Theorien des Fremden

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Ziel des Buches, das auf verschiedene Seminare zurückgeht, die der Verfasser im Laufe seiner akademischen Lehrtätigkeit gehalten hat, ist eine facettenreiche Darstellung der durchaus verschiedenen Annäherungen an das PhänomenPhänomen von AlteritätAlterität, die Diskussion ihrer Problematik und auch ihrer Brüchigkeiten, ihrer gesellschafts- und kulturpolitischen Implikationen. Ziel des Buches ist es auch, die in der Einleitung vorgenommene kategoriale Differenzierung des Alteritären – Alterität (DualitätDualität), FremdheitFremdheit (UnbekanntheitUnbekanntheit), Ausländisch-SeinSein (ExterritorialitätExterritorialität) – im Sinne einer die SpracheSprache einschließenden PhänomenologiePhänomenologie immer wieder zur Sprache zu bringen. Bei der Sichtung des theoretischen Materials ist es wichtig zu prüfen, welche FormForm von Alterität die jeweiligen Zugänge in den Mittelpunkt rücken und wie bzw. ob sie diese verschiedenen Dimensionen des ‚Fremden‘ herausarbeiten.

Dabei werden, wie gesagt, verschiedene Disziplinen und methodische Ansätze vorgestellt und diskutiert, PhänomenologiePhänomenologie und DekonstruktionDekonstruktion, systemische Konzepte der SoziologieSoziologie, cultural studies, diverse psychoanalytische Zugänge, komparatistische Ansätze, literarische und politische Perspektiven. Wie schon ein früheres Einführungsbuch des Verfassers (Kulturtheorie), ist auch dieses einem Verfahren verpflichtet, das als close reading bezeichnet wird. Programmatische Absicht des Buches ist, sich auf zumeist kurze und überschaubare Texte zu konzentrieren und diese auch hinsichtlich ihrer sprachlichen und rhetorischen Struktur gründlich und kommentierend zu lesen und zu befragen.

Bei der Auswahl des Materials kam es ganz unvermeidlich zur Qual der Wahl. Ein entscheidendes Kriterium war dabei, inwiefern die ausgewählten Texte im Sinne der DiskursanalyseDiskursanalyse Michel FoucaultsFoucault, Michel diskursbegründend sind bzw. waren,3 d.h. die gedankliche Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema, in diesem Falle FremdheitFremdheit, bestimmt haben. In diesem Zusammenhang liegt der Begriff der ‚klassischen‘ Texte nahe. Der SoziologeSoziologe Rudolf StichwehStichweh, Rudolf versteht, der philologischen TraditionTradition folgend, darunter Texte, „die gelesen und immer erneut gelesen werden“.4 Ein solcher Text wird auch dann noch gelesen, selbst wenn er im Kern zurückgewiesen worden ist, weil er, wie Stichweh unter Berufung auf Niklas LuhmannLuhmann, Niklas5 argumentiert, im Hinblick auf eine bestimmte „Problemstellung“ eine fortdauernde Geltung besitzt.6 Nicht selten werden in den Kapiteln neuere Texte aufgerufen und einer intensiven Lektüre unterzogen, die die Grundüberlegungen der Diskursbegründer weiterentwickelt haben.

Es war mir ein besonderes Anliegen, nicht nur die jeweiligen Stärken, sondern auch die Unzulänglichkeiten der jeweiligen Konzepte herauszuarbeiten. Entstanden ist ein Buch, das sich mit HeterogenitätHeterogenität befasst und selbst Theorien und Komplexe vorstellt, die in ihrer Unterschiedlichkeit und Inkompatibilität zeigen, wie vieldeutig und facettenreich AlteritätAlterität ist.

2. Die KonstruktionKonstruktion des Anderen in der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie
2.1. Der „gespenstische SchattenSchatten“ HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich

Das folgende Kapitel behandelt einen KulturtransferKulturtransfer zwischen DeutschlandDeutschland und FrankreichFrankreich. Er bezieht sich vornehmlich auf Georg Wilhelm Friedrich HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) und Martin HeideggerHeidegger, Martin (1889–1976), die nach dem 2. Weltkrieg einen maßgeblichen EinflussEinfluss auf das französische Denken erlangten. Im Falle Hegels steht dabei sein erstes und berühmtestes Werk, die PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist (1807), im ZentrumZentrum des Interesses der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie. Insbesondere ein einziger Abschnitt aus dem Schlüsselwerk des Deutschen IdealismusDeutscher Idealismus, nämlich jener, in dem Hegel sich mit der Entstehung des SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein beschäftigt, hat dabei eine prominente Rolle gespielt. Zu dessen Erlangung bedarf es, so Hegel, nämlich eines Gegenübers, eines Zweiten, eines potentiellen anderen ipse im Sinne von RicœursRicœur, Paul Theorie (→ Kapitel 1).

Der Idealismus HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich hat im Verlauf seiner RezeptionRezeption so manche Umwandlung erfahren, angefangen bei seinem Schüler Karl MarxMarx, Karl, der für sich reklamierte, dessen Philosophie vom KampfKampf auf die Füße gestellt zu haben,1 bis hin zur Luhmannschen SystemtheorieLuhmannsche Systemtheorie. Hegels Konzept eines ideellen Kampfes zwischen zwei potentiellen ‚Selbstbewußtseinen‘ ist nicht selten mit der Marxschen Konzeption des sozio-ökonomisch bestimmten KlassenkampfesKlassenkampf und in Verlängerung damit auch mit seiner Denkfigur der EntfremdungEntfremdung (→ Kapitel 11) verbunden worden. In der französischen Diskussion wird diese marxistische Adaption Hegels zwar aufgenommen (von Alexandre KojèveKojève, Alexandre wie von Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul), was angesichts der Allgegenwart des politischen MarxismusMarxismus in FrankreichFrankreich nach 1945 nicht weiter Wunder nimmt. Sie wurde aber insofern an entscheidender Stelle verändert und verfeinert, als Hegel zum Ausgangspunkt für ein Denken wird, das nunmehr die Figur des Anderen und nicht mehr die des SelbstSelbst in den Vordergrund rückt. Im Sinne der Unterscheidung der drei Phänomenlagen von AndersheitAndersheit (→ Kapitel 1) befinden wir uns also auf jener Ebene, die durch die Figur des Anderen bestimmt ist. Weder der ‚HerrHerr‘ noch der ‚KnechtKnecht‘ besitzenBesitzen positive (oder negative) Eigenschaften und Prädikate, es geht auch nicht darum, dass sie einander ‚fremdfremd‘ sind; ihre Verschiedenheit ergibt sich vielmehr aus einer RelationRelation, die als Kampf beschrieben wird. Dass sie sich unterscheiden, ist das Ergebnis eines Kampfes und bezieht sich auf ihre unterschiedliche Stellung in einem sozialen RaumRaum (sozial).

Von einem „gespenstischen SchattenSchatten HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich“ spricht Michel FoucaultFoucault, Michel in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France im Jahr 1970. Damit ist gemeint, dass die französische Philosophie, die nach 1945 durch Theorien wie die PhänomenologiePhänomenologie und den StrukturalismusStrukturalismus geprägt wurde, noch immer versuche, der Philosophie Hegels zu „entkommen“, von der sie ihren Ausgang genommen hat.2 Foucault ist sich in seinem Résumé übrigens keineswegs sicher, ob diese Befreiung von Hegel letztendlich gelungen sei:

Aber um HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich zu entkommen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.3

FoucaultFoucault, Michel gehört, wie wir noch sehen werden, zu jener zweiten GenerationGeneration französischer Nachkriegsphilosophen, die unter Berufung auf Karl MarxMarx, Karl und Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich die idealistische GeistGeist-Philosophie HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich und insbesondere seine DialektikDialektik und seinen Systemgedanken zu unterminieren trachten. In der Antrittsvorlesung würdigt der frisch berufene Epistemologe Foucault Jean HippolyteHippolyte, Jean, den Lehrer, Vorgänger und FreundFreund, der mit seiner ÜbersetzungÜbersetzung von Hegels PhänomenologiePhänomenologie zu einem neuen Verständnis des deutschendeutsch Philosophen beigetragen habe. Aus diesem GrundGrund werde seine französische Übertragung auch von „jenen Deutschen“ „konsultiert“, „um seine ‚deutsche Version‘ besser zu verstehen“.4 Hippolyte habe das „Hegelsche SystemSystem“ nicht als ein „beruhigendes Universum“, sondern vielmehr als „das äußerste Wagnis der Philosophie“ begriffen.5

Wenn in der oben zitierten ironischen Passage vom Anrennen gegen die Hegelsche List die Rede ist, so handelt es sich dabei um eine Anspielung auf dessen Philosophie der GeschichteGeschichte. In dieser erweist sich die VernunftVernunft durch eben jene List, die sich die BegehrenBegierde des Einzelnen zunutze macht, als die dominierende MachtMacht des historischen Prozesses, auch wenn dabei der Einzelne bzw. das Besondere zu Schaden kommen.6 Diese DialektikDialektik ist, wenn auch unausgesprochen, in der Auseinandersetzung zwischen HerrHerr und KnechtKnecht anwesendAnwesenheit: Zwar wird der Unterlegene als Knecht marginalisiert, doch dient das zugleich dem Fortschritt der Geschichte in Gestalt des triumphierenden SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein. Die Gegenwärtigkeit und Aktualität des „gespenstischen SchattensSchatten“ von HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich zeigt sich nicht zuletzt in den SpurenSpur, die seine Überlegungen in den philosophischen Alteritätsdiskursen unserer Tage hinterlassen haben. Exemplarisch soll dies anhand der in der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, unter Bezugnahme auf einflussreiche Philosophen wie Alexandre KojèveKojève, Alexandre und Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul, gezeigt werden.

2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen FrankreichFrankreich

Dass das Thema des Anderen und des Fremden und seine diversen Ausformungen so aktuell sind, ja sich geradezu aufdrängen, hat mit geschichtlichen Bedingungen zu tun, die im ersten einleitenden Kapitel umrissen wurden: Sie werden unter den Begriff einer GlobalisierungGlobalisierung gefasst, die politische, ökonomische, aber auch kulturelle Effekte zeitigt und die als ein Langzeitprozess zu verstehen ist. Diese Entwicklung ist ohne den Komplex der Eroberung der sog. Neuen WeltWelt und die daran anknüpfenden Kolonialisierungswellen undenkbar. Der KolonialismusKolonialismus ist die maßgebliche Ursache dafür, dass die Begegnung mit fremdenfremd KulturenKultur von einer kulturellen Schieflage, von einem asymmetrischenAsymmetrie Verhältnis geprägt ist, in der brutale Machtausübung, militärische ExpansionExpansion, Ausbeutung und menschliche Geringschätzung Hand in Hand gegangen sind. In diesem Zusammenhang kann erwähnt werden, dass zwei bedeutende französische Autoren, der Dichter Albert CamusCamus, Albert und der Philosoph Jacques DerridaDerrida, Jacques, aus Algerien stammen und beide den unermesslich blutig verlaufenen Prozess der kolonialen Befreiung hautnah miterlebt haben. Camus’ Der Fremde und Derridas Überlegungen zur AlteritätAlterität nähren sich nicht zuletzt aus dieser historischen ErfahrungErfahrung.1

 

Dieser realgeschichtlichen Entwicklung steht, komplementär und kontrastiv, eine Wende der okzidentalen philosophischen DiskurseDiskurs gegenüber. In dieser spielt die Figur des/der Anderen bzw. des/der Fremden eine zentrale Rolle, da sie die Allmacht des Ichs in FrageFrage stellt. Exemplarisch hierfür ist die Entwicklung der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, die in diesem Abschnitt vor allem Vincent DescombesDescombes, Vincent folgend skizziert werden soll.

DescombesDescombes, Vincent unterscheidet in seinem Überblickswerk, das den programmatischen Titel Le même et l’autre (Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in FrankreichFrankreich 1933–1978) trägt, zwei Perioden der französischen Philosophie. Die eine umfasst die GenerationGeneration jener, die nach 1900 geboren sind und deren Wirksamkeit sich auf die Jahre 1930 bis 1960 konzentriert. Diese fasst er mit der Formel von den drei H: HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich, HusserlHusserl, Edmund, HeideggerHeidegger, Martin. Diese drei deutschsprachigen Philosophen bilden Descombes zufolge die fixen Bezugsgrößen für die ältere Generation, also für Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul (1905–1980), Alexandre KojèveKojève, Alexandre (1902–1968), Jean HippolyteHippolyte, Jean (1907–1968), Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel (1906–1995) und Maurice Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice (1908–1961).

Die zweite Periode wird von der GenerationGeneration der zwischen 1915 und 1930 geborenen Philosophen repräsentiert, die dann ab den 1960er Jahren bestimmend wird und die sich an den Meistern des Zweifels orientieren. Bei letzteren handelt es sich wieder um deutschdeutschsprachige Denker: Karl MarxMarx, Karl (1818–1883), Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich (1844–1900) und Sigmund FreudFreud, Sigmund (1856–1939). Sie stellen wichtige Bezugsgrößen für den theoretischen DiskursDiskurs nach 1960 dar. DescombesDescombes, Vincent bezieht sich hierbei auf Theoretiker wie zum Beispiel Michel FoucaultFoucault, Michel (1926–1984), Roland BarthesBarthes, Roland (1915–1980) oder Jacques DerridaDerrida, Jacques (1930–2004).

Auffällig ist, wie gesagt, die DominanzDominanz deutschsprachiger Meisterdenker in diesem DiskursDiskurs. DescombesDescombes, Vincent kommt in diesem Zusammenhang auf das Problem der ÜbersetzungÜbersetzung zu sprechen. So wurde zum Beispiel HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist erst 1947 durch Jean Hipppolyte vollständig übersetzt und bis in die 1970er Jahre war das Hauptwerk HeideggersHeidegger, Martin SeinSein und ZeitZeit auf Französisch nicht zugänglich. Das Fehlen einer kanonisierten Übersetzung eröffnete freilich einen interpretatorischen und kontextuellen Spielraum und ermöglichte so großzügige Adaptionen. Kultureller TransferTransfer bedeutet immer auch die widersprüchliche, manchmal paradoxe Einfügung des Fremden in den eigenenEigentum Kontext. Dadurch verändert sich beides, das Eigene sowie das Fremde.

Die an sich erstaunliche RückkehrRückkehr zu HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich und damit verbunden seine Neu-Interpretation als „Avantgarde-Autor“ lassen sich auf verschiedene Faktoren zurückführen: Ein wesentliches Moment ist das wieder erwachte Interesse am Hegel-Schüler MarxMarx, Karl (der später eine anti-hegelianische, nämlich strukturalistische Lesart durch Louis AlthusserAlthusser, Louis, einen Autor der zweiten Periode der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, erfuhr2) und seinem Verständnis von geschichtlichem Handeln und vom Primat der Praxis (vgl. seine FeuerbachFeuerbach, Ludwig-TheseThesen als Kritik an der Philosophie).3 Ein anderer GrundGrund ist die Neubewertung speziell der PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist durch den russisch-französischen Philosophen Alexandre KojèveKojève, Alexandre.4 In diesem Zusammenhang erfahren die Hegelsche DialektikDialektik und die ihr zugrunde liegende Triade (These – AntitheseAntithese – SyntheseSynthese) eine überraschende Aufwertung. Diese Philosophie wird, andersAndersheit als bei PlatonPlaton, nicht mehr als Modus des DialogsDialog (das Abwägen des Für und Wider und die IntegrationIntegration bzw. Synthetisierung der beiden konträr erscheinenden Positionen), sondern als die maßgebliche, dynamische FormForm des historischen Entwicklungsprozesses selbst begriffen. Die Hegelsche Version der Dialektik wird, wie DescombesDescombes, Vincent hervorhebt, als Korrektiv zum Kantianischen RationalismusRationalismus verstanden. In diesem Sinne betrachtet etwa Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice Hegel als einen Vorgänger von Freud und NietzscheNietzsche, Friedrich.5 Dieser hat in Kojèves Deutung die Forderung nach einer „konkreten“, nicht-idealistischen Philosophie, die den „unvernünftigen UrsprungUrsprung der VernunftVernunft“ zum Thema macht, ins ZentrumZentrum gerückt.6 Bei Merleau-Ponty wird, wie später bei SartreSartre, Jean-Paul, Hegels Idealismus in eine ‚realistische‘ Philosophie integriert, in der das Primat der Vernunft kritisch hinterfragt wird (→ Kapitel 2.6.). Die moralische Last dieses Hegelianismus, in der die EthikEthik ein blinder Fleck ist, wird freilich auch schon von Kojève – Ausgangspunkt sind die Verbrechen des StalinismusStalinismus7 – thematisiert: „Der Erfolg spricht das Verbrechen los.“8

Die Entthronung HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich wiederum vollzieht sich, um bei DescombesDescombes, Vincent’ Generations-Schema zu bleiben, in der zweiten Etappe der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, etwa bei Gilles DeleuzeDeleuze, Gilles (1925–1995). In diesem intellektuellen Umfeld sind auch die bereits erwähnten Bemerkungen FoucaultsFoucault, Michel zu Hegel in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France Die OrdnungOrdnung des DiskursesDiskurs zu verstehen. Damit einher geht ein radikaler WandelWandel des Denkens. An die Stelle von NegationNegation und IdentitätIdentität, Pfeiler einer post-hegelianischen DialektikDialektik, tritt bei Deleuze9 und DerridaDerrida, Jacques eine Denkbewegung, in deren ZentrumZentrum die DifferenzDifferenz und die WiederholungWiederholung stehen. Descombes fasst diese folgendermaßen zusammen:

HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich hatte gesagt, der Unterschied sei in sich widersprüchlich. Nun aber geht es darum, einem Denken des nicht-widersprüchlichen, nicht-dialektischenDialektik Unterschiedes Bahn zu machen, der nicht das einfache Gegenteil der IdentitätIdentität ist und nicht unter dem ZwangZwang steht, sich ‚dialektisch‘ mit der Identität identisch erklären zu müssen.10

In dieser theoretischen Anstrengung, das Andere neu zu denken, wird eine bestimmte Auffassung von DifferenzDifferenz entscheidend. DerridaDerrida, Jacques wird den sprachlich ‚unmöglichen‘ Begriff der ‚différancedifférance‘ prägen, der phonetisch, nicht aber in der Schreibweise mit dem klassischen Terminus différencedifférence identisch ist. HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich DialektikDialektik fasst den Unterschied als kontrastiv, um diesen WiderspruchWiderspruch in einem zweiten Schritt zu versöhnen. Diese FormForm der IdentitätIdentität ist dialektisch. NarrativNarrativ gesprochen handelt es sich um die Versöhnung von Widersprüchen. Das anti-dialektischeanti-dialektisch Denken des Anderen beruht bei DeleuzeDeleuze, Gilles und noch stärker bei Derrida auf einer Auffassung, in der Differenz und Identität potentiell zusammenfallen, aber nicht infolge der Figur einer versöhnenden und abschließenden Dialektik. Die Differenz, die kein Widerspruch und kein Unterschied im klassischen Sinn ist, wird gleichsam als eine offene Stelle verstanden, die sich nicht schließt. Das SelbstSelbst und das Andere stehen sich als nicht oppositionell gegenüber, sondern sind schon von vornherein in der Differenz miteinander verbunden. Oder andersAndersheit ausgedrückt, die Differenz ist in dieser Version ein Grenzbegriff. Wie DescombesDescombes, Vincent betont, versteht sich die DekonstruktionDekonstruktion als eine Reflexion der okzidentalen Philosophie, die vor dem postkolonialenpostkolonial Hintergrund, hier dem Ende des KolonialismusKolonialismus, „als Ideologie der europäischen EthnieEthnie“ begriffen wird.11

ManMan, Paul de könnte den ÜbergangÜbergang von der einen Position zur anderen als die Radikalisierung eines rationalitätskritischen Denkens in FrankreichFrankreich, dem Land der AufklärungAufklärung und des RationalismusRationalismus, betrachten. Dieses entzündet sich an der Figur des Anderen und des Fremden als eines prinzipiell Unzugänglichen. Das Fremde ist durch eine GrenzeGrenze markiert, die freilich nicht genau festlegbar ist.

Das klassische, nicht-dialektischeDialektik Denken hat eine klare GrenzeGrenze zwischen dem RationalenRationale und dem IrrationalenIrrationale gezogen. Die dialektische Denkfigur wird nun als eine Möglichkeit begriffen, bisherige Grenzen zu überschreiten, die der klassischen VernunftVernunft verschlossen blieben. Aber damit geht eine Umkehrung der Auffassung von RationalitätRationalität einher. In dieser Denkbewegung kommt es zu einem strukturellen Bezug der Vernunft auf ein ihr ganz Fremdes, ihr Anderes. DescombesDescombes, Vincent schreibt in diesem Zusammenhang:

Die FrageFrage bleibt also, ob diese BewegungBewegung dazu führt, dass das Andere zum Selben gemacht wird, oder ob die VernunftVernunft, um gleichzeitig das RationaleRationale und das IrrationaleIrrationale, das Selbe und das Andere zu umfassen, eine Metamorphose vollziehen, ihre ursprüngliche IdentitätIdentität verlieren, dieselbe zu sein aufhören und mit dem Anderen eine andere werden wird. Das Andere der Vernunft aber ist die Unvernunft, der Wahnsinn. So stellt sich das Problem eines Weges von der Vernunft zum Wahnsinn oder zum Irrtum, eines Weges, ohne den es keinen Zugang zu wahrhafter Weisheit gibt.12

DescombesDescombes, Vincent’ Kommentar weist daraufhin, dass in der von DerridaDerrida, Jacques maßgeblich beeinflussten Denkbewegung das Selbe und das Andere nicht mehr einander gegenüberstehen, sondern auf paradoxe Weise einen Platzwechsel vollziehen. Das, was in der traditionellen LogikLogik im Sinne einer negativen Definition zur Bestimmung des SelbstSelbst als des Eigenen diente, nämlich das Andere, wird nunmehr zum Bestimmungsmoment dieses Selbst, das dadurch aber sein ‚Eigen-SeinSein‘ verliert. Damit wird auch die VernunftVernunft gleichsam deplatziert, weil sie weder das bestimmende Moment in der nunmehr paradoxen RelationRelation zwischen dem Selbst und dem Anderen darstellt, noch diese paradoxe Relation in ihren ‚klassischen‘ Figuren (NegationNegation, DialektikDialektik) erfassen kann.

Indem die VernunftVernunft aber ihr vorgängig Anderes, das Nicht-Vernünftige, den ‚Wahnsinn‘, nicht länger kategorisch ausschließt, verändert diese ihren Charakter. Es geht also nicht darum, die Vernunft in einem Akt klassischer NegationNegation zu verabschieden, sondern das Andere als ihren paradoxen Bestandteil zu begreifen. Das Denken der DifferenzDifferenz ist eines, das die GrenzeGrenze stark macht: Es handelt sich um jene Grenze, die sich das SelbstSelbst und das Andere ‚teilenteilen‘ (→ Kapitel 1). Der Terminus „Weisheit“, der von KojèveKojève, Alexandre entlehnt ist, steht in DescombesDescombes, Vincent’ Kommentar offenkundig für eine neue FormForm von Wahrheit, die den Wahnsinn umschließt.

Ganz offenkundig interpretiert DescombesDescombes, Vincent beide Perioden der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie in diesem Sinne. Denn die Umkehrung des Verhältnisses des Selben und des Anderen ist der Tendenz nach schon bei Denkern wie LévinasLévinas, Emmanuel, Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice oder KojèveKojève, Alexandre gegeben. Die Radikalisierung besteht vornehmlich darin, dass sich nachfolgende Denker wie DerridaDerrida, Jacques von jenen Denkfiguren verabschieden, die implizit noch immer die Vorstellung eines autonomenAutonomie SelbstSelbst tradieren. Der Andere13, von dem Descombes spricht, ist Derselbe oder fällt mit diesem in der DifferenzDifferenz zusammen.14 In diesem Sinn kommt es zur Überwindung der EntfremdungEntfremdung (→ Kapitel 11), aber auch zu einem Ende des MenschenMensch als eines handlungsmächtigen Wesens.