Das Feuerdrama von Cottbus

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Erna Stricker wird auf die Intensivstation des Bezirkskrankenhauses gebracht. Sie überlebt.

Drei schwere Verbrechen aus sexuellen Motiven innerhalb eines Dreivierteljahrs in einer begrenzten Region –

doch Zusammenhänge werden von den Ermittlern noch immer nicht erkannt. Wie überall nach der Wende in der DDR sind auch bei Justiz und Polizei gut funktionierende Strukturen zerbrochen und neue sind erst im Aufbau.

So tickt die Zeitbombe ungestört weiter. Wolfgang Schmidt hat regelmäßig Sex mit seiner Verlobten, die beiden jungen Leute sind dabei durchaus experimentierfreudig. Doch innerlich befriedigt ist der Mann nicht. Seine Phantasievorstellungen werden nicht erfüllt. Beim psychiatrischen Gutachter bekennt er später: »Der Drang, es endlich zu einer Erfüllung zu bringen, der wurde immer größer und immer stärker, deswegen denn ooch die Zeiten zwischendurch immer kürzer. Ick hab det ja manchmal kaum vierundzwanzig Stunden zu Hause ausgehalten.«

Ist seine Verlobte Moni aus dem Haus und auf Arbeit, schwingt sich der »Rosa Riese« aufs Fahrrad oder Moped. Es drängt ihn in den Wald zu seinen Wäschedepots, auf Müllkippen, um die Sammlung seiner »Schätze« zu vergrößern. »Je mehr Wäsche, wie ick gefunden habe, desto größer waren manchmal ooch die Gefühle«, gibt Schmidt zu. Er legt seine Männerkleidung ab und schlüpft in die von ihm geliebte Frauengarderobe. Darin geht er stundenlang spazieren und lebt in seiner anderen, emotional transvestitisch geprägten Welt. Er ist vorsichtig, sucht nie ein zweites Mal die Orte seiner Taten auf.

Mittwoch, 13. März 1991.

Tat vier: Mord an Ilse Förster

Der »Rosa Riese« ist wieder unterwegs. Kurz hinter Borkheide, einer Gemeinde zwischen den Städten Beelitz und Bad Belzig gelegen, biegt er mit seinem Moped in einen Waldweg ein. In der Waldschonung ist er ungestört. In Slip, ausgestopftem BH, rosa Rock und einer Bluse fühlt er sich wohl. Es kribbelt, pornografische Bilder formen sich im Geist. Sein Glied ist steif, die Erektion lässt nicht nach. Er wünscht sich eine Frau, mit der er den Sexualtrieb befriedigen kann. Gegen 17.30 Uhr läuft ihm die vierunddreißig Jahre alte Ilse Förster über den Weg, die bei einer Freundin zu Besuch war und nun nach Hause will. Er fällt über sie her, würgt die sich heftig wehrende Frau und rammt ihr sein mitgebrachtes Fahrtenmesser mehrfach in Hals und Körper. Die junge Frau verblutet. An den Fußgelenken zerrt er das Opfer zehn bis fünfzehn Meter weit in eine angrenzende Kiefernschonung, entkleidet es und zieht ihm ein blaues Bikinioberteil an. Dann vergeht er sich an der Toten anal und oral. Derart sexuell befriedigt, durchsucht er anschließend den Beutel von Ilse Förster und entwendet aus dem Portemonnaie 10 Mark. Er deckt das Opfer mit Gras und Moos ab. Dessen Bekleidungsstücke und auch die von ihm getragene Intimwäsche sowie den Damenrock legt er wie ein Ritual um die Leiche. Er schlüpft in seine eigene Bekleidung und fährt nach Hause zu seiner Moni.

Auch dieser Mord wird von der Polizei als Einzeltat behandelt. Die Bevölkerung ist aufgeschreckt. Mädchen und Frauen trauen sich kaum noch in die Wälder oder in verlassene Gegenden. Dem »Rosa Riesen« bleibt das nicht verborgen. Ihm fällt es immer schwerer, Opfer zu finden, mit denen er seine gefährlichen sexuellen Veranlagungen ausleben kann. Doch es gelingt ihm immer noch.

Freitag, 22. März 1991.

Tat fünf: Mord an Irina Maschenkowa und

Igor Maschenkow

Nur eine reichliche Woche nach dem Mord an Ilse Förster führt der Zwang, seine schier nicht zu befriedigende sexuelle Gier, den »Rosa Riesen« in einen Wald südwestlich der Ortschaft Beelitz-Heilstätten. Dort trifft er auf Irina Maschenkowa, die mit dem Kinderwagen unterwegs ist, in dem Igor, ihr drei Monate alter Säugling, satt und zufrieden in der erfrischenden Waldluft schläft. Sie ist Russin, ihr Mann dient bei der russischen Armee, die noch nicht vollständig vom Territorium im Osten Deutschlands abgezogen ist.

Der »Rosa Riese« ist, natürlich wieder als »sexy Frau«, auf das Äußerste erregt. Irina hat gegen den Mann, der ihr an Kraft und Körperbau gewaltig überlegen ist, keine Chance. Ehe sie die Gefahr auch nur erahnen kann, umfassen seine kräftigen Hände ihren Hals und drücken zu. Irina wehrt sich verzweifelt. Da dem Mann die »Hände schmerzten«, wie er später zugab, nutzt er einen mitgebrachten Büstenhalter zum Strangulieren und zieht ihn so lange zu, bis die Frau und Mutter tot zu Boden fällt. Igor wird durch den Kampf auf dem Waldweg aus dem Schlaf gerissen und tut das, was ein Säugling nur machen kann: Er schreit, was seine kleinen Lungen hergeben. Es sind Schreie, die für das Baby den Tod bedeuten. Der Mörder schiebt, aus Angst vor Entdeckung, den Kinderwagen ein paar Meter weiter weg in eine Kiefernschonung, nimmt den Jungen heraus und wirft den winzig kleinen Knaben aus Schulterhöhe mit Wucht auf den Boden. Dort trifft das kleine Köpfchen auf einen Baumstamm. Die Schreie verstummen sofort. Schmidt will das später nicht zugeben, sagt, dass der Säugling aus dem umgestürzten Kinderwagen gefallen sei. Das Brandenburgische Landesinstitut für Rechtsmedizin nennt im Ergebnis der Obduktion eine »massive stumpfe Gewalteinwirkung auf den Schädel mit schwerem geschlossenem Schädelhirntrauma« als Todesursache.

Zur Besinnung hat das Geschehene den Täter nicht gebracht. Er befriedigt sich an der toten Irina Maschenkowa, deckt die Leiche mit Kiefernzweigen ab und fährt nach Hause.

Einen Tag nach dem Verschwinden von Irina Maschenkowa und Baby Igor startet ein Trupp russischer Soldaten eine Suchaktion. Sie entdecken die Leichen der Gesuchten. Der Kinderwagen, der sich fünfzig Meter neben dem Waldweg befindet, ist umgestürzt. Drei Meter davon entfernt liegt der kleine Junge. Zehn Meter davor finden die Soldaten die mit gefällten Kiefern bedeckte Leiche der Frau. Deren Oberbekleidung ist aufgerissen, der Unterkörper ist nackt.

Freitag, 5. April 1991, 17.30 Uhr.

Tat sechs: Versuchter Mord an Sandra Kurzweg

und Sandra Wichert

Die Spirale der Gewalt und des Todes dreht sich inzwischen rasend schnell. Nach dem Doppelmord an Irina Maschenkowa und ihrem kleinen Igor ist Wolfgang Schmidt wieder unterwegs. Am Vormittag hat er sich bei verschiedenen Betrieben im Industriegebiet in Potsdam und in Drewitz erfolglos um Arbeit beworben. Zu Fuß macht er sich in Richtung Sputendorf, einem Ortsteil von Stahnsdorf, auf den Weg. Auf verschiedenen Müllkippen ist er fündig geworden. Wäschestücke und Kataloge mit bunten Bildern von Frauen in Dessous sind seine Ausbeute, die er – gut in Säcke verpackt – in eine Kiefernschonung schleppt, wo er sich ein neues »Lager« einrichtet.

Im Anschluss an die »schwere Arbeit« will er sich Erleichterung und Genuss verschaffen. Er entkleidet sich und zieht die neu »erworbenen« Kleidungsstücke über, die er zuvor mit seinen Exkrementen besudelt hat: einen BH, einen Damenslip, eine lilafarbene Jogginghose, einen Pullover und eine Kittelschürze, in deren Tasche er ein Küchenmesser steckt. So bekleidet und sexuell hoch erregt, durchforstet er das Unterholz. Nun ist Wolfgang Schmidt wieder der »Rosa Riese«, der sich schon lange wünscht, mal mit zwei Frauen Gruppensex zu haben.

Und er handelt so. Es ist 17.45 Uhr, als er weibliche Stimmen vernimmt. Es sind die von Sandra Kurzweg und Sandra Wichert. Die zwölfjährigen Mädchen wollen sich ein totes Reh ansehen, das dort in der Nähe liegen soll. Dazu kommt es nicht. Der als Frau verkleidete Täter stürmt aus dem Unterholz und stürzt sich auf sie. Er holt sofort das Küchenmesser aus der Kittelschürze und rammt es Sandra Kurzweg in den Bauch. Das Mädchen ist allerdings zu flink für den Mann. Es kann sich aus der Umklammerung befreien und entkommt in Richtung der Rieselfelder, in denen Abwasser versprüht werden und wo es mächtig stinkt. Auch Sandra Wichert wehrt sich heftig gegen den »Räuber«, der sie von hinten würgt und ihr mit dem Messer in den Bauch und in die Brust sticht. Dennoch kann auch sie entfliehen, weil der »Rosa Riese« plötzlich von ihr ablässt. Er hat erkannt, dass er diesmal sein perverses Verlangen nicht erreichen kann, und nimmt Reißaus in dichte Kiefernschonungen.

Freitag, 5. April 1991, 21.45 Uhr.

Tat sieben: Mord an Margarete Schneller

Nach der Flucht der beiden Mädchen, die für den Täter ein Desaster mit allerhöchster Gefahr ist, irrt der »Rosa Riese« durch den Wald, den er bei Rehbrücke verlässt. Vom dortigen Bahnhof aus fährt er mit dem Zug nach Beelitz-Heilstätten. Dann macht er sich mangels eines direkten Anschlusses zu Fuß auf den Weg zum Wohnort seiner Verlobten. Der führt ihn vorbei an einem in die Jahrzehnte gekommenen Einfamilienhaus. Das Anwesen sieht unbewohnt aus. Mit einem Brikett, das in der Gegend liegt, schlägt er im Erdgeschoss eine Scheibe ein und gelangt in die Küche. Bei der Suche in der unteren Etage entdeckt er im Wohnzimmer einen Schrank. Seine sexuelle Erregung ist noch immer nicht abgeklungen und steigert sich ins »Wahnsinnige«, als er im Schrank eine Damenunterhose und ein Mieder findet. Im Obergeschoss hängen auf einer Leine neben anderer Wäsche ein BH und ein Unterrock. Was für eine Beute! Als er das Haus verlassen will, vernimmt er Geräusche. Sie kommen von der sechsundsechzig Jahre alten Rentnerin Margarete Schneller, die in ihrem Schlafzimmer aufgeschreckt von dem Einbrecher auf ihrer Liege sitzt. Das Entsetzen der alten Frau steht auch Wolfgang Schmidt ins Gesicht geschrieben. Nach der Flucht der Mädchen soll es nicht noch eine weitere Zeugin geben. Schmidt würgt die alte Dame erst mit beiden Händen. Als die Kraft in seinen Fingern nicht ausreicht, erdrosselt er sein Opfer mit einem langärmeligen Unterhemd. Er schneidet das Nachthemd der Frau über der welken Brust auf, entkleidet sich, manipuliert nackend mit einer Kerze an seinem Opfer herum und erleichtert sich durch Geschlechtsverkehr mit der vermutlich schon toten alten Dame. Schmidt zieht seine Männerbekleidung an und lässt die von ihm getragene Unterwäsche und die manipulativ benutzte Kerze neben dem Leichnam zurück.

 

Nach diesem Verbrechen fahndet die Polizei, die endlich eine Sonderkommission gebildet hat, nach dem Serienmörder. Nach Angaben der beiden geflüchteten Mädchen wird ein Phantombild erstellt. Allerdings ist es, was die Haarlänge angeht, nicht korrekt. Wer wollte es den Kindern verdenken. Auch Schmidt sieht die Fotos, doch er ist sich sicher, dass er nicht der »Rosa Riese« sein kann, der so Schreckliches getan hat. In seiner Phantasie hätten die Frauen alle noch gelebt, alles auch mitgemacht bis zu seiner Erregung, wird er später dem Gutachter sagen.

Die öffentliche Fahndung zeigt Wirkung. Die Mordserie reißt ab. Zwar treibt sich der »Rosa Riese« – stets weiblich gekleidet – weiter in den Wäldern herum, doch Frauen, mit denen er seine abnormen sexuellen Vorlieben befriedigen kann, findet er nicht mehr. Keine Frau traut sich mehr in die Wälder um Beelitz.

Letztlich hilft »Kommissar Zufall«, den »Rosa Riesen« zu fassen. Am 1. August 1991 entdecken zwei Freizeitsportler, die durch den Wald joggen, einen Mann, der onaniert und dabei rosafarbene Frauenfetische trägt. Sie überwältigen ihn und bringen ihn zur Polizei.

Der »Rosa Riese« gesteht noch am Tag seiner Verhaftung die Taten.

Das Landgericht Potsdam verurteilt Wolfgang Schmidt im November 1992 wegen Mordes im Zustand verminderter Steuerungsfähigkeit zu fünfzehn Jahren Haft und weist ihn in eine geschlossene psychiatrische Anstalt, in den Maßregelvollzug, ein. Dort sitzt er noch immer.

Ihm wird später eine hormonelle Geschlechtsumwandlung und eine Namensänderung zugestanden.

Mord in der Nervenklinik

Eigentlich klingt alles wie eine Romanze zweier Menschen, die sich lieben und sich begehren. Beide, Hanna Rose und Hans Reger, sind sechsundzwanzig Jahre alt und kennen sich jetzt, im Februar 1981, ein gutes halbes Jahr. In Briefen haben sie sich ihre gemeinsame Zukunft in den schönsten Farben ausgemalt, davon geträumt, Ehefrau und Ehemann zu sein, vielleicht einmal Kinder zu zeugen und sie aufzuziehen. Sogar eine Heiratsurkunde hat sich Hans Reger anfertigen lassen, keine standesamtliche, die den Bund der Ehe als vollzogen anerkennt, sondern eine, die ein Bekannter auf einem Blatt Papier gemalt und geschrieben hat. Hanna und Hans betrachten sich fortan als Ehepaar. Die Briefe, die sie sich schreiben sind voller wortreicher Liebesbeteuerungen. Sex spielt in den Briefen auch eine Rolle. Den aber wollen sie sich aufheben für bessere Zeiten.

Die Realität ist alles andere als romantisch. Hanna Rose und Hans Reger leben aufgrund von schizoider Erkrankungen in der Nervenheilanstalt in Neuruppin. Hans Reger ist sogar in geschlossenen Abteilungen untergebracht, so dass Händchen halten und Küss-chen austauschen zwischen den »Eheleuten auf dem Papier« bisher nur durch Gitterstäbe möglich war.

Hans Reger ist das jüngste von drei Kindern der Familie Reger. Als er in Hohen Neuendorf im Kreis Oranienburg das Licht der Welt erblickt, sind seine Eltern nicht mehr die Jüngsten. Hans, um den sich vor allem die Oma kümmert, ist ein schwieriger Junge. Schon mit sieben oder acht Jahren geht er mit dem älteren Bruder und anderen Burschen auf Diebestour, vor allem Zigaretten und Wein sind begehrtes Diebesgut der Clique. Sonderschule, Spezialkinderheim und Jugendwerkhof sind ab der vierten Klasse sein wechselndes Zuhause. Es folgen Haftstrafen wegen Diebstahls und Brandstiftung und schließlich die gerichtliche Einweisung in die Neuruppiner Nervenklinik. Kaum aus der geschlossenen Abteilung im »Keller« entlassen, in der er als arbeitstherapeutische Behandlung Preisschilder und Kalender anfertigt, nutzt er die größeren Freiheiten erneut für Diebstähle und Ausbrüche, was ihm zunächst wieder den »Keller« einbringt. Und so kommt es, dass zwischen den Küsschen, dem Händchenhalten und auch sexuellen Berührungen am Geschlechtsteil zwischen Hanna, die in der Klinik als Diätköchin arbeitet, und Hans lange Zeit immer Gitterstäbe sind.

Dieses Getrenntsein soll ab dem 2. Februar 1981 ein Ende haben. Hans Reger darf aus dem »Keller« wieder in die Hofgruppe, die ihm größere Freiheiten ermöglicht. Die Erwartungen sind groß, erst recht nach dem letzten Brief seiner Geliebten. Der ist mit sexuellen Anspielungen, mit gezeichneten Symbolen und der Beschreibung von Träumen gespickt und mit dem Satz abgeschlossen: »Ich halte es kaum noch aus.«

Hans Reger hält es auch »kaum noch aus«. Die Verliebten nutzen die neu gewonnene Bewegungsmöglichkeit und streben unbeirrt das Kesselhaus der Anstalt an. Unter den Klinikinsassen ist es bekannt als Ort, an dem man ungestört kuscheln kann. Hans und Hanna küssen sich, sie lässt sich an die Brust fassen, die er mit Genuss tätschelt, und als Hanna ihre Hosen an den Beinen herunterrutschen lässt, streichelt er seine »Ehefrau« zwischen den Schenkeln. Zum Geschlechtsverkehr kommt es nicht, der soll, wie besprochen, erst nach der Entlassung aus der Nervenklinik in romantischer Umgebung vollzogen werden. Hans Reger ist dennoch glücklich, dass er sich mit seinem Mädchen richtig treffen kann und sie ihm mit der begrenzten Hingabe zeigt, dass sie sich wirklich nach ihm sehnt und ihn liebt. Reger glaubt, dass die intimen Anspielungen auf dem Briefpapier schon sehr bald und auch hinter Klinikmauern Wirklichkeit werden könnten.

Zufrieden verabredet sich das Paar für den nächsten Tag. Hans Reger holt seine Hanna um 13 Uhr von ihrer Arbeit in der Diätküche ab. Sie trinken Kaffee und sind bis 14 Uhr zusammen. Während Hanna frei hat, muss Hans noch bis 15.45 Uhr arbeiten und dann sofort nach Arbeitsschluss im Zimmer seines Klinikhauses sein. Er bittet die Arbeitstherapeutin, schon um 15 Uhr gehen zu können. Die aber lehnt ab. Es gelingt ihm trotzdem, etwas früher zu verschwinden. Bereits beim Abholen zum Kaffee war Reger nach dem aufreizenden Zusammensein am Vortag eine merkwürdige Zurückhaltung seiner Geliebten aufgefallen. Sie war still und reserviert, irgendwie verändert. Und sie bleibt es. Er kann sich ihr Verhalten nicht erklären, zumal sie auf seine drängenden Fragen keine Antworten gibt. Woher soll er wissen, was anderen bekannt ist: dass seine Hanna in der Vergangenheit öfter Beziehungen zu Männern angeknüpft hatte, die in geschlossenen Häusern untergebracht waren. So abgesichert konnte sie sexuelle Gedanken und Phantasien entwickeln, ohne sie in der Praxis erleben zu müssen, wie in einem ärztlichen Gutachten festgehalten ist. Offensichtlich habe sie Angst und Hemmungen, mehr als nur Küsschen, Händchenhalten oder Streicheln an intimen Stellen zuzulassen oder den Geschlechtsverkehr durchzuführen. So erklärt sich auch ihr Beharren darauf, die intimste Beziehung zwischen Frau und Mann erst außerhalb der Nervenklinik zu billigen.

Dennoch: Hanna und Hans gehen am Nachmittag des 3. Februar 1981 gemeinsam ins Kesselhaus, das Liebesnest der Klinikinsassen. Beide aber mit unterschiedlichen Gefühlen und Absichten. Auf der einen Seite der Mann, der »scharf« ist auf die Frau. Er will die angestauten Bedürfnisse und Erwartungen durch die rege Briefliebe der Vergangenheit und das kurze Zusammensein am Vortag jetzt erfüllen. Er kann nicht warten bis zur Entlassung aus der Klinik, die noch gar nicht abzusehen ist. Er ist überzeugt, endlich die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Mit ihr will er zum Höhepunkt sexueller Beziehung gelangen. Er will nicht ewig weiter – wie fast immer in seinem bisherigen Mannesleben – sich durch Selbstbefriedigung einen Orgasmus verschaffen. Hanna Rose dagegen ist innerlich nicht bereit, zuzulassen und zu vollziehen, was sie in den vergangenen Monaten so sexy beschrieben hatte mit dem Verlangen nach dem Manne. Die Realität aber fürchtet sie, und die rückt hier, in dem Kesselhaus der Nervenklinik, für sie gefährlich nahe.

In einem Nebenraum des Kesselhauses legt sich das Paar auf Salzsäcke, die dort für den Winterdienst gelagert sind. Das Liebesspiel beginnt wie am Vortag. Hans wird immer erregter und drängender, doch die Frau, die neben ihm liegt, ist viel passiver als zuvor. »Warum? Was ist los? Ich denke, du liebst mich, wir lieben uns?« Antworten bekommt er nicht von Hanna. Die Küsse erwidert sie noch, auch die Brust darf er anfassen. Als er jedoch mit einer Hand zwischen ihre Schenkel unter den Schlüpfer fährt, springt die von Hans so begehrte Frau plötzlich auf, ohne ein Wort von sich zu geben. Das Stoppzeichen, das sie damit setzt, ist allerdings nicht eindeutig genug. Will sie nicht, oder ziert sie sich nur? Man schmust weiter, und die Erektion des Mannes muss auch Hanna an ihrem Körper spüren. Ihre Reaktion auf sein Drängen nach Geschlechtsverkehr ist für Hans Reger schmerzhaft. Als er eine Hand der Geliebten an seinen geöffneten Hosenschlitz mit der freiliegenden Männlichkeit führt, fasst Hanna Rose zu – nicht liebevoll, sondern so energisch, dass der Schmerz der malträtierten Hoden ihm durch Mark und Knochen fährt. »Bist du verrückt, lass das«, stößt er hervor. Die Frau, die sich deutlich gegen den Geschlechtsverkehr entschieden hat, umklammert seine Hoden nur noch fester.

Statt die deutliche Zurückweisung zu akzeptieren, schlägt Hans Reger der sexunwilligen Frau mehrfach mit der Faust ins Gesicht. Wut, Schmerz und Enttäuschung bündeln sich in der Härte der Hiebe. Die Frau sackt zusammen und schlägt dumpf mit dem Kopf auf dem Boden auf. Der verhinderte Liebhaber scheint zur Besinnung zu kommen. »Hanna, was ist mit dir? Bitte schau mich an!« Auf sein Rütteln und Schütteln an Kopf und Armen gibt es keine Reaktion. Angst wegen der Misshandlungen paart sich nun mit Eifersucht und Wut darüber, dass Hanna Rose seine Zuneigung mit dem Hodengriff genauso abgewiesen hat, wie sie es schon zuvor bei anderen Männern getan haben soll. Er würgt sein Opfer mit beiden Händen und mit aller Kraft und transportiert es in eine Kuhle zwischen den Salzsäcken. Er zerfetzt wie von Sinnen die Kleidung der Frau, bis Ober- und Unterkörper vollständig entblößt sind. Wenn ich sie nicht habe, soll sie auch kein anderer bekommen, schießt es ihm durch den Kopf. Mit voller Wucht drückt Reger seine Knie auf ihren Bauch und manipuliert mit mehreren Fingern an und in ihrer Vagina. Voller Wut beißt er in ihre Brüste, in die Beine sowie ins Gesäß. Bei ihm kommt es dabei zum Samenerguss. Erst als Blut aus dem Mund des Opfers tropft, hält er inne. Er deckt Hanna, die auf dem Papier schon seine Ehefrau war, mit seinem Jackett ab, stürmt aus dem Kesselhaus und verlässt die Nervenklinik, ohne dass ihn jemand aufhält.

Die Flucht von Hans Reger ist schnell beendet. Nur einen Tag später wird er von der Polizei aufgegriffen und zurück in die Nervenklinik gebracht. Eine Streife hatte ihn erschöpft und müde auf dem Gelände eines Holzhandelsbetriebs in Neuruppin überrascht. Er hatte sich ein Schläfchen gegönnt. Der Abend und die Nacht waren schließlich anstrengend gewesen – mit sechs Straftaten durch Einbrüche in Bungalows und in eine Gaststätte in Neuruppin. Neben Geld waren Zigaretten, Schnaps und Wein sein Beutegut.

Zurück gebracht in die Nervenklinik, wird er nach dem Verbleib von Hanna Rose befragt. Die Liebschaft zwischen den beiden Sechsundzwanzigjährigen war nicht unbemerkt geblieben. Er gibt sich als Unschuldslamm, das von nichts etwas weiß.

Hanna Rose wird erst am 7. Februar 1981 von einem Wärter in dem mit Salzsäcken gefüllten Nebenraum des Kesselhauses gefunden. Einen Tag später erlässt das Kreisgericht Haftbefehl gegen Hans Reger wegen Mordverdachts.

Das Bezirksgericht Potsdam verurteilt ihn im November 1981 wegen Mordes und weiterer, von ihm während seiner Flucht begangener Verbrechen zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Jahren. Hemmungslos habe der Angeklagte das Leben des Opfers ausgelöscht, um seine egoistischen Ziele durchzusetzen, heißt es in der Urteilsbegründung. Strafmildernd wirkt sich die bei ihm diagnostizierte leichte Debilität aus.

Die Notwendigkeit für Festlegungen nach Verbüßung der Strafe sieht das Gericht nicht. Weiterer medizinischer Maßnahmen bedürfe es nicht, da schon bisher eine wesentliche Korrektur seines Verhaltens nicht erreicht werden konnte und Gleiches mit Wahrscheinlichkeit auch für die Zukunft zutreffen werde, lautet die fragwürdige Begründung.

Hans Reger verbüßte seine Strafe in der Justizvollzugsanstalt Bautzen. Das dortige Kreisgericht lehnte im Februar 1991 eine vorzeitige Entlassung ab. Ein Gutachter des Sächsischen Krankenhauses für Psy-

chiatrie war nach seiner Untersuchung zu dem Schluss gekommen, dass nach Verbüßung der Strafe eine Einweisung in ein geschlossenes psychiatrisches Pflegeheim dringend notwendig sei.

 
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