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II. Verlustabzug

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(1) Einordnung in das System der Einkommensteuer: Negative Einkünfte, die durch den (internen und externen) Verlustausgleich im laufenden Jahr nicht ausgeglichen werden können, sind in den Verlustabzug einzubeziehen (§ 10d EStG). Beim Verlustabzug handelt es sich um eine interperiodische Verlustverrechnung, bei der Verluste eines Jahres mit positiven Einkünften in einem anderen Veranlagungszeitraum saldiert werden.

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Der Verlustabzug erfolgt vom Gesamtbetrag der Einkünfte und damit auf der gleichen Ebene wie der Abzug von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen (§ 10d Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 EStG). Diese Gleichstellung ist aber lediglich rechentechnischer Natur. Materiell besteht zwischen dem Verlustabzug einerseits und den Sonderausgaben sowie außergewöhnlichen Belastungen andererseits ein gravierender Unterschied. Bei Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen wird die Bemessungsgrundlage durch Kosten der privaten Lebensführung gemindert, deren Abzug ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung nicht möglich ist (Grundsatz der Trennung von Einkommenserzielung und konsumtiver Einkommensverwendung). Der Abzug wird mit der persönlichen Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips begründet. Der Verlustabzug leitet sich demgegenüber aus dem bei der Einkunftsermittlung zu beachtenden Nettoprinzip ab. Er beruht auf der sachlichen Komponente des Leistungsfähigkeitsprinzips. Der Verlustabzug ist deshalb notwendiger Bestandteil einer sachgerechten Einkommensbesteuerung. Beim Verlustabzug handelt es sich nicht um eine Subvention, sondern um eine innerhalb des Konzepts der Einkommensteuer unverzichtbare Fiskalzwecknorm.

Abb. 2.15:

Einordnung des Verlustabzugs in das Nettoprinzip


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Das Nettoprinzip geht dem Abschnittsprinzip vor. Nach dem Abschnittsprinzip wird bei der Einkommensteuer auf die in einem Veranlagungszeitraum geltenden Verhältnisse abgestellt. Der Verlustabzug durchbricht diesen Grundsatz, um zu verhindern, dass die Summe der in den einzelnen Veranlagungszeiträumen zu versteuernden Einkünfte über den insgesamt von einem Steuerpflichtigen erwirtschafteten Einkünften liegt.

Da sowohl der Verlustausgleich als auch der Verlustabzug mit dem Nettoprinzip begründet werden, dürfen Einkünfte, bei denen der Verlustausgleich eingeschränkt oder ausgeschlossen ist,[143] auch beim Verlustabzug nicht berücksichtigt werden.

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(2) Formen des Verlustabzugs: Der Verlustabzug weist mit dem Verlustrücktrag und dem Verlustvortrag zwei Unterformen auf. Negative Einkünfte, die im Jahr ihrer Entstehung bei Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen werden, können bis zu einem Betrag von 1 Mio. € (bei zusammenveranlagten Ehegatten bis zu 2 Mio. €) mit dem Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittelbar vorangegangenen Jahres saldiert werden (einjähriger, betragsmäßig begrenzter Verlustrücktrag, § 10d Abs. 1 EStG).

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Verluste, die 1 Mio. € (bei zusammenveranlagten Ehegatten 2 Mio. €) übersteigen, und Verluste, die sich im Rahmen des Verlustrücktrags nicht auswirken, weil im Vorjahr keine positiven Einkünfte in entsprechender Höhe angefallen sind, werden mit positiven Einkünften der kommenden Jahre verrechnet. Für den Verlustvortrag (§ 10d Abs. 2 EStG) gelten folgende Regelungen:


Bis zu einem Betrag von 1 Mio. € (Sockelbetrag) können Verluste eines Jahres in den Folgejahren ohne weitere Einschränkung vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden. Voraussetzung ist allerdings, dass in den kommenden Jahren entsprechende positive Einkünfte erzielt werden. Der Sockelbetrag verdoppelt sich bei zusammenveranlagten Ehegatten auf 2 Mio. €.
Verluste, die den Sockelbetrag übersteigen, können nur bis zu 60% des verbleibenden Gesamtbetrags der Einkünfte der zukünftigen Jahre verrechnet werden. Dies bedeutet, dass von den in Folgejahren nach Abzug des Sockelbetrags verbleibenden positiven Einkünften mindestens 40% zu versteuern sind. Die quotale Beschränkung des Verlustvortrags wird als „Mindestbesteuerung“ bezeichnet.
Der Verlustvortrag ist zeitlich nicht begrenzt.

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Beispiel:

Ein lediger Steuerpflichtiger weist in seinem Einzelunternehmen im Jahr 00 einen Verlust von 4 000 000 € aus. Im Vorjahr hatte er einen positiven Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 300 000 €. Der Gesamtbetrag im Jahr 01 beträgt 2 700 000 €.

Nach einem Verlustrücktrag ins Vorjahr in Höhe von 1 000 000 € (betragsmäßige Begrenzung) verbleibt ein Verlust von 3 000 000 €. Dieser wird im Jahr 01 im Rahmen des Verlustvortrags wie folgt berücksichtigt:


verrechenbar
noch nicht verrechneter Verlust 3 000 000 €
Sockelbetrag 1 000 000 € 1 000 000 €
= verbleiben 2 000 000 €
quotaler Verlustvortrag maximal 60% des nach Abzug des Sockelbetrags verbleibenden Gesamtbetrags der Einkünfte= 60% × (2 700 000 € – 1 000 000 €) = 1 020 000 € 1 020 000 €
= Verlustvortrag 2 020 000 €

Nach Verlustrücktrag und Vortrag des Sockelbetrags von 1 000 000 € sind von den Verlusten 2 000 000 € noch nicht verrechnet. Von den positiven Einkünften des Folgejahres verbleiben 1 700 000 € (= 2 700 000 € – 1 000 000 €). Aufgrund der quotalen Begrenzung des Verlustvortrags auf 60% des nach Abzug des Sockelbetrags verbleibenden Gesamtbetrags der Einkünfte des Folgejahres 01 können von den noch nicht ausgeglichenen negativen Einkünften im Jahr 01 nur 1 020 000 € verrechnet werden: 60% von 1 700 000 €. 980 000 € (= 2 000 000 € – 1 020 000 €) müssen in die weiteren Jahre vorgetragen werden.

Konsequenz: Der Steuerpflichtige hat in den drei Jahren insgesamt Einkünfte von null. Er hat aber in diesen drei Jahren 980 000 € zu versteuern: 300 000 € in dem Jahr, das dem Verlustjahr vorangeht (Ursache: betragsmäßige Begrenzung des Verlustrücktrags auf 1 000 000 €) und 680 000 € (= 2 700 000 € – 1 000 000 € – 1 020 000 €) in dem Jahr, das auf das Verlustjahr folgt (Ursache: quotale Begrenzung des Verlustvortrags, soweit der Sockelbetrag überschritten ist). Der noch nicht verrechnete Verlust von 980 000 € kann erst in den kommenden Jahren (dh ab dem Jahr 02) im Rahmen des (zeitlich unbeschränkten) Verlustvortrags verrechnet werden.

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Die betragsmäßigen Beschränkungen des Verlustrücktrags sowie insbesondere die quotale Begrenzung des Verlustvortrags, soweit der Sockelbetrag überschritten ist, sind insbesondere für Steuerpflichtige von Nachteil, die zum einen absolut sehr hohe Einkünfte haben und bei denen zum anderen die Einkünfte sehr großen Schwankungen unterliegen. Davon sind nicht nur natürliche Personen betroffen, sondern in erster Linie Kapitalgesellschaften, für die die in § 10d EStG enthaltenen Regelungen zum Verlustabzug in gleicher Weise gelten (§ 8 Abs. 1 KStG).[144]

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Natürliche Personen haben zu beachten, dass der Verlustabzug nach Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte erfolgt, dh der Verlustabzug ist vor dem Abzug von Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und den sonstigen Abzugsbeträgen vorzunehmen. Konsequenz ist, dass sich die Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzüge im Verlustjahr nicht auswirken. Im Rücktragsjahr und in den Vortragsjahren geht die Abziehbarkeit von diesen Ausgaben insoweit verloren, als der Verlustabzug höher ist als der Gesamtbetrag der Einkünfte vermindert um die Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und die sonstigen Abzugsbeträge.


Jahr – 01 Jahr 00 Jahr 01 Jahr 02
Summe der Einkünfte 55 000 € – 90 000 € 5 000 € 95 000 €
Verlustabzug 55 000 € + 90 000 € 5 000 € 30 000 €
= Einkommen nach Verlustabzug 0 € 0 € 0 € 65 000 €
Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen – 12 000 € – 7 000 € – 5 000 € – 11 000 €
davon steuerlich wirksam 0 € 0 € 0 € 11 000 €
= zu versteuerndes Einkommen 0 € 0 € 0 € 54 000 €

Der Verlust des Jahres 00 von 90 000 € wird durch den Verlustrücktrag im Jahr -01 nur zum Teil (55 000 €) ausgeglichen. Die verbleibenden 35 000 € können zu 5 000 € im Jahr 01 und zu 30 000 € im Jahr 02 vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden. Sowohl im Verlustjahr 00 als auch im Rücktragsjahr -01 und im Vortragsjahr 01 wirken sich die Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen steuerlich nicht aus. Lediglich im Jahr 02 können die Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen trotz Verrechnung eines Verlustvortrags in vollem Umfang abgezogen werden.

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(3) Beurteilung: Der Verlustrücktrag führt über die vollständige oder teilweise Erstattung der im letzten Jahr gezahlten Einkommensteuer im Verlustjahr zu einem Zufluss an Zahlungsmitteln. Der Verlustvortrag verbessert die Liquidität der Steuerpflichtigen nur insoweit, als in späteren Jahren die Steuerschulden geringer ausfallen. Die geltende Rechtslage weist damit aus Sicht eines Steuerpflichtigen folgende Nachteile auf:


Die Beschränkung des Verlustrücktrags auf ein Jahr sowie auf 1 Mio. € schränkt den positiven Liquiditätseffekt des Verlustabzugs deutlich ein. Für die Steuerpflichtigen wäre ein betragsmäßig und zeitlich unbegrenzter Verlustrücktrag vorzuziehen. Die zeitlichen und betragsmäßigen Begrenzungen des Verlustrücktrags lassen sich zwar betriebswirtschaftlich kritisieren; zu bedenken ist aber, dass der Staat über die in den vergangenen Jahren vereinnahmten Steuern bereits disponiert hat.

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(4) Gestaltungsmöglichkeiten: Grundsätzlich ist, entsprechend der Vorgehensweise des im vorangehenden Abschnitt vorgestellten Beispiels, innerhalb des Verlustabzugs folgende Reihenfolge vorgesehen:


Verlustrücktrag in das vorangehende Kalenderjahr
Verlustvortrag (so früh wie möglich).

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Aus Sicht eines Steuerpflichtigen ist diese Verrechnungsreihenfolge bezogen auf den Zeiteffekt positiv zu beurteilen. Dennoch empfiehlt es sich in einigen Fällen, das Wahlrecht zu nutzen, auf den Verlustrücktrag ganz oder teilweise zu verzichten (§ 10d Abs. 1 S. 5, 6 EStG):


Der Verlustrücktrag ist auf Antrag des Steuerpflichtigen zumindest so weit einzuschränken, dass das Einkommen in dem vorangegangenen Jahr noch mindestens den Grundfreibetrag (für Alleinstehende 9 408 €, für Verheiratete 18 816 €) zuzüglich Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen erreicht. Da bei Einkünften bis zur Höhe des Grundfreibetrags keine Einkommensteuer anfällt, wird trotz Beschränkung des Verlustrücktrags die in der Vorperiode bezahlte Einkommensteuer vollständig erstattet. Bei einer Minderung des zu versteuernden Einkommens auf null würde der Verlustrücktrag in Höhe des Grundfreibetrags sowie der Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträge keine Wirkung entfalten und dennoch für den Verlustvortrag verloren gehen (Bemessungsgrundlageneffekt).

Fortführung des Beispiels:

Stellt der ledige Steuerpflichtige einen Antrag, den Verlustrücktrag in das Jahr -01 auf den Betrag von 33 592 € (= 55 000 € – 12 000 € – 9 408 €) zu begrenzen, beläuft sich seine Einkommensteuer für das Jahr -01 weiterhin auf null. Der Verlustvortrag in das Jahr 02 erhöht sich allerdings um 21 408 € (= Summe aus Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen im Jahr -01 sowie Grundfreibetrag) auf 51 408 €. Das zu versteuernde Einkommen im Jahr 02 geht dementsprechend von 54 000 € (so bei vollständigem Verlustrücktrag in das Jahr – 01) auf 32 592 € zurück.

Da für den Verlustvortrag kein Wahlrecht besteht, können sowohl im Verlustjahr als auch im Jahr 01 die Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen weiterhin nicht mit steuerlicher Wirkung abgezogen werden.


Jahr – 01 Jahr 00 Jahr 01 Jahr 02
Summe der Einkünfte 55 000 € – 90 000 € 5 000 € 95 000 €
Verlustabzug – 33 592 € + 90 000 € – 5 000 € – 51 408 €
= Einkommen nach Verlustabzug 21 408 € 0 € 0 € 43 592 €
Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen – 12 000 € – 7 000 € – 5 000 € – 11 000 €
davon steuerlich wirksam 12 000 € 0 € 0 € 11 000 €
= zu versteuerndes Einkommen 9 408 € 0 € 0 € 32 592 €

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Aufgrund des progressiven Verlaufs des Einkommensteuertarifs ist zusätzlich ein Steuersatzeffekt zu berücksichtigen. Je höher das Einkommen im Abzugsjahr ist, umso stärker wirkt sich der Verlustabzug aus. Ist in den kommenden Perioden das Einkommen des Steuerpflichtigen voraussichtlich höher als in dem der Verlustperiode vorangegangenen Jahr, fallen zwar beim Verlustvortrag die Liquiditätsentlastungen später an, sie liegen aber betragsmäßig über den Einkommensteuerrückzahlungen, die beim Verlustrücktrag gewährt werden. Die Vorteile aus dem positiven Steuersatzeffekt wirken stärker als die Nachteile aus dem negativen Zeiteffekt. Je früher in Zukunft wieder positive Einkünfte erzielt werden und je höher diese ausfallen, umso eher empfiehlt es sich, auf den Verlustrücktrag zugunsten des Verlustvortrags zu verzichten.

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Zweiter Teil Die Besteuerung des Erfolgs eines Unternehmens › Zweiter Abschnitt Einkommensteuer › F. Steuertarif (tarifliche und festzusetzende Einkommensteuer)

F. Steuertarif (tarifliche und festzusetzende Einkommensteuer)

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Ausgangspunkt zur Berechnung der tariflichen Einkommensteuer bildet der Normaltarif (§ 32a EStG). Der Normaltarif ist bei Vorliegen von bestimmten steuerfreien Einkünften durch den Progressionsvorbehalt zu modifizieren (§ 32b EStG). Der Normaltarif einschließlich dem Progressionsvorbehalt bezieht sich insgesamt auf die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, das zu versteuernde Einkommen. Für ausgewählte Einkünfte gilt ein eigenständiger Tarif: gesonderter Steuertarif für Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 32d EStG), drei Formen des ermäßigten Steuersatzes für außerordentliche Einkünfte (§ 34 Abs. 1, § 34 Abs. 3, § 34b EStG), Begünstigung der nicht entnommenen Gewinne (§ 34a EStG) sowie Tarifglättung bei Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft (§ 32c EStG).[147]

Die tarifliche Einkommensteuer vermindert um die Steuerermäßigungen (insbesondere Steuerermäßigung bei Einkünften aus Gewerbebetrieb) ergibt die festzusetzende Einkommensteuer. Danach ist die Steuerermittlung abgeschlossen. Die Steuerermittlung ist von der Steuererhebung (Steuerzahlung, Kapitel G., Rn. 341–347) zu trennen.