Theorien des Fremden

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Demgegenüber ist unser Verhältnis zu bekannten MenschenMensch durch VerbundenheitVerbundenheit und durch eine „Gleichheit von spezifischen Differenzen“ charakterisiert. Dieser Einklang baut sich gegen das Allgemeine auf: Die Verbundenheit etabliert potentiell ein Wir-GefühlWir-Gefühl gegen die Anderen.

Jenes Gemeinsame selbst vielmehr wird in seiner Wirkung auf das Verhältnis dadurch wesentlich bestimmt, ob es nur zwischen den Elementen eben dieses besteht und so, nach innen zwar allgemein, nach außenAußen aber spezifisch und unvergleichlich ist – oder ob es für die Empfindung der Elemente selbst ihnen nur gemeinsam ist, weil es überhaupt einer GruppeGruppe oder einem Typus oder der MenschheitMenschheit gemeinsam ist.15

Im Hinblick auf den Fremden konstatiert SimmelSimmel, Georg eine eigentümliche Mischung aus NäheNähe und Ferne, oder eine Affekthaltung aus Kühle und Wärme, aus Unbeteiligtheit und Beteiligtheit:

Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheit nationalernational oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden.16

Das Moment der nahen FremdheitFremdheit hat auch in der erotischenErotik Beziehung eine Bedeutung: Die Fremdheit bildet den Reiz, an dem sich das BegehrenBegierde entzündet. Inzestuöse Beziehungen beziehen ihren Reiz von kulturellen Verboten, aber sie tragen das Problem möglicherweise fehlender Fremdheit zwischen den Partnern in sich.17 Insofern ließe sich sagen, dass alle langwährenden Beziehungen tendenziell ‚inzestuös‘, das heißt symbiotisch werden. Zur KriseKrise intimerintim Beziehungen kommt es nicht zuletzt dann, wenn das Gefühl der Einzigartigkeit der eigenenEigentum LiebeLiebe wie die des geliebten MenschenMensch verschwindet. Die Partner werden einander fremdfremd, weil sie sich zu nahe gekommen sind. Dahinter lauert die FrageFrage, ob ‚unsere‘ Beziehung wirklich so einzigartig ist, wie es unsere romantische VerliebtheitVerliebtheit nahelegt hat: Ist das Zweien Gemeinsame nicht am Ende doch eines, das nicht bloß ihnen gemeinsam ist?18

Die Konklusion ist wohl, dass erfolgreiche erotischeErotik Beziehungen solche sind, in denen ein Spannungsverhältnis von Nah und Fern bestehen bleibt, in dem die ErfahrungErfahrung von NäheNähe und Ferne aufrechterhalten wird (vgl. die Analyse der Zärtlichkeit bei LévinasLévinas, Emmanuel → Kapitel 4). Im Falle ethnischerEthnie Unterschiede in intimenintim Beziehungen überlagern sich zwei verschiedene Fremdheiten, das mag das Gefühl der Einzigartigkeit verstärken, bietet aber wohl keine SicherheitSicherheit gegen den Verlust des „Einzigartigkeitsgefühls“, die SimmelSimmel, Georg für die intime Beziehung als konstitutiv ansieht.

SimmelSimmel, Georg erwähnt indes noch eine andere Konzeption des Fremden, in der jedwede Gemeinsamkeit ausgeschlossenAusschluss ist. Er erläutert dies am griechischengriechisch Begriff des ‚BarbarenBarbar‘, einer traditionellen Bezeichnung der antiken Griechen für alle anderen fremdsprachigen Völker. Den ‚barbaroi‘ werden all die generellen Eigenschaften abgesprochen, die man mit den MenschenMensch der eigenenEigentum KulturKultur teilt und die man für sich reklamiert: all die Werte, SittenSitten und Gepflogenheiten, die für selbstverständlich gelten. Diese Beziehung zum Fremden ist die „Nicht-Beziehung“. Das ist politisch gesprochen die Position des Rassisten gegenüber reichen oder auch armen Minderheiten, gegenüber kolonialisierten außereuropäischen Völkern oder gegenüber Nachbarvölkern, die man beherrscht. Die Nicht-Gemeinsamkeit wird zum entscheidenden Element unserer Nicht-Beziehung zum Fremden, der nah und fern zugleich ist. Der Fremde wird auch nicht in seiner Individualität und seiner sozialen Stellung wahrgenommen, sondern als bestimmter kultureller Typus behandelt. Beispiele dafür sind die mittelalterliche JudensteuerJudensteuer und die Nürnberger RassengesetzeNürnberger Rassengesetze des NationalsozialismusNationalsozialismus.

SimmelSimmel, Georg konstatiert zu Ende seiner kurzen Abhandlung eine Zunahme des Fremden als Folge des Überganges von blut- und stammesverwandtschaftlich organisierten GemeinschaftenGemeinschaft zu abstrakteren Gebilden. Ausdrücklich erwähnt er dabei das kulturelle Gebot der ExogamieExogamie, die Vorschrift, Fremde zu heiraten, das heißt MenschenMensch, die außerhalbAußerhalb des Familienverbandes stehen.

Charakteristika der GlobalisierungGlobalisierung gehören letztendlich in den Phänomenbereich des ‚Exogamen‘, also des Austausches und der VerbindungVerbindung mit immer Fernerem: Es kommt zu einer Zunahme von Wanderbewegungen und, damit verbunden, von FremdheitFremdheit. Die Beziehung von Nahem und Fernem verändert sich und überlagert sich. NäheNähe verschwindet nicht, wird aber relativ und relational, das heißt, sie ist nunmehr Teil einer WechselwirkungWechselwirkung, die sich aus der Polarität von nah und fern, bekannt und fremdfremd, ergibt.

Mit SimmelSimmel, Georg und seiner Philosophie des Geldes kann man auch daran denken, wie das abstrakte und immer virtueller werdende Tauschmedium GeldGeld die Raum-Koordinaten verschiebt. Es komprimiert gleichsam die global gewordene MenschheitMenschheit und weckt AngstAngst vor dem Verlust von ‚IdentitätIdentität‘, deren kulturelle KonstruktionKonstruktion ohne Bekanntheit und VertrautheitVertrautheit undenkbar ist. Kurzum besteht die Sorge, ‚HeimatHeimat‘, inklusive der mit diesem Begriff einhergehenden Affekte (ZugehörigkeitZugehörigkeit, StolzStolz, PathosPathos, Glücksgefühl), zu verlieren. Es gibt gerade in den hochentwickelten kapitalistischen GesellschaftenGesellschaft, die ohne die tiefgreifenden kulturellen Wirkungen des Geldes undenkbar sind, die Bereitschaft breiter Schichten in der Bevölkerung, gegen das abstrakt Fremde des Geldes und des KapitalsKapital Sturm zu laufen. Zuweilen lugen dahinter die alten stereotypen Feindbilder hervor: Der AntisemitismusAntisemitismus und generell jedwede Fremdenfeindlichkeit richten sich gegen ethnischeEthnie oder soziale GruppenGruppe, gegen innere und äußere FeindeFeind, die nicht selten mit dem Medium des Geldes verbunden sind und Verschwörungstheorien auslösen. Dabei überlagern sich historisch nicht selten linke und rechte Positionen: Das Feindbild des Kapitalisten verschmilzt mit jenem des JudenJuden. Der deutschedeutsch Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger schreibt mit Blick auf die sozialen Netzwerke unserer Tage:

In Karikaturen werden die der Globalisierungskritik latent innewohnenden Weltverschwörungstheorien schon manifester. Die alles umschlingende Krake versucht die ganze WeltWelt zu verschlingen und erhält allerorts Gegenwehr der „produktiven“ ArbeiterArbeiter usf. Hier gleichen sich die Illustrationen linker wie rechter GlobalisierungsgegnerInnen zusehends. Manch linke Gruppierung kann dabei nicht einmal auf die obligate Hakennase verzichten, die dem zigarrerauchenden und zylindertragenden Unternehmer angedichtet wird und damit ebenso aus dem Stürmer wie aus einer trotzkistischen, maoistischen oder Attac-Publikation stammen könnte.19

Abb. 2

Zerrspiegel der globalisierten WeltWelt

Darüber hinaus haben derartige Feindbilder noch eine ganz andere Stoßrichtung, wenden sie sich doch gegen die zunehmend abstrakter werdenden FormenForm der VergesellschaftungVergesellschaftung und der transnationalen kulturellen KommunikationKommunikation.20 Der, die und das bedrohliche Fremde werden mit dem GeldGeld gleichgesetzt. Insofern lebt die AmbivalenzAmbivalenz vormoderner KulturenKultur gegenüber der Figur des fremdenfremd HändlersHändler in der hypermodernenhypermodern Ära der GlobalisierungGlobalisierung fort, als Unbehagen an den transnationalen Akteuren etwa der Geldwirtschaft und des Welthandels. Was sich an der Kritik an Ungleichheit und Ungerechtigkeit entzündet, ist stets, rechts wie links, in Gefahr, sich in Feindschaft gegen ein bedrohliches AußenAußen zu verdichten.

Erstaunlich bleibt, dass SimmelsSimmel, Georg Analyse des Fremden zumindest vier Modi von Migrationen und Migranten unberücksichtigt lässt:

1 Das politische ExilExil;

2 die Flucht infolge der VerfolgungVerfolgung von Menschengruppen, die minoritär und fremdfremd bleiben wie die JudenJuden Europas und des Nahen OstenNaher Ostens;

3 MigrationMigration aus ökonomischen und sozialen Gründen;

4 die binnen- und transnationalen Wanderungen, die sich grosso modo vom peripheren, oftmals ruralen Raum in die urbanen Kristallisationspunkte der IndustrialisierungIndustrialisierung und Postindustrialisierung vollziehen.

Diese FormenForm von Wanderung mögen sich zum Teil mit dem von SimmelSimmel, Georg fokussierten Typus des fremdenfremd HändlersHändler überlagern, sind aber nicht mit ihm identisch. Obschon die GrenzenGrenze zwischen freiwilliger und erzwungener Wanderschaft fließend sein mögen, so divergiert die Position des fremden Teilnehmers an einem fremden Markt beträchtlich von jener, der vor GewaltGewalt und VerfolgungVerfolgung fließen und gegebenenfalls Hab und Gut zu Hause lassen muss. Der klassische Händler befindet sich, verglichen mit vielen anderen armen Migrantinnen und Migranten, die sich damals wie heute als Fremde für geringen LohnArbeitslohn abrackern, in einer vergleichsweise privilegierten Position. Deshalb träumen nicht wenige MenschenMensch mit Migrationshintergrund davon, einmal vom Ersparten ein eigenesEigentum Geschäft oder ein eigenes Lokal aufmachen zu können, um in den von Simmel beschriebenen Status aufsteigen zu können.

6.3. Der Fremde als FeindFeind: Carl SchmittSchmitt, Carl

Es liegt nahe, an dieser Stelle eine kurze Lektüre eines Autors einzufügen, der in so mancher Hinsicht SimmelsSimmel, Georg Befunde aufgreift und zuspitzt: Carl SchmittSchmitt, Carl (1888–1985). Simmels kulturelle und soziale Verortung des Fremden basiert vor allem darauf, dass der Fremde nicht das ausgeschlosseneAusschluss ‚Element‘ einer GruppeGruppe ist, sondern gerade durch seine Deplatzierung am RandeRand oder außerhalbAußerhalb des ‚heimischen‘ Raums eine wichtige Position einnimmt. Die Figur des Fremden nimmt insofern eine Schlüsselfunktion für eine GemeinschaftGemeinschaft oder GesellschaftGesellschaft ein: Die Gruppe konstituiert sich nämlich durch ihn und begreift sich als seine NegationNegation. Der Fremde nimmt dabei nolens volens die gleiche Position ein wie der Arme oder der innere FeindFeind. Carl Schmitt, der berüchtigte Gegner und Kritiker der modernenmodern liberalen politischen OrdnungOrdnung, hat diesen Sachverhalt in seiner einflussreichen Streitschrift Der Begriff des Politischen (1932) zugespitzt: Dort wird die der PolitikPolitik angemessene Unterscheidung als eine von FreundFreund und Feind bestimmt.1 Der KriegKrieg bildet dabei „die äußerste Realisierung der Feindschaft“2 und wird „als das extremste politische Mittel“3 angesehen. Eine Gruppierung sei von daher dann und nur dann politisch, wenn sie „sich an dem Ernstfall orientiert“.4

 

Dem LiberalismusLiberalismus, dem PazifismusPazifismus und dem mit ihm einhergehenden HumanismusHumanismus hält SchmittsSchmitt, Carl ‚realistische‘ Theorie nun vor, die dramatische Härte des Politischen, das in seiner Struktur dem KriegKrieg, in dem FreundFreund und FeindFeind auf LebenLeben und TodTod aufeinander treffen, ähnlich ist, zu unterlaufen. Der Liberalismus versuche, das Politische nicht im Sinne der strukturellen Feindschaft, sondern im Sinne der Konkurrenz zu fassen und die Freund-Feind-Struktur, die dem Politischen inhärent sei, durch die OppositionOpposition von nützlich und schädlich zu ersetzen. Diese vom Liberalismus betriebenen ökonomischen „Neutralisierungen und Entpolitisierungen“5 nicht nur des Politischen haben „einen politischen Sinn“, der nicht zuletzt darin besteht, die HerrschaftHerrschaft eines „ökonomisch fundierten ImperialismusImperialismus“ zu legitimieren.6 So produziert der Liberalismus aus dieser Warte eine Illusion, die Schmitt zufolge gleichzeitig ungeheuer mächtigkeitswirksam ist, nämlich als globale Herrschaft eines kapitalistischen Imperialismus über die ganze WeltWelt.

An einer entscheidenden Stelle, an der SchmittSchmitt, Carl seine Definition des Politischen als eines KampfesKampf zwischen FreundFreund und FeindFeind ausbreitet, nimmt der Text nun eine Gleichsetzung des Feindes mit dem Fremden vor, wenn es heißt:

Der politische FeindFeind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetischÄsthetik häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß es in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten‘ und daher ‚unparteiischen Dritten‘ entschieden werden können.7

Die Konstituierung und KonstruktionKonstruktion des Fremden hat also ihren entscheidenden Sinn darin, dass erst die Figur des Fremden jene FormForm von PolitikPolitik ermöglicht, die ihrem Wesen entspricht. Es ist nicht notwendig, den FeindFeind zu hassen, er muss sich nur in einem radikalen Sinne ‚außerhalbAußerhalb‘ von uns befinden, damit ein Moment nicht wirksam werden kann: die EmpathieEmpathie mit ihm. Es genügt eben jene DistanzDistanz, die der FremdheitFremdheit, die ihn für uns auch emotional unerreichbar macht, innewohnt. Insofern sind Feind und Fremder logisch miteinander verbunden. Ausdrücklich betont SchmittSchmitt, Carl, dass die christlicheChristentum Feindesliebe, die ja nur eine private sei, für das abstrakte Verhältnis der Politik keine Gültigkeit besitze. Schmitt macht diese Unterscheidung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ an einem Beispiel, das heute auf ganz besonders grelle Weise wieder aktuell ist, deutlich, wenn er schreibt:

Auch ist in dem tausendjährigen KampfKampf zwischen ChristentumChristentum und IslamIslam niemals ein Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse aus LiebeLiebe zu den Sarazenen oder den Türken EuropaEuropa, statt es zu verteidigen, dem Islam ausliefern. Den FeindFeind im politischen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen, und erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen ‚Feind‘, d.h. Gegner, zu lieben.8

Es lässt sich also extrapolieren, dass der private FeindFeind, andersAndersheit als der politische, sich nicht in der Position der FremdheitFremdheit befindet. Drastisch gesprochen kann man privat mit dem Vertreter einer ‚fremdenfremd‘ Minderheit Mitleid haben, während man sich mit der GruppeGruppe, zu der er gehört, in einem leidenschaftslosen, aber heroischen KampfKampf auf LebenLeben und TodTod befindet.

Carl SchmittsSchmitt, Carl Theorie führt tatsächlich zu einer sich erfüllenden Prophezeiung, deren prophetischer Sprecher er 1933 werden wollte und sollte: Als der deutschedeutsch Verfassungstheoretiker seine Streitschrift zum Begriff des Politischen vorlegt, regiert in DeutschlandDeutschland eine autoritäre Regierung mit Notverordnungen. Parallel dazu schickt sich ÖsterreichÖsterreich im Gefolge eines Staatsstreiches – eines Ausnahmezustandes, der im Sinne Schmitts Recht setzt – an, einen StändestaatStändestaat nach dem Vorbild des italienischen FaschismusFaschismus zu etablieren. Hitler, der mit seinem ‚antikapitalistischen‘ und ‚antiglobalen‘ AntisemitismusAntisemitismus ein besonders aggressives FreundFreund-FeindFeind-Schema für seine PolitikPolitik gewählt hat, ist bereits ante portas.

Was Carl SchmittSchmitt, Carl vorlegt, ist die radikalste Version jener schon bei NietzscheNietzsche, Friedrich vorfindlichen Gedankenfigur, wodurch sich soziale Entitäten dadurch konstituieren, dass sie sich FeindeFeind schaffen. Insofern beinhaltet die ZivilgesellschaftZivilgesellschaft, als deren theoretischer wie praktischer Kontrahent sich Schmitt historisch erwies, in der Tat ein utopisches Potential. Es ist die IdeeIdee einer Sozialstruktur und KulturKultur, die nicht auf der radikalen und letztendlich kriegerischen Idee des Fremden als eines Feindes beruht, der ex negativo unser politisches Handeln bestimmt, sondern in der die Struktur des KriegesKrieg allenfalls dann zum Tragen kommt, wenn die plurale und heterogeneHeterogenität OrdnungOrdnung als Ganze bedroht ist und der politische Konkurrent darauf dringt, sich als Feind zu etablieren.

Carl SchmittsSchmitt, Carl Definition des Fremden als eines FeindesFeind ist aber auch vor dem Hintergrund des Aufstiegs von extremen politischen Gruppierungen – rechts wie links – von Belang. Diese speisen sich aus einem ähnlichen Unbehagen wie das theoretische Werk Carl Schmitts. Sie stellen nicht nur bestimmte neoliberale Auswüchse, sondern letztendlich auch das politische SystemSystem einer repräsentativen DemokratieDemokratie in FrageFrage, indem sie den ‚LiberalismusLiberalismus‘ als heuchlerische Illusion der kapitalistischen GlobalisierungGlobalisierung ‚entlarven‘.

6.4. Die Funktion des Fremden im Eigenen: Werner SombartSombart, Werner

Eine andere Funktion des Fremden im Raum des ‚Eigenen‘ hat der renommierte Ökonom und Wirtschaftshistoriker Werner SombartSombart, Werner in seinem berühmten, bis heute immer wieder aufgelegten mehrbändigen Werk Der modernemodern KapitalismusKapitalismus in den Mittelpunkt gerückt. Im ersten Band, der sich mit der Entstehung der kapitalistischen ÖkonomieÖkonomie in der vorkapitalistischen GesellschaftGesellschaft beschäftigt, untersucht der Autor im achten und letzten Abschnitt die Entstehung der Unternehmerschaft zu Anfang der NeuzeitNeuzeit. Dabei kommt er zu dem überraschenden Schluss, dass es neben dem vorkapitalistischen BürgertumBürgertum durchaus gesellschaftliche und kulturelle Randgruppen sind, die zur Entstehung der kapitalistischen Wirtschaft maßgeblich beigetragen haben, die religiösen ‚Ketzer‘, die Fremden und unter ihnen ganz besonders die JudenJuden. Ihnen widmet er ein eigenesEigentum Kapitel, weil sie in ihrem prekären Status dauerhafter Randständigkeit eine ganz besondere Rolle im okzidentalen Kontext eingenommen haben. Anders als SchmittSchmitt, Carl argumentiert Sombart wenigstens in diesem Buch keineswegs dezidiert antikapitalistisch, es geht ihm um eben die von SimmelSimmel, Georg begründete Fragestellung der sozialen Funktion des Fremden, der unter vormodernen Bedingungen im günstigsten Fall die Position eines zuweilen privilegierten, aber stets bedrohten AußenseitersAußenseiter (etwa in Gestalt des jüdischen, aber auch des griechischengriechisch oder armenischen HändlersHändler) einnimmt. Sombart, ursprünglich nationalliberal eingestellt, später ein politischer WandererWanderer zwischen links und rechts, enthält sich in seiner Gelehrsamkeit einer offenkundigen Wertung. Wenn man der hier ausgebreiteten, mit vielen Beispielen unterfütterten GeschichteGeschichte des modernen Kapitalismus eine programmatisch pejorative Wertung unterlegt, dann kommt aus einem ganz bestimmten Sichtwinkel die Figur des hässlichen Fremden und des Juden zum Vorschein, etwa wenn der Anteil und Beitrag der jüdischen Unternehmer an der Kolonisierung Amerikas geschildert wird.1

Manche der zitierten Passagen mögen heute unbehaglich, ja unkorrrekt anmuten, beschreiben indes die soziale Funktion des Fremden zunächst keineswegs ‚essenzialistisch‘ oder rassistisch, zum Beispiel als spezifische ethnischeEthnie Eigenschaft. Es ist die soziale Funktion, die im Mittelpunkt der Analyse steht.

Im Grundton kommt SombartsSombart, Werner Darstellung, auch wenn er nicht eigens auf den soziologischen DiskursDiskurs etwa SimmelsSimmel, Georg eingeht, diesem beträchtlich nahe. Seine kulturgeschichtliche Sichtweise bestimmter Fremder macht ihn schon vor der Machtergreifung Hitlers für das Lager der ‚Konservativen Revolution‘ zu einem gut rezipierbaren Theoretiker. Der Autor erwähnt zunächst einmal den Tatbestand der MigrationMigration selbst, den er, unverkennbar sozialdarwinistisch, als eine positive Auslese begreift:

Diejenigen Individuen, die sich zur Auswanderung entschließen, sind – zumal oder vielleicht: nur in den früheren ZeitenZeit, als jeder Ortswechsel und vor allem jede Übersiedlung in ein Kolonialland noch ein kühnes Unterfangen war – die tatkräftigsten, willensstärksten, wagemutigsten, kühlsten, am meisten berechnenden, am wenigsten sentimentalen Naturen; ganz gleich, ob sie wegen religiöser oder politischer Unterdrückung oder aus Erwerbsgründen sich zu der Wanderung entschließen.2

Wohlwollend in den heutigen politischen DiskursDiskurs übersetzt, bedeutet das: Der Migrant und die Migrantin sind besonders mobil, motiviert und flexibel. Sarkastisch gesprochen ließe sich auch sagen, dass sie damit durchaus einem Profil entsprechen, das im KapitalismusKapitalismus unserer Tage einen hohen Stellenrang einnimmt. Im Falle der heutigen MigrationMigration wird diese Möglichkeit freilich durch die bekannten staatlichen Schikanen verhindert. Was den entstehenden Kapitalismus der NeuzeitNeuzeit anbelangt, prädestiniert sie ihre Bereitschaft, die HeimatHeimat zu verlassen, SombartSombart, Werner zufolge dazu, unternehmerisch zu werden und damit einen gewissen ökonomischen Aufstieg zu erlangen, der lange nicht mit dem sozialen Status korrespondiert.

Die Migranten in frühkapitalistischer ZeitZeit erfüllen aber noch eine andere Tugend, die SombartSombart, Werner für die Entstehung des Unternehmers als eines soziokulturellen Typs für wichtig hält: ihren IndividualismusIndividualismus. Durch ihre MigrationMigration dokumentieren sie eindrucksvoll, dass sie sich im Gegensatz zu vielen Angehörigen ihrer verfolgten und benachteiligten religiösen, politischen oder kulturellen GruppeGruppe – Sombart erwähnt hier Hugenotten und JudenJuden – nicht anpassen wollen. Insofern haben sie, gewiss nicht ohne ZwangZwang, den Status der FremdheitFremdheit gewählt.

Dieser manifestiert sich im Zustand und Akt der Wanderung selbst, einer ErfahrungErfahrung, die Migranten von der Mehrheit der Bodenständigen unterscheidet. MenschenMensch, die fremdfremd sind, bringen also gute Voraussetzungen für die Entfaltung unternehmerischen Verhaltens mit; aber auch ihre Stellung als Fremde in der neuen HeimatHeimat scheint sie für die historisch neue Figur des kapitalistischen entrepreneurs zu prädestinieren. Das ist zum einen der „Abbruch aller alten Lebensgewohnheiten und Lebensbeziehungen“.3 Mit diesem Bruch hat das Herkunftsland für den Fremden aufgehört „eine WirklichkeitWirklichkeit zu sein“.4

 

Zu seiner neuen HeimatHeimat wiederum steht der Fremde in einer äußerlichen wie in einer inneren DistanzDistanz. Die KulturKultur, die er vorfindet, ist nicht von ihm geschaffen und verbleibt so in einer gewissen FremdheitFremdheit für ihn. Die neue Heimat kann demgemäß niemals mehr die unwiederbringlich verlorene alte sein. Distanziert ist der Fremde, der „in dem alten Kulturstaat“ – SombartSombart, Werner bezieht sich hier auf die prämodernen europäischen Staaten – lebt, aber auch deshalb, weil diese ständische OrdnungOrdnung ihm den Zugang zu bestimmten Berufen und vor allem die Teilnahme am öffentlichen LebenLeben verwehrt. Deshalb muss er sich beruflich selbst erfinden und wird nicht selten zum Projektemacher, wobei die Notwendigkeit des ökonomischen Überlebens eine handfeste Bedeutung besitzt. Sombart spricht das sehr plastisch, fast enthusiastisch aus, wenn er schreibt:

Es gibt für den Ausgewanderten – das gilt gleichermaßen für den EmigrantenEmigrant wie für den Kolonisten – keine VergangenheitVergangenheit, es gibt für ihn keine GegenwartGegenwart. Es gibt für ihn nur eine ZukunftZukunft. Und wenn erst einmal das GeldGeld in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist, so erscheint es fast als selbstverständlich, daß für ihn der Gelderwerb den einzigen Sinn wahrt als dasjenige Mittel, mit Hilfe dessen er sich seine Zukunft erbauen will. Geld erwerben kann er nur durch Ausdehnung seiner Unternehmertätigkeit.5

Es ist also auch die Not, die erfinderisch macht, sowie ein Bündel von ErfahrungenErfahrung, die mit FremdheitFremdheit zusammenhängen. Ähnlich wie bei SimmelSimmel, Georg tritt uns der Fremde hier als eine Figur vor Augen, in der sich Außenseitertum, Privilegierung und Innovation miteinander untrennbar vermischen. Und weil er im Status des Fremden verbleibt und damit auf DistanzDistanz zu den Anderen, Heimischen hält, ist er imstande, jenes Distanz erzeugende rationalistische Medium des Geldes besonders geschickt zu bedienen – was ihm, so lässt sich hinzufügen, sozialen NeidNeid eintragen kann. Denn für den heimischen Xenophoben kann der eingewanderte Fremde immer nur alles falsch machen: Scheitert er in seinem Bemühen, einen Platz in der neuen HeimatHeimat zu bekommen und bleibt arm, dann gilt er als Sozialschmarotzer. Gelingt ihm aber dank seiner sozialen Tugenden der Eintritt in die für ihn zunächst fremdefremd KulturKultur, dann nimmt er den Einheimischen alles weg.

Interessant ist, dass SombartSombart, Werner den Status des Fremden „in dem alten Kulturstaat“ von der Situation des Kolonisten in Amerika unterscheidet, in der alle eingewanderte Fremde sind, während sich der innereuropäische EmigrantEmigrant eben mit den Beschränkungen der ständisch-feudalen OrdnungOrdnung arrangieren muss, zu der er keinen Zutritt hat.

Manche Momente, die SombartSombart, Werner erwähnt, lassen sich auch in den Migrationsbewegungen unserer Tage wiederfinden, wobei die innereuropäische doch partiell eine zeitliche begrenzte MigrationMigration darstellt. Auch die pathetische Annahme des radikalen Vergessens der Herkunft, die für die Ausgewanderten keine „WirklichkeitWirklichkeit“ mehr sei, ist wohl selbst für die historische Migration im Frühkapitalismus zweifelhaft, wenn man sich anschaut, wie viele Migrationsgruppen ihre religiöse, sprachliche und/oder kulturelle ‚IdentitätIdentität‘ erhalten haben. Für die gegenwärtige Situation von MenschenMensch mit Migrationshintergrund ist, insbesondere unter den medialen Möglichkeiten unserer ZeitZeit, mit kulturellen Überlagerungen (‚HybriditätHybridität‘) zu rechnen (→ Kapitel 8.3., Kapitel 11).