau, die regungslos vor einem koreanischen Landschaftsbild saß, das alle paar Sekunden in einer anderen Farbe beleuchtet wurde. Die alte Frau hatte ein sehr gütiges Gesicht und klare Augen, die So-Young liebevoll ansahen. Ihr graues Haar war, im Gegensatz zu allen anderen alten koreanischen Frauen, die So-Young gesehen hatte, nicht zu einem strengen Dutt zurecht gemacht, sondern fiel offen über die Schultern.

Schüchtern sagte So-Young: „Verzeihung, ich wollte nicht stören.“

Die Wahrsagerin lächelte So-Young an und sagte: „Du störst nicht. Komm, setz dich zu mir.“

So-Young setzte sich hin und hielt gehorsam ihre Handfläche der Wahrsagerin hin. Die Wahrsagerin studierte konzentriert die Linien. Angespannt sah So-Young die Wahrsagerin an und fragte: „Geehrte Frau, werde ich sterben?“

Die Wahrsagerin sah So-Young überrascht an. Dann sagte sie: „Jeder stirbt, doch deine Zeit ist noch lange nicht gekommen. Tu, wovon du überzeugt bist - kritisiert wirst du sowieso!“

So-Young sah die Wahrsagerin enttäuscht an. Die Wahrsagerin blickte durch sie hindurch. So-Young verlor sich in den dunklen Augen der Wahrsagerin…

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Jahre später

Im Sportstadion herrschte ein Höllenlärm. Die zahlreichen koreanischen Familien und Freunde feuerten lautstark die Läuferinnen (14-16 Jahre) an. Einige Meter weiter wurde gegrillt. Riesige Behälter voller Kimchi, dem koreanischen eingelegten Chinakohlsalat und unzählige Reiskocher wurden auf den Tischen verteilt.

In Eimern voller Eiswasser schwammen Coladosen.

Laut rief Frau Lee: „So-Young! Schneller! Du musst gewinnen!“ Als Sue die Stimme ihrer Mutter hörte, blickte sie auf - und stolperte über eine Hürde. Obwohl sie sich sofort wieder aufrappelte, wurde Sue von einem anderen Mädchen überholt. Das Gesicht von Frau Lee verlor das Interesse. Frau Lee stand etwas abseits von der Menge. Einige der anderen Koreaner warfen ihr verächtliche Blicke zu.

Mit einem enttäuschten Gesicht stieg Sue vom Dritten Platz des Siegertreppchens herab und trottete zu ihrer Familie. Ihr Bruder Song (16 Jahre) klopfte Sue anerkennend auf die Schulter. Ihre Mutter seufzte tief und sagte dann: „Nicht so schlimm, hm? Das nächste Mal wirst du bestimmt Erste!“ Wortlos gab Sue ihrer Mutter den Pokal, den Frau Lee, ohne einen Blick darauf zu werfen, in ihrer großen Handtasche verstaute, wo bereits ein anderer Pokal vom Schwimm-Contest lag.

Während die anderen Familien unabhängig von Sieg oder Niederlage ihrer Kinder fröhlich zusammen saßen und Teller voller Reis, Kimchi und Bulgogi, das traditionelle koreanische Feuerfleisch, verschlangen, saß die Familie Lee alleine abseits an einem Tisch und aß schweigend. Ihre Mutter und Song aßen mit gutem Appetit. Sue stocherte in ihrem Essen herum. Sie sah, wie Frau Park und Frau Kim, die früher oft zu Besuch gekommen waren, zu ihnen hinüber sahen und tuschelten. Als sie Sues Blick bemerkten, starrten sie schnell in eine andere Richtung. Sue betrachtete ihre Mutter, die müde aussah. Sie wusste genau, dass ihre Mutter Song und ihr etwas verschwieg, doch Sue konnte sich noch keinen Reim auf dieses merkwürdige Verhalten der anderen machen.

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Ein paar Tage später begleitete Sue in der Koreanischen Schule die kleinen Kinder (6-8 Jahre) auf dem Klavier. Die kleinen Kinder standen neben ihren Tischen und sangen die koreanische Nationalhymne. Es klopfte. Song betrat das Klassenzimmer. Sue blickte ihren Bruder fragend an. Song zog genervt die Augenbrauen hoch. Sues Blick wanderte weiter zu einem Mädchen, das mit dem Gesicht zur Wand in einer Ecke stand. Die Arme des Mädchens waren auf dem Rücken und ihre Finger waren ineinander verschränkt. Das Gesicht war gegen die Wand gedrückt. Sue verspielte sich. Genervt brach die Lehrerin die Singerei mit einer Handbewegung ab. Die Kinder setzten sich. Die Lehrerin sah Song an: „Was willst du?“ Song deutete auf Sue und sagte: „Frau Lehrerin, entschuldigen Sie die Störung. Die älteren Schüler brauchen Sue und diesen Raum.“

 

Seufzend klatschte die Lehrerin in die Hände und rief: „Kinder, packt eure Bücher zusammen, wir gehen in einen anderen Raum!“ Die Schüler wechselten den Raum.

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Sue begleitete nun die älteren Mädchen (10-12 Jahre), die in der Mitte des Raumes einen Folkloretanz unter den wachsamen Augen der Lehrerin probten.

Am nächsten Tag, es war ein Sonntag, führten die Mädchen ihren Tanz in farbenfrohen, flatternden Kleidern vor. Der Festsaal war mit vielen Papierblumen geschmückt, die von den Eltern gebastelt worden waren und die nun stolz im Kreis um die Tänzerinnen standen und die Aufführung mit Kameras für die Ewigkeit dokumentierten.

Als die Vorführung zu Ende war, ertönte begeisterter Applaus. Die Tänzerinnen erhielten einen kleinen Pokal. Auch Sue bekam Beifall und einen kleinen Pokal. Ihre Mutter, Frau Lee, klopfte Sue stolz auf die Schulter und sagte: „Meine Künstlerin!“ Sue lächelte verlegen. Ihre Mutter verstaute Sues Pokal in ihrer Handtasche. Song verdrückte sich mit ein paar Jungs aus dem Saal.

Nun wurden Tische und Stühle zusammengestellt. Frauen brachten geschäftig große Essensbehälter in den Saal.

Sue stand mit ihrer Mutter am Buffet. Ihre Mutter wollte ihr etwas Fleisch auf den Teller tun, doch Sue schüttelte bloß den Kopf. Eine Koreanerin (50), die neben Sue stand, sah Sue skeptisch an und fragte sie auf Koreanisch: „Mädchen, warum willst du das gute Fleisch nicht essen?“

Sue nahm sich wortlos etwas Gemüse und ging weg. Die Koreanerin sah Sues Mutter empört an und sagte: „Frau Lee, was ist das für ein Benehmen??“

Sues Mutter antwortete entschuldigend: „Kinder! So-Young versteht alles, aber sie spricht kein Koreanisch.“

Die Koreanerin sah fassungslos aus. Der Gesichtsausdruck wechselte in pure Verachtung. Dann lachte sie laut und rief: „Was für eine Idiotin! Kann noch nicht mal ihre eigene Sprache sprechen!“

Kapitel 2

Bambusstangen bewegten sich sanft im Wind. Der Morgentau schimmerte feucht auf den roten Blütenblättern von Halmigo, der giftigen Großmutterblume. Ein Tropfen bildete sich und rann das Blütenblatt entlang, bis er still auf den Boden fiel.

Das zarte Rosa von Mugunghwa, der koreanischen Nationalblume, legte einen verträumten Zauber über den Garten.

Auf dem kleinen Gartenteich schwammen geschlossene Seerosen und einige, wenige blühende Baengnyeon, Lotusblumen.

Frau Lee, die Mutter von Sue, kniete an einem Beet mit Sesamblättern und rupfte Unkraut. Sie horchte auf die Melodie, die aus dem Haus kam. Plötzlich war ein Fehler zu hören. Frau Lee sah auf und blickte zum Haus, wo ihre Tochter Sue saß und Klavier übte.

Sue seufzte. Sie sah auf das leicht ramponierte, koreanische Medizinschränkchen, das von der Form her einem sitzenden Kranich ähnelte und fragte sich, woher ihre Mutter diese ganzen koreanischen Gegenstände her hatte. Auf dem Medizinschränkchen stand eine Seladon-Vase, traditionelle koreanische Keramik und daneben lag Hapjukson, ein koreanischer Fächer.

Sues Blick wanderte weiter zu der Glasvitrine, in der ihre glänzende Pokale standen: 2. Platz im Schwimmen. 2. Platz im Lesewettbewerb. 3. Platz im Hürdenlauf.

Wieder seufzend wandte Sue den Blick von den Pokalen in der blank polierten Glasvitrine ab. Sue selbst sah nicht weniger clean und ordentlich aus. Sie trug einen weißen Hausanzug aus Samt und weiße Turnschuhe, die so aussahen, als würde Sue sie zum ersten Mal tragen.

Das Licht der einfallenden Sonnenstrahlen traf auf den schwarzen Lack des glänzenden Klaviers, das täglich von Sue poliert wurde und auf dem kein einziger Fingerabdruck zu sehen war.

Sue spielte die Stelle noch einmal an, wieder schlichen sich Fehler ein. Ihr Bruder Song kam die Treppe hinunter. Er hatte Kopfhörer auf und summte den Text eines Hip-Hop-Songs mit, während er seinen Basketball dumpf auf jeder Stufe plumpsen ließ.

Sue drehte sich um und warf ihrem älteren Bruder einen finsteren Blick zu, doch Song grinste bloß und dribbelte demonstrativ weiter.

Ihre Mutter betrat das Wohnzimmer. Sie schimpfte: „Wie soll deine kleine Schwester üben bei dem Krach?“

Song antwortete mit einer Zeile aus dem Hip-Hop-Stück und verließ das Haus.

Sue spielte die fehlerhafte Stelle noch einmal an. Ihre Mutter zog ihre rosa Plastikhandschuhe aus. Sie sah Sue an. Frau Lee sagte: „So-Young, mach eine Pause, hm?“

Sue schrieb mit Bleistift eine Notiz auf die Notenblätter.

Frau Lee fragte: „Sue?“

Sue drehte den Kopf zu der Mutter. Ihr Gesichtsausdruck war angespannt und konzentriert.

Sue fragte zurück: „Mom?“

Frau Lee sagte: „Du hast schon so viel geübt, hm? Setz dich etwas in den Garten, damit du Farbe kriegst.“

Sue sah ihre Mutter an - war das ernst gemeint? Sie entschied sich dafür, dies als einen der vielen mütterlichen Tests zu sehen. Sue antwortete: „Nein, nein, schon ok, ich muss endlich diese Stelle schaffen!“

Frau Lee lächelte - stolz. Sie klopfte ihrer Tochter auf die Schulter und sagte: „Wer fleißig ist, wird auch belohnt!“

Sue blickte verlegen auf das Klavier.

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Die Sommerferien waren vorbei. Es war der erste Schultag.

Sue packte ihre Bücher und Hefte aus und legte sie ordentlich auf den Tisch, während der Rest der Klasse Papierkügelchen warf, auf Handys herumtippte und MP3s austauschte. Frau Kopke (45), die Klassenlehrerin, wischte kopulierende Schweinepaare von der Tafel. Dann drehte sie sich um und rief laut: „Herrschaften, die Ferien sind vorbei! Handys aus! MP3-Player aus! Sue? Lies bitte deinen Ferienbericht vor!“

Sue schlug ihr Heft auf und begann zu lesen: „Eigentlich wollten wir wegfahren, aber dann teilte mir meine Klavierlehrerin mit, dass sie mich zum Jugend musiziert Wettbewerb angemeldet hat.“

Die Gesichter der anderen Schüler waren gelangweilt. Niemand hörte Sue zu. Sue las weiter: „… ich kriege Krämpfe in den Händen, dabei kriegt man mit 14 noch keine Arthritis. Vielleicht mache ich nicht oft genug die Übungen mit dem Tennisball… Vielleicht, weil meine Finger dann auch nicht mehr nachdenken, was sie tun müssen und dann fühlen sie sich nicht mehr so falsch an. Gestern habe ich diese Stelle geschafft.“

Es war still. Sue traute sich nicht aufzublicken und in die Gesichter ihrer Mitschüler zu sehen. Schließlich motzte Max: „Boah, was für beschissene Ferien!“

Frau Kopke rief mahnend: „Max!“

Max sagte: „Ist doch wahr! Die Ferien sind zum Chillen da!“

Sue sagte leise: „Es hat mich keiner gezwungen, ok?“

Max machte eine Geste mit der Hand - die spinnt doch! Ein paar Mitschüler lachten.

Frau Kopke mahnte: „Ruhe, das reicht jetzt! (zu Sue) Sehr schön, Sue. (…) Wer liest jetzt?“

Der restliche Schultag verging wie alle Schultage mit vielen Aufgaben und Pflichten und stillem Sitzen.

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Wieder zuhause wartete die Liste ihrer Mutter darauf, dass Sue sie erledigte. Frau Lee machte für Sue jeden Abend eine Liste von den Dingen, die am nächsten Tag erledigt werden mussten. Doch bevor sich Sue an die Liste machte, musste sie das Mittagessen kochen.

Sue öffnete eine Schublade und zog aus einer Packung eine Atemschutz-Maske hervor. Sie band sich die Atemschutz-Maske vor Nase und Mund und holte eine abgedeckte Schüssel aus dem Kühlschrank. Dann stellte sie eine große Pfanne auf die Herdplatte und dreht die Herdplatte auf. Sue stellte die höchste Stufe der Dunstabzugshaube ein. Während sie das Fleisch briet, wandte Sue das Gesicht ab.

Ihr Bruder Song betrat gut gelaunt die Küche und rief: „Aaaaaah, das riecht ja gut!“ Er schaufelte sich Fleisch und Reis auf seinen Teller und aß mit gutem Appetit.

Sue dagegen pickte lustlos in ihrem Essen herum.

Song sah sich die Liste an, die an der Magnettafel hing und sagte schmatzend: „Boah, Mom is echt der schlimmste Listenfreak, den ich kenne!“

Sue sah ihren Bruder verächtlich an und sagte genervt: „Wenn du auch mal was tun würdest, wär die Liste nicht so lang!“

Song legte die Serviette auf den leeren Teller. Er stand auf und rief Sue im Gehen zu: „Vergiss nicht zu spülen!“

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Nach dem Spülen goss Sue die Blumen im Wohnzimmer und wischte Staub. Sie sah auf ihre Liste. Dort standen noch andere Punkte:

- Briefe zur Post bringen

- Überweisungen bei der Bank einwerfen

- Hose vom Schneider abholen

- Einkaufen: Kaffee, Milch, Brot, Salat.

Hab dich lieb, meine Große, bis heute Abend. Mom

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Sue seufzte. Sie packte ihre Noten zusammen und machte sich auf den Weg zum Klavierunterricht.

Als Sue das Haus der Klavierlehrerin Kim betrat, hörte sie, wie ihre Erzfeindin Cerin (15) ein Klavierkonzert von Mozart spielte. Die Klavierlehrerin Kim nickte Sue zu. Cerin saß am Klavier und sah ihre Lehrerin erwartungsvoll an. Klavierlehrerin Kim klatschte in die Hände und rief: „Bravo! Sehr gut, Cerin! Das war sehr, sehr gut!“

Cerin wirkte überrascht. Sie sah nicht zufrieden aus. Mit hoch gezogenen Augenbrauen sagte Cerin: „Danke, Klavierlehrerin Kim. Was kann ich besser machen?“

Die Lehrerin lächelte zufrieden und antwortete: „Keine Sorge, technisch bist du weiter als die meisten anderen. Versuche, etwas mehr Gefühl hinein zu legen.“

Cerin sah die Lehrerin fragend an.

Klavierlehrerin Kim zog ein Holz-Lineal aus Cerins Hosenbund und sagte: „Spiel mit geschlossenen Augen, Cerin. Lass dich von der Melodie tragen, dann wirst du die Musik besser fühlen.“

Cerin schien nicht ganz zu verstehen, was ihre Lehrerin meinte, doch sie versprach: „Ich werde es üben bis nächste Woche, Klavierlehrerin Kim.“

Die Lehrerin lächelte. Sie nickten sich zu. Cerin packte ihre Noten zusammen und stand auf. Sue stand auch auf.

Cerin sagte kühl: „Hallo Sue.“ Sue grüßte zurück. Cerin schloss die Wohnzimmertür hinter sich.

Sue setzte sich an das Klavier. Die Lehrerin steckte das Lineal in Sues Hosenbund. Dann spielte Sue vor.

Cerin stand hinter der Wohnzimmertür und horchte. Sie grinste. Sues Spiel war nicht so gut wie ihr eigenes Spiel. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck verließ Cerin das Haus der Lehrerin.

Klavierlehrerin Kim kommentierte laut: „Takt 5, zu schwach! Con tutta la forza! MIT ALLER KRAFT! Noch einmal!“

Sue begann noch einmal von vorne.

Klavierlehrerin Kim kommentierte weiter: „Takt 9, unentschlossen. Forte piano! Noch einmal!“

Sue begann noch einmal von vorne. Das Stück klang nun viel unsicherer als vorher. Diesmal ließ die Lehrerin Sue bis zum Ende spielen. Die letzte Note hallte nach. Klavierlehrerin Kim sagte wie beiläufig: „Schön, Sue. Wie oft hast du geübt in der letzten Woche?“

Sue sah Klavierlehrerin Kim angespannt an und antwortete: „Jeden Tag vier Stunden, Klavierlehrerin Kim.“

Die Klavierlehrerin griff nach einem Blanko-Notenheft, das auf dem Klavier lag und gab es Sue, die überrascht die Klavierlehrerin ansah.

Klavierlehrerin Kim erklärte: „Es hilft, wenn man die Noten selbst aufschreibt.“

Sue sah nicht überzeugt aus. Sie fragte: „Klavierlehrerin Kim, was denken Sie, wie viele Stunden pro Tag sollte ich üben?“

Die Klavierlehrerin sah Sue überrascht an und antwortete: „Nun, Cerin übt sechs Stunden pro Tag, aber das ist zu viel für dich.“

Sue antwortete: „Ich will den Wettbewerb gewinnen.“

Die Klavierlehrerin betrachtete Sue nachdenklich, dann sagte sie: „Nun gut, dann spiel noch mal und achte auf den Takt! Denk dran: Con tutta la forza. Mit ALLER Kraft.“

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Der Tag ging wie die anderen Tage zu Ende. Sue übte Klavier, machte den Haushalt und erledigte die Listen der Mutter. Sie brachte Briefe zur Post, Hosen zur Schneiderei, Überweisungen zur Bank. Sue hatte so viel zu tun, dass sie nicht mehr darüber nachdachte, was sie tat. Sie tat es einfach.

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