Theorien des Fremden

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4. Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel: Die VorgängigkeitVorgängigkeit des/der Anderen
4.1. Zeitlichkeit und AlteritätAlterität

Mit der Philosophie von Emmanuel Lévinas betreten wir einen Denkraum, der ganz von der IdeeIdee der AlteritätAlterität erfüllt ist und diese zum Kernbestand menschlicher Existenz macht. Diese Alterität ist im Sinne der AndersheitAndersheit (Kapitel 1) abstrakt gefasst, umfasst aber unterschiedliche Ebenen. Diese allgemeine Phänomenlage wird unter anderem von einer ganz konkreten Konfiguration überlagert, die mit der geschlechtlichen DifferenzDifferenz, also der prädikativen Verschiedenheit von MannMann und FrauFrau, zu tun hat. Darüber hinaus kommt mit dem TodTod ein existenzieller RahmenRahmen hinzu, der als ein „absolut Anderes“ in Bezug auf das LebenLeben bestimmt wird. Zwischen den Erscheinungsformen des ganz Anderen in Hinblick auf Leben und Tod gibt auch einen markanten Unterschied. Während sich nämlich die Begegnung mit dem geliebten anderen MenschenMensch im Horizont der ZeitZeit vollzieht, ist der Tod, der zwar etwas Anderes, aber kein Anderer im Sinne einer personalen Konfiguration ist, gewissermaßen deren NegationNegation.1

Der TodTod ist ein Ereignis, dessen das SubjektSubjekt nicht mächtig ist und durch das es seinen Subjektstatus einbüßt. Was das absolut Andere, der Tod, mit dem konkreten Anderen, etwa dem weiblichenweiblich, gemeinsam hat, ist, dass jeglicher Versuch, dieser AlteritätAlterität habhaft zu werden, sie besitzenBesitzen zu wollen, fehlschlagen muss. Diesen Umstand führt Lévinas in seinem ersten wesentlichen Buch, Die ZeitZeit und der Andere, zum Thema der alteritären Phänomenlagen aus. In der Auffassung, dass wir uns jenem mehrgestaltigen Anderen, das sich uns indes selbst an entscheidender Stelle entzieht, nicht entziehen können, liegt das spezifisch Neue in Lévinas’ Denken über das Alteritäre. Dabei lehnt es Lévinas zum Beispiel entschieden ab, eine PsychologiePsychologie oder SoziologieSoziologie von AndersheitAndersheit zu entwickeln. Ebenso wenig versteht er sein Konzept als eine FormForm von Moralphilosophie. Vielmehr entwirft er eine philosophische OntologieOntologie, die eo ipso, aus sich heraus, ethischEthik ist. Seine Konzeption will er keineswegs als eine praktische, angewandte Philosophie verstanden wissen: So läuft sein Kernargument darauf hinaus, gegen die abendländische TraditionTradition des Denkens, und konkret gegen HeideggerHeidegger, Martin zu postulieren, dass die menschliche Existenz selbst eine ethische Struktur besitzt.

4.2. Die Genese der Theorie von LévinasLévinas, Emmanuel und ihr Widerhall im Werk von Jacques DerridaDerrida, Jacques

Aus heutiger Sicht ist es kaum übertrieben zu behaupten, dass Emmanuel Lévinas (1906–1995) im Gefolge HeideggersHeidegger, Martin und HusserlsHusserl, Edmund das wohl bedeutsamste und mittlerweile einflussreichste Œuvre zum Thema des Anderen hinterlassen hat. ManMan, Paul de könnte sogar die TheseThese riskieren, dass sich die Wirkung seines Werkes erst nach seinem TodTod entfaltet hat. Die Anfänge seiner Überlegungen zur VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen als eine innere InstanzInstanz gehen, ähnlich wie jene KojèvesKojève, Alexandre und SartresSartre, Jean-Paul, auf die 1930 und 1940er Jahre zurück. Lévinas begann, wie so viele andere auch, seine philosophische Laufbahn als zunächst getreuer Schüler Martin Heideggers. So er hat auch an dem legendären Streitgespräch zwischen diesem und Ernst CassirerCassirer, Ernst in Davos über die ZukunftZukunft des HumanismusHumanismus teilgenommen. Dort wurde unter anderem über Cassirers Philosophie der symbolischen FormenForm und Heideggers SeinSein und ZeitZeit diskutiert, damit aber auch über KulturKultur und Humanismus. Es steht fest, dass der junge jüdische Philosoph aus Litauen zweifelsohne auf der Seite seines damaligen Lehrmeisters Martin Heidegger gestanden hat, dessen Philosophie auf die programmatische Überwindung des liberalen Humanismus zielt, mit dem er Cassirer identifizierte.1 Bei Lévinas’ später erfolgender Absetzung von Heidegger mag nicht zuletzt auch dessen Hinwendung zum NationalsozialismusNationalsozialismus, der sich freilich schon in seinem AntisemitismusAntisemitismus ankündigte,2 eine maßgebliche Rolle gespielt haben.3

Lévinas’ Philosophie hat zweifelsohne mit der Wiederentdeckung der jüdischen Geistestradition zu tun, etwa mit der IdeeIdee eines personalen GottesGott als eines Gegenübers. Sie ist, wie wir noch sehen werden, ein wichtiger Horizont für Lévinas’ Sicht des Anderen. Die Betonung des Ethischen als einer existenziellen Grundkonstellation des MenschenMensch stellt insgesamt eine philosophische AntwortAntwort auf den „Meister aus DeutschlandDeutschland“ und den fatalen politischen Kontext dar, in den HeideggerHeidegger, Martin selbst sein Werk zwischen 1933 und 1945 gestellt hat.4

Die nachfolgende, kommentierende Lektüre von LévinasLévinas, Emmanuel Werk stützt sich vor allem auf die folgenden Texte, die hier kurz skizziert sind. Es sind Texte von Lévinas und von Jacques DerridaDerrida, Jacques, der sich mehrfach zum Werk des Philosophen auf eine sehr textnahe und zugleich pointierte Weise geäußert hat:

 Die ZeitZeit und der Andere (Le Temps et l ’Autre, 1946/47) umfasst ursprünglich vier Vorlesungen, die Emmanuel Lévinas 1946/47 am Collège Philosophique im Quartier Latin gehalten hat. Der Text wurde 1948 als Aufsatz publiziert, erschien aber erst 1979 in Buchform auf Französisch und 1984 in deutscherdeutsch ÜbersetzungÜbersetzung.

 Ich und TotalitätTotalität erschien 1954 in der Revue de Métaphysique et de Morale, 1991 als Teil einer Essay-Sammlung Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre (bei Grasset), 1995 auf Deutsch unter dem Titel Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen.

 DerridasDerrida, Jacques wichtiger Aufsatz GewaltGewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas wurde 1967 auf Französisch und 1972 auf Deutsch veröffentlicht.

 DerridasDerrida, Jacques Nachruf Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas erschien 1997 in FrankreichFrankreich, zwei Jahre später in DeutschlandDeutschland. Es handelt sich um zwei Reden, die eine vom 07.12.1996, eine posthume Hommage, die zweite ist Derridas Totenrede auf dem Friedhof Pantin vom 27.12.1995.

Der Kommentar von Jacques DerridaDerrida, Jacques wurde aus zwei Gründen im vorliegenden Textkorpus berücksichtigt: Zum einen stellt er einen konzisen und hilfreichen Kommentar dar, der das Denken von Lévinas erschließt. Zum anderen macht er auf die philosophische Tragweite seines Konzeptes aufmerksam, ohne das die DekonstruktionDekonstruktion und ihre Auffassung von AlteritätAlterität nur schwer denkbar wären. Obwohl Lévinas’ Philosophie in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren entstanden ist, setzt die intensive Diskussion seines Werkes verspätet ein: Für die Entdeckung seiner Texte war nicht zuletzt dieser über hundertseitige Essay von Derrida aus dem Jahr 1967 verantwortlich. Derrida, der Lévinas dreißig Jahre später, in seiner Grabrede auf den älteren Philosophen, als „FreundFreund“ und „Lehrmeister“ bezeichnet,5 sieht die Bedeutung von LévinasLévinas, Emmanuel’ Denken darin, dass es offensiv und kritisch auf die KriseKrise der europäischen Philosophie – im Spannungsfeld zwischen HusserlHusserl, Edmund und HeideggerHeidegger, Martin – reagiert. Er erwähnt dabei insbesondere drei Punkte: erstens, dass Lévinas das philosophische Denken vom griechischengriechisch UrsprungUrsprung her kritisch hinterfragt; zweitens dessen ArchäologieArchäologie, die den „Raum der TranszendenzTranszendenz und jenen der Metaphysik“ neu bestimmt und öffnet, sowie das, was Derrida als HeteronomisierungHeteronomisierung der EthikEthik bezeichnet. Diese Ethik ist existenziell, aber sie kann, weil sie an den anderen geknüpft ist, nicht autonomAutonomie oder selbstbestimmt sein. Damit steht sie im Gegensatz zu klassischen Konzepten wie etwa jenen der AufklärungAufklärung oder des deutschendeutsch Idealismus. Vielmehr ist sie heteronomHeteronomie, also fremdbestimmt. Die IdeeIdee der Heteronomie nimmt nun ihren Ausgangspunkt von der FrageFrage nach dem Anderen. Derrida drückt dies durchaus pathetisch aus, wenn er schreibt:

In dieser Tiefe bringt uns das Denken von Emmanuel Lévinas zum Erzittern. Auf dem GrundGrund der Trockenheit, in der wachsenden Wüstenei, läßt uns dieses Denken, das nicht länger mehr Denken des SeinsSein und der Phänomenalität sein will, von einer unglaublichen EntmotivierungEntmotivierung und BesitzaufgabeBesitzaufgabe träumen.6

Die letzten beiden Termini sind im Zusammenhang mit der EntmächtigungEntmächtigung des autonomenAutonomie SelbstSelbst, das sich selbst setzt, zu verstehen. Die philosophische RelationRelation, die Lévinas zwischen dem Selbst und dem Anderen konstituiert, läuft, wie das Präfix ent- nahelegt, auf einen Entzug hinaus. Die Motivierung erfolgt von einem Gegenüber, nicht von mir. Sofern der Andere mich konstituiert, kann nicht länger vom Selbstbesitz die Rede sein. In seinem Kommentar wird deutlich, dass diese neue Konstellation, die nichts mehr mit dem traditionellen HumanismusHumanismus zu tun hat, positiv gesehen wird, als ein TraumTraum.

Diese produktive ‚SelbstaufgabeSelbstaufgabe‘ der Philosophie vollzieht sich DerridaDerrida, Jacques zufolge auf mehreren Ebenen. Derrida führt dabei folgende Punkte an:

1 Die DislokationDislokation des griechischengriechisch LogosLogos und damit verbunden der Dislozierung unserer IdentitätIdentität. Das von der jüdischen TraditionTradition inspirierte Denken von Lévinas[…] ruft uns auf, den griechischengriechisch OrtOrt zu verlassen, damit wir auf etwas zugehen, das selbst kein UrsprungUrsprung und kein (den Göttern zu gastlicher) Ort mehr ist, auf eine Respiration, ein prophetisches Wort zu, das nicht nur früher als PlatonPlaton, nicht nur früher als die VorsokratikerVorsokratiker, sondern jenseits allen griechischen Ursprungs gesprochen (gemurmelt: sufflé): ‚das Andere des Griechischen‘ ist.7

 

2 Es geht in diesem Denken um die Bestimmung der ursprünglichen Möglichkeiten der Metaphysik und ihre Überführung in eine EthikEthik, die in der Existenz des MenschenMensch gründet und die nicht einfach eine Anwendung philosophischer Prämissen auf das Gebiet von Ethik und MoralMoral ist.

3 Dieses Denken appelliert an die „ethischeEthik Beziehung“, an ein „gewaltloses Verhältnis zum Unendlichen als dem schlechthin Anderen, zum Fremden“ das allein imstande wäre, den Raum der TranszendenzTranszendenz zu eröffnen und die Metaphysik zu befreien. „Die Ethik ist also die Metaphysik“, „Die MoralMoral ist kein Zweig der Philosophie, sondern Erste Philosophie“.8 DerridaDerrida, Jacques spitzt diesen Punkt zu, wenn er pointierend festhält: „LévinasLévinas, Emmanuel schlägt vor, Offenheit im allgemeinen von der Gastlichkeit oder vom Empfang her zu denken – und nicht das Gegenteil.“9 Es handelt sich um ein Denken, dass das SeinSein nicht länger als ObjektObjekt vorbestimmt. Lévinas philosophiert jenseits der SubjektSubjekt-Objekt-Korrelation.10

Um sich die Radikalität des Lévinasschen Ansatzes zu vergegenwärtigen und sich die DifferenzDifferenz zu KojèveKojève, Alexandre und SartreSartre, Jean-Paul vor Augen zu führen, ist es hilfreich, diese drei Momente im Denken des Philosophen in ihrem systematischen Zusammenhang zu fassen. Das fremdefremd Andere bekommt bei Lévinas seinen Auftritt nicht wie bei Sartre, erst nachdem sich das SubjektSubjekt zunächst als Für-sich begriffen hat und als eine Art notwendiges Übel, das zum reflexiven Bewusstsein führt. Vielmehr ist der Andere immer schon vorhanden: Ich bin von Anfang an in mir gespalten und diese VorgängigkeitVorgängigkeit, diese zeitliche Antezendenz des Anderen in mir, ist es, die eine FormForm von EthikEthik eröffnet, in der das Moment des Empfangs die entscheidende Rolle spielt. Vorgängigkeit meint, dass immer schon ein Anderer vor mir da ist, dass ich niemals der oder die erste bin. Es ist, um ein sehr einprägsames Beispiel zu verwenden, immer ein anderer MenschMensch, eine FrauFrau, eine MutterMutter, der ich meine Existenz verdanke. Kein Mensch ist selbstgeboren.

Die Abkehr vom griechischengriechisch LogosLogos, die VerschiebungVerschiebung der Metaphysik hin zu einer Seinsethik und die Überwindung des klassischen SubjektSubjekt-ObjektObjekt-Denkens bedingen einander. Sie haben ihren gemeinsamen OrtOrt in der Art und Weise, wie Lévinas die Konfiguration des Anderen begreift.

4.3. LévinasLévinas, Emmanuel erster programmatischer Text Die ZeitZeit und der Andere

Der Titel der ersten SchriftSchrift von Lévinas, Die ZeitZeit und der Andere, ist natürlich auch eine Replik auf HeideggersHeidegger, Martin SeinSein und Zeit, in der, wie schon SartreSartre, Jean-Paul kritisch konstatiert hat (Kapitel 2.6.), der Andere vornehmlich (negativ) als jenes ManMan, Paul de vorkommt, das dem einzelnen als eine unpersönliche und einförmige gesellschaftliche MachtMacht entgegentritt und das sich zufällig in der gemessenen Zeit (im Unterschied zur subjektiven Zeit) manifestiert.

ZeitZeit gründet auf der Beziehung zum Anderen. Letztere sowie die zeitliche RelationRelation werden in dieser Philosophie eng geführt: „Das Ziel dieser Vorlesungen besteht darin zu zeigen, daß die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamenEinsamkeit Subjektes, sondern das Verhältnis des SubjektsSubjekt zum andern ist.“1

ZeitZeit und AlteritätAlterität sind in dem frühen programmatischen Text miteinander verbunden. Die Bedeutung von EinsamkeitEinsamkeit verschiebt sich also in dieser Denkweise. Es gibt kein absolutes Allein-bei-sich-SeinSein, sondern immer ist unsere relative Einsamkeit von einem Horizont umgeben, der von der EpiphanieEpiphanie des Anderen, seiner StimmeStimme und seines Antlitzes bestimmt und geprägt ist.

Dieser Befund ist dem Autor von Die ZeitZeit und der Andere zufolge keine soziologische Analyse, die zeigt, wie Zeit in einer GesellschaftGesellschaft „zerlegt und angeordnet wird“. Es handelt sich vielmehr um eine FormForm von OntologieOntologie, die Zeit vor dem Hintergrund eines Alteritätsverhältnisses behandelt, bei der EinsamkeitEinsamkeit und KollektivitätKollektivität nicht einfach Begriffe der PsychologiePsychologie sind. In der Zeit in diesem Sinn wird Einsamkeit „überschritten“. Schon gleich zu Anfang spricht Lévinas aus, was dieses Übersteigen nicht ist:

 Es ist kein ErkennenErkennen, denn durch das Erkennen wird das ObjektObjekt vom SubjektSubjekt vereinnahmt und verschwindet.

 Es ist keine EkstaseEkstase, denn in der Ekstase wird das SubjektSubjekt vom ObjektObjekt vereinnahmt und verschwindet.

Die Beziehung zum Anderen ist etwas, das nicht auf die AuflösungAuflösung des Anderen oder auch auf die Neutralisierung meiner selbst abzielt. Es ist kein Verhältnis, das auf dem Bewusstsein beruht und das auch nichts Mystisches in sich birgt. Denn durch die abstrakte ErkenntnisErkenntnis wird der Andere zu einem Gegenstand verdinglicht und durch die EkstaseEkstase verliere ich mich samt dem Anderen in einer EinheitEinheit, in der es kein Ich und keinen Anderen gibt. Die existentielle RelationRelation, auf die LévinasLévinas, Emmanuel in dem Text zusteuert und die weder soziologisch noch psychologisch zu bestimmen sei, ist zunächst einmal eine, die weder rational noch irrational, sondern etwas Drittes ist.

Lévinas wendet sich also gegen das Denken einer am Ende dialektischDialektik wiederhergestellten EinheitEinheit im Sinne HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich (→ Kapitel 2). Vielmehr geht es ihm um einen „PluralismusPluralismus, der nicht in einer Einheit fusioniert“. Es gehe darum, „mit ParmenidesParmenides zu brechen“.2 Die IdeeIdee, die Unterscheidung des Parmenides von SeinSein und NichtsNichts zu revidieren, findet sich, wie wir gesehen haben, bereits bei KojèveKojève, Alexandre und seinem GleichnisGleichnis vom Goldring (→ Kapitel 2.5.). In diesem wird die RelationRelation als drittes Element ins SpielSpiel gebracht. Aber Lévinas zielt ganz offenkundig noch auf ein anderes Moment, nämlich auf ein Sein, das immer schon in Erwartung auf ein Anderes existiert:

Die ZukunftZukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen. Von ZeitZeit zu sprechen in einem SubjektSubjekt allein, von einer rein persönlichen Dauer zu sprechen, scheint uns unmöglich.3

Die ZukunftZukunft ist das Andere und es ist zugleich die ZeitZeit des Anderen. Die Zeit setzt Lévinas zufolge immer schon eine SubjektSubjekt-Subjekt-Konstellation voraus. Es gehört zur menschlichen Grundsituation, dass der MenschMensch allein, aber ontisch nicht einsamEinsamkeit ist:

Die Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht wäre der eigentliche Vollzug der ZeitZeit: das Übergreifen der GegenwartGegenwart auf die ZukunftZukunft ist nicht die Tat eines einsamenEinsamkeit SubjektsSubjekt, sondern das intersubjektive Verhältnis. Die Bedingung der Zeitlichkeit liegt im Verhältnis zwischen menschlichen Wesen oder in der GeschichteGeschichte.4

4.4. Die ErotikErotik des geschlechtlichen Paares als Modell von AlteritätAlterität

Wie LévinasLévinas, Emmanuel in einem Vorwort zur Neuausgabe des Textes im Jahre 1979 schreibt, greift die frühe Abhandlung zu einem illustrativen Modell, das das Verhältnis zum Anderen veranschaulichen soll. Diese Beziehung sei weder bloß gegenständliche ErkenntnisErkenntnis noch unio mystica und soll deshalb am Beispiel der VerbindungVerbindung des MannesMann zur Anderen, zur FrauFrau, erläutert werden. Das Vorwort differenziert zugleich den ursprünglichen Ansatz, wenn es heißt: „Der Begriff der transzendenten Anderheit – jener Anderheit, von der die ZeitZeit eröffnet wird – wird zuerst gesucht im Austrag von einer Inhalts-Anderheit, im Ausgang von der WeiblichkeitWeiblichkeit.“ Diese AlteritätAlterität ist semantischer NaturNatur, die mit Mann und Frau jeweils ein Prädikat hat. „Weiblichkeit“ erscheine in dem Text von 1947, heißt es rückblickend und selbstkritisch, als „eine Qualität, die von allen anderen Qualitäten unterschieden ist“. Die GeschlechterdifferenzGeschlechterdifferenz sei eine „formale Struktur“.1 Diese Struktur ist, wie wir sehen werden, erotischErotik und zugleich meta-erotisch. Denn die exemplarische Situation, die Lévinas beschreibt, ist gleichsam eine angehaltene. Nicht die Vereinigung ist dabei entscheidend, sondern die Annäherung, die ihr vorausgeht.

Lévinas räumt im Hinblick auf die formale Struktur dieser Beziehung zum Anderen ein, dass das, was er hinsichtlich der „WeiblichkeitWeiblichkeit“ gesagt habe, möglicherweise auch für die „MännlichkeitMännlichkeit“ gilt. Beide Qualitäten stehen demnach für den Unterschied der GeschlechterGeschlecht. In einem nächsten Schritt macht er deutlich, dass es ihm um den „Begriff des Paares als eines von jeder numerischen ZweiheitZweiheit Unterschiedenen“ geht. In diesem Zusammenhang kommt der Begriff der EpiphanieEpiphanie ins SpielSpiel, eine Erscheinung, in der etwas zutage tritt, sich ‚offenbart‘. Er spricht davon, dass die „außergewöhnliche Epiphanie des Antlitzes – dieser abstrakten und keuschen NacktheitNacktheit –, […] sich von den sexuellen Unterschieden ablöst, die jedoch für die ErotikErotik wesentlich ist […]. Durch Erotik und LibidoLibido tritt die MenschheitMenschheit in die GemeinschaftGemeinschaft zu zweit ein.“2 Weder die Prädikation im Sinne einer Zuschreibung von männlichmännlich oder weiblichweiblich noch die FrageFrage der sexuellen Orientierung des Paares spielen für diese formale Struktur eine Rolle. In der ÖffnungÖffnung des MenschenMensch hin zum Anderen, die die Grundvoraussetzung für das PaarPaar bildet, tritt die formale Struktur unserer Beziehung zum Anderen zutage.

In diesem ersten wichtigen und bahnbrechenden Werk untersucht Lévinas die Befindlichkeit des SubjektsSubjekt auch im Hinblick auf PhänomenePhänomen wie ArbeitArbeit, LeidenLeiden, GenussGenuss und TodTod, aber gleichwohl ist es der ErosEros, an dem AlteritätAlterität, „Anderheit“, vorgeführt wird. Die ErotikErotik im Sinne LévinasLévinas, Emmanuel ist eben weder eine AneignungAneignung wie die ErkenntnisErkenntnis noch eine EkstaseEkstase wie zum Beispiel der sexuelle Akt. Lévinas spricht zwar an mehreren Stellen von einer „DialektikDialektik des Verhältnisses zum anderen“, aber damit ist keine Dialektik gemeint, die eine EinheitEinheit zwischen dem Selben und dem Anderen herstellt. Die EinsamkeitEinsamkeit, von der Lévinas spricht, ist Beziehung zum bzw. mit dem Anderen, dessen gleichzeitige An- und AbwesenheitAbwesenheit. Das wird in dem kontrastiven Verhältnis von Einsamkeit und KollektivitätKollektivität sinnfällig: „Das Subjekt ist allein, weil es eines ist. […] Die Einsamkeit ist also nicht nur Verzweiflung und Preisgegebenensein, sondern auch Stärke, StolzStolz und Souveränität.“3 Die Einsamkeit hat hier ein Moment, das, wie der Begriff Stolz zeigt, die AnwesenheitAnwesenheit des Anderen als unhintergehbaren und nicht aufhebbaren Horizont voraussetzt. Oder andersAndersheit formuliert: Die Einsamkeit im Sinne des Allein-SeinsSein ist ein Modus unseres Verhältnisses zum Anderen. Und nicht umgekehrt. Denn die Gemeinsamkeit ist keine Addition der Einsamkeit zweier Subjekte. Im Unterschied zum sozialen Alltagsleben, das oftmals auf ReziprozitätReziprozität beruht, ist der „intersubjektive Raum nicht symmetrisch.“4

Es ist kein Zufall, dass der Text diesen Befund so akzentuiert. Denn damit setzt er eine unverkennbare DifferenzDifferenz zu anderen philosophischen Konzepten, etwa den dialogischen Theorien von Gabriel MarcelMarcel, Gabriel und Martin BuberBuber, Martin, in dem Ich und Du vis-à-vis einander gegenüberstehen. Auch die Alteritätskonzepte von HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich und SartreSartre, Jean-Paul basieren auf der IdeeIdee dieser ReziprozitätReziprozität. Als gleichberechtigte potentielle Selbstbewusstseine, als jeweiliges SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein an sich, treten sie sich bei Hegel gegenüber. Die Ungleichheit zwischen beiden ist eine a posteriori, eine nachherige, denn sie ergibt sich aus dem KampfKampf auf LebenLeben und TodTod und seinem Resultat, aus Sieg und Niederlage und aus der Schonung des Unterlegenen. Aber auch Sartres Beschreibung von Ich und Anderem beruht auf der Wechselseitigkeit: Denn so wie ich durch den Anderen zum ObjektObjekt und mir selbst entfremdet werde, so wird der Andere sich dadurch selbst fremdfremd, dass ich ihn zum Objekt mache. Aus der Sicht Lévinas’ verfehle ich den Anderen aber, wenn ich ihn zum Gegenstand von Wahrnehmung und Begrifflichkeit mache. Mir entgeht ein philosophisch entscheidendes Moment an dem anderen menschlichen Lebewesen. Denn dessen spezifischer Status besteht gerade darin, dass er im klassischen Sinn weder ein SubjektSubjekt noch ein Objekt ist.

 

Noch etwas ist wesentlich für das Verständnis des Anderen bei LévinasLévinas, Emmanuel: Dieser Andere ist keine InstanzInstanz, die mir als ein kompaktes, in sich geschlossenes SubjektSubjekt entgegentritt. Der Andere ist integraler Bestandteil meiner SelbstSelbst, aber nicht im Sinn des psychoanalytischen Denkens, das das Andere als etwas Non-Personales wie bei KristevaKristeva, Julia im UnbewusstseinUnbewusstsein meiner selbst verankert (→ Kapitel 3). Der Andere ist, wie wir noch sehen werden, eine personale Instanz, die in der Begegnung mit einem anderen MenschenMensch gleichsam aktualisiert und inszeniert wird. Auf dieser „intersubjektiven“ Ebene löst sich das klassische Subjekt ebenso auf wie die traditionelle, auf die antike griechischegriechisch Philosophie zurückgehende Denkform von Subjekt und ObjektObjekt, von Eigenem und Fremdem gleichsam auf. Das Subjekt ist bei Lévinas ein immer schon durch den Anderen fragmentiertes, dem Anderen Unterworfenes. Dies ist gleichzeitig die zweite Bedeutung des lateinischenlateinisch Wortes subjectum: das Unterworfene.

Das fragmentierte SubjektSubjekt unterscheidet sich aber auch prinzipiell von jenem HybridHybrid, von jener HeterogenitätHeterogenität, die wir aus den gegenwärtigen Kulturwissenschaften kennen. Es befindet sich niemals im Zustand des Selbst. Es ist keine Mischung im Sinne des Sowohl-als-Auch und es ist auch nicht ein Weder-Noch. Demgegenüber ist Heterogenität nicht zuletzt das Ergebnis einer spezifisch kulturellen Mischung von Eigenem und Fremdem mit der durchaus radikalen Tendenz, dass sich die GrenzenGrenze und Unterschiede zwischen Eigenem und Fremdem verwischen. Lévinas zufolge ist jedes, auch das (vermeintlich) homogen(st)e kulturelle Subjekt immer schon durch die Figur des Anderen gebrochen, das heißt fragmentiert und wenn man so will heterogen, bedeutet doch das griechischegriechisch Wort heteros der Andere.

FragmentierungFragmentierung und AsymmetrieAsymmetrie, wie sie in der Angewiesenheit des Selben auf den Anderen gegeben ist, schließen Kränkung und Chance mit ein. Keines der Subjekte hat diese Beziehung unter Kontrolle und keines von ihnen hat im Grunde genommen eine Wahl. Aber aus dieser peinlichen Situation der AbhängigkeitAbhängigkeit, die unseren Wunsch nach SelbstSelbst- und Allmächtigkeit dementiert, resultiert auch die Möglichkeit der ÖffnungÖffnung zu dem, was uns konstituiert, ‚fremdbestimmt‘. Damit verschiebt sich freilich auch, mit vergleichendem Blick auf SartreSartre, Jean-Paul, die Bedingungen der Möglichkeit von FreiheitFreiheit (Kapitel 2). Denn Freiheit ist nur in der innerhalb der durch die Alteritätsrelation gegebenen Bedingungen möglich. Freiheit ist das AntwortenAntwort auf eine Anforderung, die an mich ergangen ist. Es sind drei miteinander verbundene Elemente, die die Beziehung zum Anderen bestimmen, wobei die Folie der (geschlechtlichen) LiebeLiebe immer wieder zum Vorschein kommt. Die Beschaffenheit der Liebe in unserer Wahrnehmung und emotionalen ErfahrungErfahrung wird in der frühen Abhandlung von 1947 zum Modell von AlteritätAlterität. PhänomenologiePhänomenologie meint hier eine lebensweltliche Erfahrung einer bestimmten intersubjektiven Konstellation:

1 Die Konfiguration des Anderen ist gleichsam in mich eingeschrieben. Das bedeutet aber nicht, dass er mich besitzt oder ich ihn. Die RelationRelation zu ihm ist keine, die im Begriff des Besitzes aufgeht. Der Besitz widerspricht im Kern des Status des Anderen: „Wenn man den anderen besitzenBesitzen, ergreifen und erkennen könnte, wäre er nicht der andere. Besitzen, ErkennenErkennen, Ergreifen sind Synonyme des Könnens.“5 Nun wird auch deutlich, warum die Annäherung zweier sich liebender MenschenMensch so wichtig ist und weshalb dieses Dritte, jenseits von Erkennen und EkstaseEkstase, von Besitzen und Verlieren, von so entscheidender Bedeutung ist. Denn mit ihr kommen Momente der Zärtlichkeit und der BerührungBerührung ins SpielSpiel, sie bedeuten, je nachdem, wie man es sehen möchte, entweder den Verzicht auf Inbesitznahme oder die resignative Einsicht, dass ich den Anderen weder real noch symbolisch zu meinem EigentumEigentum machen kann. Kein KoitusKoitus in dieser WeltWelt vermag letztendlich eine Überwindung der prinzipiellen GrenzeGrenze, die mich vom anderen trennt. Diese Relation bildet die Voraussetzung für die geschlechtliche LiebeLiebe. Es ist die Annäherung, die mir vor Augen führt, dass der Andere sich immer entzieht und niemals endgültig greifbar ist, in diesem Sinne immer fremdfremd bleibt.

2 Zur Beziehung zum Anderen, die sich in der LiebeLiebe zeigt, gehört auch, dass die Beziehung nicht von mir geschaffen wurde. Zur VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen gehört ganz konsequent, dass ich auf den Anderen antworte bzw. die Beziehung mit annehme (oder auch nicht): „Die Liebe ist nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht unserer Initiative, sie ist ohne GrundGrund, sie überfällt uns und verwundet uns und dennoch überlebt in ihr das Ich.“6

3 Die Konfiguration des Anderen entzieht sich mir. Das jeweils andere GeschlechtGeschlecht entzieht sich mir gerade deshalb, weil es das andere ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass es nicht nur die Paarbildung, sondern auch die sexuelle DifferenzDifferenz ist, die bei LévinasLévinas, Emmanuel’ OntologieOntologie des Anderen im SpielSpiel ist. Wovon er sich entschieden und prinzipiell absetzt, ist ein Geschlechtermodell, das wie in PlatonsPlaton Symposion davon ausgeht, dass MannMann und FrauFrau komplementär seien und ihre Beziehung eine ursprüngliche EinheitEinheit wiederherstellt. Die LiebeLiebe ist in keinem Fall ein Verschmelzen, sondern sie spitzt die AlteritätAlterität, gerade im gelingenden Fall der Liebe, als menschliche Grundkonstellation zu:Der Unterschied der GeschlechterGeschlecht ist auch keine DualitätDualität zweier komplementärer Bezugspunkte, denn zwei komplementäre Bezugspunkte setzen ein präexistentes Ganzes voraus. Zu sagen, daß die geschlechtliche Dualität ein ganzes voraussetze, hieße von vornherein die LiebeLiebe als Verschmelzen zu setzen. Die Leidenschaftlichkeit der Liebe besteht jedoch in einer unüberwindlichen Dualität des Seienden. Es ist ein Verhältnis zu dem, das sich für immer entzieht. Das Verhältnis neutralisiert nicht ipso facto die AndersheitAndersheit, sondern bewahrt sie. Die Leidenschaftlichkeit der Wollust besteht darin, zu zweit zu sein. Das andere als anderes ist hier nicht ein ObjektObjekt, das das unsrige wird oder das wir wird; es zieht sich im Gegenteil in sein Geheimnis zurück.7

Verworfen werden hier die zwei verwandten, aber nicht identischen Denkfiguren, KomplementaritätKomplementarität und SyntheseSynthese. Beide basieren auf der IdeeIdee, dass die herzustellende EinheitEinheit eine ursprüngliche Ganzheit wieder herstellt. Einen solchen UrsprungUrsprung gibt es bei LévinasLévinas, Emmanuel jedoch nicht, vielmehr befinden wir uns immer schon in einer Beziehung zum Anderen, die wir insofern nicht selbst geschaffen haben, als der Andere uns ja immer schon zuvor gekommen ist. Weil sich der Andere stets entzieht, kann die LiebeLiebe überleben. Wenn es so etwas wie ein Ganzes gibt, so, paradox gesprochen, dann nur in Gestalt einer unaufhebbaren AlteritätAlterität. Überhaupt ließe sich sagen, dass die FormForm, in der Lévinas Alterität denkt, eine paradoxe ist: Liebe ist das Eingeständnis, dass wir ohne den Anderen nicht – wenigstens nicht in einem emphatischen Sinne – leben können.