Read the book: «Das Erbe», page 3

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Vorkehrungen ...

Major Hahnfeld betrachtete mißtrauisch die Anzeigen des schmalen Bedienpultes in dem kleinen Raum, den eigentlich nur noch eine etwa meterbreite Felswand von der Welt draußen trennte. Nochmals warf er einen Blick auf den trüben Bildschirm und lauschte angestrengt den Außengeräuschen, die über den staubigen Lautsprecher an seine Ohren deutlich drangen. Im Hinterkopf spukte die Warnung seines Verbindungsmannes. Irgendetwas sagte ihm, daß da draußen nicht alles so war, wie sonst. Hahnfeld besaß den sicheren Instinkt eines Wolfes. Und das der ihn noch nie trog und er ihm mehr als einmal sein Leben zu verdanken hatte, war ihm mehr als gegenwärtig. Nervös nestelte er am Pistolenhalfter herum. Doch hier drin gab es nichts zu schießen. Hier herrschte Stille und Sicherheit. Die Gefahr lauerte ausschließlich da draußen. War da nicht ein schattenhafter Umriß in der ehemaligen Transportschneise verschwunden? Oder täuschte ihn schon die Wahrnehmung? Nochmals blickte er auf das Bild, das die Außenkamera auf den Bildschirm übertrug, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. Doch um seine Ruhe war es vorerst geschehen. Mit hastigen Griffen schaltete er die Beobachtungseinrichtungen ab und verschwand in der dämmrigen Beleuchtung des Bahnsteiges Richtung der dort wartenden Elektrodraisine.

Wieder in der Zentrale angekommen, aktivierte er die Kabelverbindung zu Pawlek. Mittels eines Codes teilte er knapp mit, daß dieser sich unverzüglich bei ihm einzufinden hätte. Solche Treffen wurden aus Sicherheitsgründen auf ein Mindestmaß reduziert. Doch jetzt wollte Hahnfeld den Mann direkt sprechen.

Er befahl seinen Verbindungsmann gegen Mitternacht zu sich. Ort des Treffens war wie immer die geheime Personenschleuse mit einem dahinter liegenden Vorraum zum eigentlichen Tunnelsystem. Hahnfeld hatte mit der Botschaft gleich noch frische Lebensmittel angefordert und einige andere Verbrauchsartikel. Ungeduldig schaute er auf die große Uhr über dem Kommandopult. Sie zeigte jedoch erst eine späte Vormittagsstunde an. Es war also noch viel Zeit, bis sein Besucher kam.

So erhob sich der einsame Mann und ging durch etliche Gänge in den Sportraum, der unweit der Unterkünfte lag. Dort zog er sich um und leistete sein tägliches Pensum an Übungen. Dazu standen allerlei Sportgeräte zur Verfügung. Eiserne Selbstdisziplin war ihm schon immer eigen gewesen. Und nur diese befähigte ihn schließlich dazu, hier alleine die Stellung zu halten. Nach einer halben Stunde anstrengender Betätigung zog es ihn in die Baderäume, wo er sich eine ausgiebige Dusche gönnte. Derart erfrischt nahm er einen Imbiß, zog sich dann eine nagelneue Arbeitskombi über und machte sich auf den Weg zur zentralen Energieversorgung der Anlage „Gigant“. Dazu benutzte er wieder die Elektrobahn.

Allerdings fuhr er nun mit der Draisine in die andere Richtung, es ging diesmal tief in den Berg hinein. Mit mäßigem Tempo rollte Hahnfeld wieder durch lange Tunnel. Sein Ziel erreichte er nach etwa zehn Minuten Fahrt. Am Bahnsteig standen diesmal eine Reihe großer Metallschränke. Aus einem von ihnen nahm er einen robusten Schutzanzug mit Vollhelm heraus. Mühsam streifte er die schwere Montur über, griff sich jedoch sicherheitshalber aber noch eine der starken Handlampen aus einem Regal und begab sich rasch zu einem dunklen Schott in der Tunnelwand.

Schwerfällig tappend durchquerte er sich dahinter anschließende enge und mit schwerem Metall verkleidete Gänge, die wiederum zu einer letzten massiven Druckschleuse führten. Deren Schotten waren so schwer, daß sie sich nur mittels Hydraulik öffnen ließ. Er gab erneut eine komplizierten Zahlenkombination ein, worauf er zurücktrat und wartete, bis sich das schwere Luk aufgeschoben hatte. Hier lag die energetische Seele der ganzen unterirdischen Anlage und zugleich eine einzigartige wissenschaftliche Errungenschaft und großes Geheimnis aus der Zeit lange vor Kriegsende - der Atommeiler.

Im Zentrum einer großen, vom monotonen Summen der Aggregate erfüllten Felsenhalle erhob sich der dunkle, metallisch glänzende Reaktorkörper, umgeben von Leitungen, Druckbehältern, War-tungsstegen und zahlreichen anderen technischen Einrichtungen. Mißtrauisch äugte Hahnfeld auf ein Meßgerät, das er nun in den Händen hielt. Er war zwar hartgesotten, aber hier beschlich selbst ihn immer ein unheimliches Gefühl. Eilig ging er zum Kontrollpult und überprüfte bestimmte Anzeigenwerte mit einer Tabelle, die dort lag. Zufrieden schritt er noch einmal aufmerksam kontrollierend um den tief im Bergesinneren brummenden Meiler, richtete dabei den starken Lichtstrahl seiner Handlampe auf diese und jene Stellen, konnte aber keine sichtbaren Defekte oder andere Mängel feststellen. Alle so geprüften Leitungen zeigten sich dicht. Nirgends trat irgendwelche Flüssigkeit aus. Diese spektakuläre Technik sorgte praktisch für die weitere Funktion der Basis, bis in die nächsten Jahrzehnte hinein. So hatten es zumindest die ihn einweisenden Techniker erläutert, bevor sie für immer die Anlage verlassen mußten. Drängen hier Unbefugte ein, käme es zur Katastrophe. Die Sicherheitssysteme waren derart ausgefeilt, daß allein das gewaltsame Eindringen in den den vorderen Zugangsstollen ein atomares Inferno auslösen täte, was in Sekunden nicht nur die gesamte Basis vernichtete, sondern wahrscheinlich den ganzen Bergzug samt Umland hinwegfegen würde. Außerdem gab es hier eine Zündeinstellung, die, am zentralen Kommandopult einmal aktiviert, nach der vorgegebenen Zeitspanne den Reaktor zur Explosion brächte ...

Schwitzend zwängte sich der Major zurück durch die verschiedenen Tunnel mit ihren Schotten und Schleusen. Hinter ihm waren alle Zugänge nun wieder regelrecht versiegelt. Er war froh, nach seinem unheimlichen Ausflug zurück am Bahnhof zu sein und endlich die schwere Schutzbekleidung ablegen zu können. Nachdem er Meßgeräte, Helm und Anzug sorgfältig in den verschließbaren Schrank zurückgelegt hatte ließ er sich schnaufend in die Sitze der Draisine fallen und schob den Fahrthebel nach vorn. Ratternd nahm das kleine Vehikel erneut seine einsame Fahrt durch die unterirdischen Tunnellabyrinthe auf. Während es dahinrollte überlegte sein Passagier, ob er noch einen Abstecher zum Flughangar und LKW-Stollen machen sollte, verschob das Vorhaben aber schließlich auf den nächsten Tag.

Die Tür im Fels

Pawlek durchstieg vorsichtig den brüchigen Schutt am Grunde des schmalen Seitentales, bemüht, keine unnötigen Geräusche in der ruhigen Gebirgsnacht zu verursachen. Links und rechts wuchsen dichte Tannen zum nachtdunklen Himmel. Nur dem silbernen Mondschein war es zu verdanken, daß er nicht die mitgebrachte Lampe einsetzen mußte. Ab und an tauchten hellgraue Gesteinsflächen zwischen den Bäumen an den steilen Hängen auf, dann wieder die mächtigen Brocken gesprengter Bauten. Leise fluchend bahnte er sich noch etwa zehn Minuten den unsichtbaren Weg durch ein immer dichter werdendes Unterholz und Geröll in dem dunklen Grund.

Die Hänge und Bäume rückten schließlich immer enger zusammen, als er endlich die gesuchte Stelle erreicht hatte. Hier schloß sich das schmale Seitental des Steinberges in einer hohen Wand aus ebenfalls waldbestandenen, grauen Felsen. Es ging eigentlich nicht mehr weiter. Die namenlose Schlucht endete übergangslos am steilen Anstieg der rauhen Berghänge. Verschnaufend setzte sich Pawlek auf einen der umwucherten Felsbrocken und schaute auf das leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr: noch eine Viertelstunde bis Mitternacht. Erschrocken fuhr der einsame Wanderer zusammen, als plötzlich ein großer Nachtvogel mit rauschendem Gefieder dicht über die nahen Baumkronen strich. Mißtrauisch beobachtete er die ihm unheimliche Umgebung. Im Dämmerlicht des Mondes fühlte er sich hier alles andere als wohl. Ganz in der Nähe befand sich zudem noch der damals heimlich zugesprengte Stollen mit den toten Ukrainern, die in einem stinkgeheimen Abschnitt gearbeitet hatten. Man richtete kurz darauf den gesamten oberen Seitentalabschnitt wieder so her, daß alles völlig naturbelassen wirkte. Fremde würden hier einstige menschliche Eingriffe nie auch nur im Entferntesten vermuten.

Endlich war es soweit. Ein leises, kaum wahrnehmbares Pfeifen drang aus der tannenbestandenen Felswildnis der nahen Bergwand. Daraufhin stand Pawlek sofort auf und leuchtete sich kurz mit der Lampe selbst an.

„Nun komm schon her!“ krächzte die bekannte Stimme Hahnfelds aus der Dunkelheit ihm entgegen. Mit unsicheren Schritten auf dem umherliegenden Gesteinsschutt näherte sich Pawlek dem geheimen Zugang. Da wurde er noch mal blitzschnell mit einem starken Handscheinwerfer angestrahlt.

„Was soll das“! entfuhr es ihm erschrocken und verärgert.

„Ich muß doch sehen, ob auch alles in Ordnung ist, du Narr. Sicher ist sicher.“ Hahnfeld erfaßte ihn grob am Oberarm und beförderte ihn schnell und unsanft in das dunkle Mannluk hinein. Beunruhigt sah der Besucher des Kommandanten eine dunkle Waffe in dessen Hand glänzen. Sogar der Finger war am Abzug gewesen ...

„Ich kann nichts dazu, wenn hier wieder plötzlich die Leute rumschleichen“, entrüstete er sich mit leisen Worten, nachdem sie den hinter dem Schott liegenden kleinen Raum betreten und das Außenluk sofort hinter sich verschlossen hatten.

„Jetzt setz dich erstmal hin und erzähle mir in Ruhe, was da plötzlich los ist.“ Hahnfeld gab sich seinem ehemaligen Adjutanten gegenüber wieder leutselig, steckte die Waffe weg, behielt ihn aber unentwegt scharf im Auge.

Dieser berichtete zuerst von dem unerwarteten Besuch bei sich im Dorf. „Und dann ist da noch etwas. Ich beobachte schon eine Weile zwei Typen, die früher auf der Baustelle III als Elektriker arbeiteten. Sie stammen aus dem Nachbarort. Anscheinend wollen die sich als Nachkriegsschatzgräber betätigen.“

„Was heißt hier Nachkrieg! Wir befinden uns noch immer im Kampf, du Idiot!“ blaffte Hahnfeld scharf zurück. „Du weißt wohl nicht mehr, worum es hier geht?“ wobei seine Hand in Richtung der hinter ihn liegenden Felswand deutete, in der eine massive Stahltür Zugang ins Innere des Berges verhieß. „Und wenn da irgendwelche Saupolen versuchen in unserem Dreck zu schnüffeln ...“, seine Stimme wurde leise und gefährlich. „Dann wirst du umgehend dafür sorgen, daß es das letzte Mal war. Aber bitte so, daß es sich in euren Käffern weit umherspricht. Und was den Kerl betrifft, der da bei dir auftauchte. Das scheint nicht ganz ohne zu sein. Da überlege ich mir was. Sag‘ sofort Bescheid, wenn der wieder erscheint, und sieh dir in den nächsten Tagen mal unauffällig die Gegend an. Mach eine Patrouille in die Berge, der war sicher mit einem Auto da. Suche nach Spuren. Aber vorerst nichts gegen den Mann unternehmen. Ich möchte wissen, was da bloß auf einmal losgeht. Die beiden Schatzsucher, wie du sie nennst, verschwinden mir schnellsten - verstanden!?“.

„Ich kann sie nicht einfach auf offener Straße über den Haufen schießen“, entgegnete Pawlek. „Da müßte ich sie schon in den Bergen oder den Ruinen selbst abpassen können.“

„Das ist mir schon klar. Du mußt eben aufpassen. Wenn du sie festgestellt hast, dann wirst du wohl wieder ihre Spur aufnehmen können. Hast du eine Ahnung, wo die sich rumgetrieben haben?“

„Sie müssen auf den Hochflächen des Berges rumgekrochen sein. Jedenfalls haben sie abends in der Dorfkneipe mal so was gucken lassen. Die Deutschen hätten wohl eine Menge Lastwagen im Berg verschwinden lassen, und die wollten sie finden.“

„Das schlägt dem Faß den Boden aus! Diese polnische Schweinebande! Nächstens gibt es wohl ganze Sonntagsausflüge über meinem Kopf!“

Hahnfeld erboste sich derart, daß Pawlek sich beeilte, ihm die mitgebrachte Verpflegung, Rauchwaren, Zeitungen und noch einige andere Bestellungen auf den Tisch zu packen. Als der Rucksack leer war, hatte sich sein Gegenüber in der makellos schwarzen Uniform wieder etwas gefangen.

‚Nun gut, mit so etwas war zu rechnen. Anscheinend hat die abschreckende Wirkung nachgelassen, die die an den Wegen ins Gebirge aufgehängten Leichen der toten Waldarbeiter, Förster und Wilderer eine Zeitlang ausgeübt hatte‘, überlegte sich Hahnfeld.

„Wenn du sie nicht in den Bergen erwischst, sprengst du eines der Häuser der beiden! Ich alter Esel sitze hier schließlich nicht für einen Hundedreck im Berg, das dürfte dir wohl auch klar sein!“

Pawlek beeilte sich wiederum, das zu bestätigen.

„Ich halte die Augen offen und kümmere mich um die beiden, Kommandant“

„Das will ich auch stark annehmen. Nicht das sich das Geschmeiß noch eines Tages zum Kaffeetrinken bei mir anmeldet, ha, ha, ha ...“, Hahnfeld lachte trocken und humorlos. „Da würde ich doch eher die ganze Gegend hier in die Luft blasen ...“, setzte er mit eisigem Ton hinzu, daß es Pawlek eiskalt über den Rücken lief. Er schärfte seinem Besuch noch einige Sicherheitsregeln ein und erklärte ihm, daß ab sofort und bis auf Widerruf täglich eine Meldung via Draht in die Basis zu erfolgen habe. Dann durfte Pawlek sich auf seinen einsamen Rückweg durch das Gebirge machen.

Mit einem dumpfen Laut klappte hinter ihm das schwere Außenschott zu. Er hätte schon Sekunden später Mühe gehabt, die Stelle in der nächtlich-dunklen Felswand wieder zu lokalisieren, wo es sich gut getarnt verbarg. Während Hahnfeld die von außen mit dickem Felsgestein und robustem Trockengras verblendete Stahltür im Inneren wieder mehrfach fest und sicher verriegelte, tappte Pawlek vorsichtig den schmalen Grund der Schlucht zurück.

Wind kam auf und graue Wolkenfetzen verschleierten das Bild des Mondes am zuvor sternenklaren Nachthimmel. Es wurde stockdüster, und der einsame Wanderer war froh, endlich wieder die Stelle zu erreichen, an der das enge Seitental sich in Nähe des ehemaligen Baustellengeländes allmählich erweiterte und schließlich hinter hohen Schutthaufen in alten, ausgefahrenen Wegen auslief. Selbst von hier aus war der Zugang oder gar die Existenz des schmalen Bergtales kaum erkennbar. Und wer von ihm und seinem Geheimnis nichts wußte, hätte es wohl kaum entdeckt.

Hahnfeld, der alte Fuchs, hatte sich wirklich gut verschanzt in der unterirdischen Festung, ging es Pawlek durch den Kopf, während er weiter Richtung eines Talweges lief. Auf wessen höhere Anweisung Hahnfeld dort noch die Stellung hielt, darüber wollte er lieber nicht nachdenken.

Hatte der Kommandant ihm doch nicht unmittelbar nach Ende der offiziellen Kampfhandlungen unverblümt eingeschärft, daß es nur noch diese eine Personenschleuse gäbe. Und selbst wenn er, Pawlik, diese, unter welchen Umständen auch immer, verriete, gäbe es kein Hineinkommen in die Basis - und sei ein ganzes Regiment draußen aufgestellt. Dafür sorge ein über hundert Meter langer Tunnel, der alleine die kleine Außenschleuse mit den inneren Systemen verbinde. Dieser sei mit Sprengladungen geradezu gespickt. Bei Fremdeinwir-kung würde der Gang auf einen Schlag über hundert Meter weit völlig zugesprengt, und gleichzeitig täten automatische Werfer den Talgrund mit Kampfmitteln bestreichen, die dort und in der Umgebung keine Maus mehr am Leben ließen ...

„Nur zur Information, falls du einmal auf falsche Gedanken kommen solltest“, hatte sein Chef damals gefährlich leise geknurrt.

Pawlek nahm dies als Tatsache hin. Er ging sogar noch weiter. So war er fest überzeugt, sollte der Gegner ernsthaft versuchen, auf die sensiblen Anlagen im Berg zuzugreifen, käme es zu einer unvorstellbaren Katastrophe für den ganzen Landstrich. Der heisere Schrei eines Waldkauzes schreckte ihn aus seinen Gedanken auf und ließ ihn wieder mehr auf den schmalen, wuzelübersäten Waldweg achten, der ihn hinab an die Bergausläufer führte.

Unerwartete Neuigkeiten

Wolf, wieder in der Kleinstadt vorm Gebirge angekommen, stellte den Wagen in der kleinen Hotelgarage ab und begab sich an die Rezeption. Das Vestibül des Hauses, das in einer belebten Straße des Zentrums stand, hatte schon bessere Zeiten gesehen. Aber noch immer atmete es den Flair vergangener Pracht. Dunkel glänzten die Möbel, dicke, staubige Teppiche bedeckten den Boden, und an der Decke hing ein messinfarbener Kronleuchter, der allerdings, nur mit wenigen Glühbirnen versehen, ein eher trübes Licht in die kleine Halle warf. Es roch nach verwelkten Blumen und etwas nach Küche. Durch die knarrenden Flügeltüren zum Eingangsportal drang gedämpfter Straßenlärm hinein. Wolf ließ mehrfach eine kleine Glocke schellen, bis endlich der Portier kam. Dieser händigte ihm seinen Zimmerschlüssel aus und nahm die Bestellung eines Ferntelefonates entgegen, denn Wolf mußte unbedingt Meurat erreichen. Dann ging er auf sein altmodisch, aber recht gemütlich eingerichtetes Zimmer. Dort legte sich auf das breite Bett und schlief bis zum späten Nachmittag. Aufgestanden erfrischte er sich und erledigte er einige Einkäufe. Die Liste dazu hatte er noch während einer kurzen Rast auf der Rückfahrt angefertigt. Auf dem verschlissenen Parkettboden des Zimmers lagen nun ein starkes Bergsteigerseil, eine stabile Brechstange und noch einiges anderes Werkzeug

„Bleiben Sie vor Ort, es gibt unerwartete Neuigkeiten. Sie bekommen umgehend eine Karte. Ich sende sie heute noch ab“, gab sich der Anwalt etwas hektisch, als Wolf ihn nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich gegen Abend an den Apparat bekam. Um was es sich handelte, wollte er am Telefon offenbar nicht sagen. Das ging in Ordnung. Es war für so einen Fall entsprechend vereinbart. Genauso wie die Sendung einer unverfänglichen Ansichtskarte mit lieben Grüßen an einen alten Bekannten. Mit dieser konnte ein Uneingeweihter absolut nichts anfangen. Und nichts war bekanntlich geheimer, als eine Ansichtskarte per Post. Erst ein einfacher, willkürlich und im Voraus festgelegter Zahlenschlüssel ließ dann die wirkliche Nachricht erkennen.

Der Kurier kam nach telefonischer Voranmeldung in die Frankfurter Kanzlei. Meurat hatte seine Sekretärin für diese Zeit zu Besorgungen in die Stadt geschickt. Der Mann erschien auf die Minute pünktlich und übergab ihm im Vorraum einen schmalen, versiegelten Umschlag. So schnell wie er gekommen war, verschwand der Bote auch wieder, so daß Meurat, selbst wenn er es gewollt hätte, kaum etwas über seinen Besucher hätte sagen können. Nervös öffnete er das Schreiben. Zu seiner Überraschung enthielt es Anweisungen, eine kleine Gruppe Männer mit entsprechenden Papieren auszustatten und ihnen so baldigst den Weg ins Eulengebirge zu ebnen. Diese Gruppe, das ahnte Meurat, hatte zweifelsohne eine sehr wichtige Aufgabe bei seiner Ankunft wahrzunehmen. Irgendetwas tat sich plötzlich in den fernen Bergen. Das konnte eigentlich nur bedeuten, daß die Anlage endgültig geräumt wurde. Die manifestierte politische Situation im Nachkriegseuropa gestattete wohl keine andere Entscheidung. Sicherlich waren in der Gebirgsbasis noch etliche Dinge deponiert, eigentlich für eine ganz andere Zukunftsvision vorgesehen. Einige Andeutungen in dieser Richtung hatte schon ein ehemaliger Mitarbeiter Meurats gemacht, mit dem er sich ab und an in einem Kaffeehaus der Frankfurter Innenstadt traf. Natürlich wußte der Anwalt auch mehr, als er gegenüber Wolf offenbart hatte. Das der Stützpunkt im Eulengebirge aber gerade jetzt wieder ins Blickfeld der für ihn Verantwortlichen rückte, damit hatte er keineswegs gerechnet. Und eben ausgerechnet jetzt machte sich der Sohn seines alten Kameraden dort zu schaffen. Ein schrilles Läuten riß Meurat aus den Gedankengängen. Ein Klient rief an und führte ihn wieder in seine ebenfalls so notwendigen Alltagsgeschäfte zurück. Doch im Hinterkopf des ergrauten Anwaltsschädels zogen sich weiter düstere Gedanken zusammen.

Die Karte war angekommen. Wolf hatte sie zwei für ihn verlorene Tage lang mehr als ungeduldig erwartet. Die Entschlüsselung des kurzen Textes bereitete ihm keine große Mühe. Sein Erstaunen über den Inhalt war dann jedoch mehr als groß. Das war nichts Angenehmes, was er da mitgeteilt bekam. Kurz und bündig hieß es: „Beeile Dich, das Objekt wird geräumt und verschlossen!“ Was, in Gottes Namen, hatte dies zu bedeuten? Sollte er seine gerade begonnenen Erkundungen gleich abbrechen und zurückreisen? Wollte Meurat ihn scheu machen? Hatte der Anwalt sich irgendetwas anders überlegt? Doch was Wolf sich in seinen Kopf gesetzt hatte, gab er so schnell nicht wieder auf. Im Gegenteil, nun waren seine Neugier und Tatendrang erst richtig angestachelt. Er würde dennoch versuchen, mit Frankfurt telefonisch Kontakt aufzunehmen. „Da muß schon ein wenig mehr gesagt werden, alter Freund“, murmelte er vor sich hin, während er die billige Ansichtskarte verbrannte und anschließend die Asche im Abfluß des Duschbeckens spurlos entsorgte. „Und morgen in aller Frühe geht‘s wieder ins Gebirge ...“ Dann verließ er das Zimmer und stieg durch das knarrende Treppenhaus hinab ins Restaurant, um dort sein frühes Abendbrot einzunehmen.

Nachdem der Kaffee von demselben einsilbigen Kellner im staubigen Anzug gereicht wurde, der schon das Essen auftrug, machte sich Wolf an die Planung für den nächsten Tag. Er fühlte sich ausgeruht und frisch. Am liebsten wäre er sofort aufgebrochen. Doch draußen vedichtete sich jetzt die Dunkelheit im Gebirgsvorland. Auf einer hellen Serviette skizzierte er sich kurz den Ablauf des kommenden Tages.

Das beschaffte Werkzeug und die anderen Hilfsmittel dürften genügen, die eiserne Tür an der alten Wasserzisterne zu öffnen und in die zu erwartende dunkle Tiefe vorzudringen. Allerdings hatte er dann das Problem, nicht den Weg von Anfang an verfolgen zu können, wie ihn sein Vater auf dem Plan vorgab.

Er würde nicht sofort wissen, wo genau er sich in den unterirdischen Systemen befände, wenn er über das versteckte Luk in sie eidrang. Auf jeden Fall mußte er den langen Haupttunnel suchen, dessen Tor draußen an der Felswand zugesprengt war. Gelang ihm dieses Kunststück, dann sah es schon freundlicher aus. Er bräuchte dann eigentlich nur den Einzeichnungen der Karte zu folgen. Das dies aber lange nicht so einfach werden würde, wie er jetzt am abendlich erleuchteten Hoteltisch plante, schwante ihm jetzt schon mehr als deutlich. Aber es half nichts. Eile schien plötzlich geboten zu sein.

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