Theorien des Fremden

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Natürlich besteht zwischen diesen drei sich überlappenden Alteritätsphänomenen – AndersheitAndersheit (ZweiheitZweiheit), FremdheitFremdheit (UnbekanntheitUnbekanntheit) und Ausländisch-SeinSein (ExterritorialitätExterritorialität) – ein innerer und unkündbarer Zusammenhang, alle drei sind relational und beziehen sich auf etwas, das sich als widerständig oder irritierend erweist und das sich nicht aus der WeltWelt schaffen lässt. Der Status des Ausländischen und des Fremden kann sich ändern oder kann sogar verschwinden. Das PhänomenPhänomen jener AlteritätAlterität, die vielleicht den mir allernächsten MenschenMensch betrifft, bleibt jedoch grundsätzlich bestehen, auch wenn diese Beziehung in einem WandelWandel begriffen sein und sich verschieben mag. Die Alterität ist philosophisch gesprochen die ontologischeOntologie Voraussetzung für eine EthikEthik, die nicht einfach Anwendung von bestimmten NormenNorm und Werten ist, sondern sich im Sinne eines SubjektSubjekt-Subjekt-Verhältnisses fassen lässt, das philosophisch basal ist. In der Begegnung mit dem Anderen vollzieht sich jenes Moment der Annahme des Fremden und Anderen, das zugleich SelbstSelbst-Annahme bedeutet (→ Kapitel 4.5).

In seinem Buch Soi-même comme un autre (Das SelbstSelbst als ein Anderer) diskutiert der französische Philosoph Paul RicœurRicœur, Paul nicht nur die komplizierten RelationenRelation zwischen Selbst und (geschlechtsneutral) Anderem, sondern differenziert auch zwischen zwei Aspekten von IdentitätIdentität. Während Identität, im Sinne des lateinischenlateinisch Wortes idem, gleich, mit Beständigkeit in Raum und ZeitZeit verbunden ist, impliziert Identität im Sinne des lateinischen Wortes ipse, selbst, keineswegs einen unveränderlichen Kern von Persönlichkeit.7 Einerseits existiert Identität als ‚SelbigkeitSelbigkeit‘ (englisch: sameness, französisch: mêmeté), andererseits als SelbstheitSelbstheit (englisch: selfhood, französisch: ipseité). Das Wort même, das der Idem-Identität zugrunde liegt, wird als Gegensatz zu „andersAndersheit, verschieden, unterschieden, unterschiedlich, ungleich“ verwendet.8 Mit der Selbstheit (ipse) kommt, wie Ricœur schreibt, die „DialektikDialektik […] des Selbst und des Anderen“ ins SpielSpiel.9 Im Einklang mit dem Titel des Buches kommt der Philosoph zu dem Schluss, dass die „Andersheit“ die „Selbstheit“ konstituiert.10 Während ipse auf die FrageFrage Wer? bezogen ist, referiert idem auf die Frage Was? Selbigkeit ist, wie Ricœur schreibt, eine relationale Größe, während der zweite Aspekt von Identität qualitativer NaturNatur ist und auf die „größtmögliche Ähnlichkeit“ bezogen ist. Ricœur ergänzt jene qualitative bzw. prädikative Identität durch ein Prinzip der Beständigkeit und erläutert das am Beispiel eines Werkzeugs, dessen Struktur erhalten bleibt, auch wenn im Laufe der Zeit alle einzelnen Teile durch neue ersetzt worden sind.11

Im Sinne einer „DialektikDialektik“ von IdentitätIdentität und AlteritätAlterität gibt es demnach zwei nicht voneinander abzuleitende FormenForm von Identität, die, wie RicœurRicœur, Paul zeigt, durch narrative KonstruktionenKonstruktion miteinander verbunden sind. Es ist nämlich das NarrativNarrativ, das die Beständigkeit im WandelWandel und damit KontinuitätKontinuität generiert und garantiert. In der narrativen Konstruktion von Identität überlappen sich die beiden Aspekte von Identität.12 Das bedeutet indes, dass Identität wie Alterität das Ergebnis ein und derselben kulturellen DynamikDynamik darstellen, die ohne die Kulturtechnik des ErzählensErzählen undenkbar ist. Zugleich aber gibt es zwei Grundformen von Alterität: AndersheitAndersheit als Pendant (OppositionOpposition und Komplement) zur SelbstheitSelbstheit und FremdheitFremdheit wäre demnach Nicht-Selbstheit, Fremdheit als Gegenstück zur ‚SelbigkeitSelbigkeit‘ hingegen Nicht-Selbigkeit.

Die dritte Phänomenlage der AlteritätAlterität, die ExterritorialitätExterritorialität, das ‚Ausländische‘, die man natürlich auch als eine Sonderform der FremdheitFremdheit behandeln könnte, hat eine unverkennbar qualitative Bestimmung und gehört demnach zum Aspekt der IdentitätIdentität im engeren Sinne, der Idem-Identität. Aber das Ausländische hat eine unmissverständliche räumliche Dimension, die übrigens nicht konstant sein muss. Sie hängt ganz offensichtlich mit der Äquivokation des Wortes ‚sein‘ zusammen, die im Spanischen insofern aufgelöst wird, als dieses zwischen ser (sein) und estar (sich befinden) unterscheidet. Was zum Beispiel ÖsterreichÖsterreich ist und wo sich – je nach Perspektive – dieses In- bzw. AuslandAusland befindet, das hat sich binnen hundert Jahren dramatisch verändert, vom Imperium über den ‚angeschlossenen‘ Teil DeutschlandsDeutschland bis zur Zweiten Republik. Weil der exterritoriale Aspekt von Alterität räumlich ist, ist es naheliegend, diesen mit der FrageFrage Wo? zu verbinden. Wie der hübsche DialogDialog von Karl ValentinValentin, Karl sinnfällig macht, ist Fremdheit zentral auf den jeweiligen raum-zeitlichen Kontext bezogen. In diesem rein formalen Sinne sind wir allesamt potentiell Fremde in der von Valentin formulierten Tautologie: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“

1.3. AlteritätAlterität und Raum

Wie an mehreren Stellen deutlich wird, gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen dem Thema der AlteritätAlterität und einem anderen Themenkomplex, der mit dem „spatial turn“, der Hinwendung zu Phänomenen des Räumlichen, in Zusammenhang steht. Die Rede ist von der LiminalitätLiminalität, ohne die die Diskussion über räumliche oder auch raum-zeitliche PhänomenePhänomen nur schwer denkbar ist. Alle FormenForm von GrenzenGrenze und Rahmungen implizieren eine TeilungTeilung des realen, symbolischen und imaginären RaumRaum (imaginär)es, wobei das deutschedeutsch Wort ‚teilenteilen‘ einen doppelten Sinn in sich trägt. Etwas zu teilen, bedeutet einerseits eine Grenze zu ziehen (in unserem Falle also zwischen zwei Individuen), es meint aber andererseits auch, mit jemand anderem etwas gemeinsam zu haben. Das deutsche Wort teilen umfasst also die Bedeutung der beiden englischen Wörter separate und share. Interessanterweise ist das IndividuumIndividuum etymologisch als eine existentielle Entität zu begreifen, die, wie das Präfix ‚in‘ anzeigt, kein Teilbares (dividuum) ist. Im heutigen Verständnis ist aber dieses unteilbare SelbstSelbst indes fragmentiert und diese ‚Teilung‘ verbindet es wiederum mit einem Anderen. Das Gemeinsame in dieser reziproken AndersheitAndersheit ist eben der Grenzverlauf oder der trennende RahmenRahmen. Massimo CacciariCacciari, Massimo hat deshalb das Doppel-Phänomen der Grenze – TrennungTrennung und VerbindungVerbindung – mit den Begriffen limes und limen beschrieben, wobei ersteres das Hindernis und die Trennung darstellt, zweiteres die ÖffnungÖffnung und den ÜbergangÜbergang.1

Das klassische Gemälde ist von seiner Umgebung durch einen Bilderrahmen getrennt und zugleich mit ihm als seinem Kontext verbunden. Bekanntlich ist der RahmenRahmen, SimmelSimmel, Georg folgend,2 jenes Strukturelement, das dem, was es umrahmt, Bedeutung verleiht, indem es ihm einen Kontext zuweist, ohne den das so Gerahmte keine Bedeutung hat. Das gilt auch für jene vielschichtigen Dispositionen, die hier im Überbegriff des Alteritären, der AndersheitAndersheit, versammelt sind.

Wir sprechen über AndersheitAndersheit, weil wir in einer WeltWelt leben, in der sich das Denken darüber nachhaltig verändert hat. Nimmt man die GlobalisierungGlobalisierung nämlich nicht als einen Effekt, der sich vornehmlich auf die ZeitZeit nach 1989 bezieht, sondern im Sinne einer longue duréelongue durée, eines sich über Jahrhunderte erstreckenden Prozesses, so wird sichtbar, dass diese Globalisierung, die in der NeuzeitNeuzeit mit den außereuropäischen Entdeckungsreisen beginnt, gegenläufige Tendenzen in sich birgt, die den Vereinheitlichungstendenzen zuwiderlaufen und neue Partikularitäten begründen. Globalisierung bedeutet eine Weitung und ExpansionExpansion in den Raum. Sie nimmt insofern von europäischem BodenBoden ihren Ausgang, indem sie den Raum um Dimensionen, die zuvor undenkbar waren, öffnet und die zu Beginn dieser Ausfahrt mit phantastischen Welten und Völkern assoziiert worden sind. Diese unbekanntenunbekannt Populationen sind es nun, die als ‚Andere‘ konstruiert werden und somit die neuen peripheren Ränder der Erde bevölkern.3 Mit der Ausweitung des Raumes beginnen indessen die kollektiven Anstrengungen, diesen Raum zu komprimieren, einerseits durch die Überführung europäischer KulturKultur in die neu entdeckten Räume, andererseits durch die Entwicklung von MedienMedien, die eben diesen TransferTransfer von MenschenMensch, GüternGüter und IdeenIdee forcieren. Beispiele dafür sind die Beschleunigung des Schiffsverkehrs und die Erfindung der ‚LuftschiffeLuftschiff‘, der BuchdruckBuchdruck (Zeitung, technisch produzierte Bücher) und die sich daran anschließenden medialen Revolutionen im Bereich von InformationInformation und KommunikationKommunikation (RadioRadio, TelefonTelefon, ComputerComputer). Von entscheidender Bedeutung ist außerdem der kulturgeschichtliche Triumph der wohl wichtigsten Neuerung der Neuzeit, der Tauschwährung GeldGeld, die sich in diesem Langzeitprozess als entscheidendes Movens erweist, um das asymmetrischeAsymmetrie Zusammenwachsen der Welt voranzutreiben. Der unübersehbare Effekt all dieser Weiterentwicklung ist nämlich, dass sich, zumindest oberflächlich, Entferntes näher kommt. Dass der Globus, auf dem wir leben, eine runde Gestalt besitzt und sich nicht unendlich linear erstreckt, trägt real wie symbolisch zu diesem ZusammengehörigkeitsgefühlZusammengehörigkeitsgefühl bei. Letzteres manifestiert sich darin, dass wir eine globale KatastrophengemeinschaftKatastrophengemeinschaft geworden sind: Jeder Unfall, jedwede Umweltkatastrophe sowie die KriegeKrieg und Bürgerkriege dieser Welt werden in unterschiedlichen narrativen Versionen, von allen Menschen auf diesem Erdball wahrgenommen.

 

Die ÖffnungÖffnung der Räume mit der damit einhergehenden ErfahrungErfahrung des kulturell Fremden und die SchließungSchließung der Räume, die eine VerbindungVerbindung mit jenen neuen AlteritätenAlterität mit sich bringt, sind zwei einander bedingende Effekte. Sie sind Teil desselben kulturellen Prozesses, der keineswegs linear verläuft sondern Gegenreaktionen dadurch erfährt, dass neue GrenzenGrenze gesetzt werden, die Räume strukturieren und zugleich trennen. Ein Beispiel dafür ist der klassische NationalstaatNationalstaat, der nach innen HomogenisierungHomogenisierung forciert und sich – die europäische FlüchtlingskriseFlüchtlingskrise der Jahre 2015/2016 ist ein besonders illustratives Beispiel – gegen den EinflussEinfluss von außenAußen abschotten möchte bzw. diesen zumindest streng reglementieren und kanalisieren möchte. Mittels einseitiger territorialer und symbolischer Abgrenzung wird HeterogenitätHeterogenität produziert. Wie gegenläufig diese Prozesse verlaufen, lässt sich an den zentral-, ost- und südosteuropäischen MetropolenMetropolen erkennen: Keine von ihnen, weder Wien noch Budapest, weder Prag noch Belgrad, weder Zagreb noch Triest, weder Thessaloniki noch Wilna waren sprachlich, ethnischEthnie oder religiös homogen, sie sind es erst infolge des Ersten und Zweiten WeltkriegZweiter Weltkrieges bzw. durch die Ereignisse um und nach 1989 geworden. Umgekehrt strömen heute MenschenMensch aus ärmeren Teilen der WeltWelt in viele wohlhabende europäische und nicht-europäische Städte und generieren so neue Fremden und auch neue Heimaten.

Der marxistische SozialismusSozialismus hat sich zunächst als eine globale Alternative zur kapitalistischen GlobalisierungGlobalisierung verstanden und hat so dem kapitalistischen WeltmarktWeltmarkt und der medialen Globalisierung markante GrenzenGrenze gesetzt. Dazu gehören sichtbare Beschränkungen wie der Eiserne VorhangEiserner Vorhang sowie unsichtbare wie beispielsweise die Kontrolle von MedienMedien und Binnenmärkten.

Wie ich in einem anderen Buch (Niemand zu Hause) dargelegt habe, wird das Fremde in einem exotischen Sinn infolge dieser Doppelbewegung von ÖffnungÖffnung und SchließungSchließung zum raren Gut.4 Wer in den vielen Städten dieser WeltWelt mit dem Flugzeug landet, der ist nicht nur von der FremdheitFremdheit des anderen Landes überrascht, sondern auch davon, dass sich bestimmte Infrastrukturen ähneln und dass er dort neben Flughäfen und breiten Fahrstraßen all jene globalen ProdukteProdukt, Markennamen, elektronischen Ausrüstungen, Imbiss-Restaurants und postmodernepostmodern Einkaufszentren findet, die er auch aus seinem eigenenEigentum kulturellen Kontext kennt. Dieses Zusammenwachsen vollzieht sich an einer fragilen, sich schnell ändernden Oberfläche, die Marc AugéAugé, Marc als ein SystemSystem von Nicht-Orten bestimmt hat.5 Dennoch bleiben die klassischen, oft vormodernen OrteOrt, ohne die der modernemodern NationalismusNationalismus sein Auskommen nicht finden kann, nach wie vor als symbolische Ressourcen intakt. Unter der homogenisierenden Fassade einer gleichförmigen, scheinbar alles nivellierenden GlobalisierungGlobalisierung halten sich hartnäckig partikulare Charakteristika, die etwa einer stärkeren IntegrationIntegration Europas im Wege stehen; von diesen auch medial gepflegten Besonderheiten, die ja auch dem SelbstbildSelbstbild des multiplen Halbkontinents bis zu einem gewissen Grad entsprechen, profitieren in jüngster ZeitZeit nicht zuletzt radikale Rechte wie Linke, die gegen eine gemeinsame PolitikPolitik, KulturKultur und ÖkonomieÖkonomie bereits innerhalb Europas Sturm laufen. Problematisch ist dabei nicht so sehr der unvermeidliche Fortbestand von Partikularitäten, der zur prozessualen LogikLogik von Kultur gehört und der sich positiv als Vielheit von Fremdem begreifen lässt, sondern vielmehr die Instrumentalisierung der feinen Unterschiede für die WiederherstellungWiederherstellung von GrenzenGrenze, die nur mehr einen Aspekt des Teilens, nämlich den der Abschottung, im Sinn hat. Die neo-nationalistischen Strategien vieler europäischer Staaten lassen sich hier als plastisches Beispiel anführen.

Wo niemand zu Hause ist, da sind die MenschenMensch räumlich gesprochen potentiell unterwegs, ohne dass freilich die Menschen globale NomadenNomaden geworden sind. Gewiss, die privilegierten Erdenbürger ziehen in den Urlaub, sie nutzen akademische Austauschprogramme oder verlassen gar ihre angestammten Länder, aber eigentlich machen sie sich damit zugleich andernorts sesshaft:6 So wie sich MedienMedien und ZeichensystemeZeichensystem vermischen, so kombinieren sich umherziehende und sesshafte Existenzen. Das bedeutet aber auch, dass jene letztendlich auf der SesshaftigkeitSesshaftigkeit beruhenden fixen IdentitätenIdentität – und nichts anderes meint das problematische deutschedeutsch Wort ‚HeimatHeimat‘ – mit Anführungszeichen versehen werden sollten. Die – neue – Bedeutung von ‚Heimat‘ als einem OrtOrt, an dem sich der Mensch befindet, dem er sich zurechnet und in den er, unabhängig von seiner Herkunft, mitgestaltend eingreifen möchte, besitzt durchaus politisches und kulturelles Gewicht. Dennoch verfügt ‚Heimat‘ in dieser entpathetisierten kulturellen Neufassung nicht mehr über das gleiche metaphysische Potential wie der NationalismusNationalismus und FamilialismusFamilialismus,7 wie er dem traditionellen pathetischen Verständnis von ‚Heimat‘ im 19. und 20. Jahrhundert innegewohnt hat. Auch wenn neuerdings die Berufung auf Heimat, TraditionTradition und NationNation durch den RechtspopulismusRechtspopulismus wieder virulent wird, so ist doch eine gewisse SäkularisierungSäkularisierung des Heimat-Begriffs unübersehbar. Harmlos ist derlei politische Indienstnahme von ‚Heimat‘ indes keineswegs, vor allem dann, wenn die Anrufung des scheinbar substanziell Eigenen in einem Akt symbolischer Aufrüstung als binäre OppositionOpposition zu den diversen Phänomenlagen von FremdheitFremdheit und AndersheitAndersheit forciert wird.

„Niemand zu Hause“, das bedeutet auch, dass der modernemodern (post- bzw. hypermodernehypermodern) MenschMensch nicht mehr bei sich zu Hause ist. Während also das Fremde in der weiten WeltWelt draußen seine FremdheitFremdheit einzubüßen scheint, wächst das Fremde in der eigenenEigentum KulturKultur, äußerlich durch die AnwesenheitAnwesenheit von Menschen aus historisch anderen Kulturen, innerlich durch die Einsicht jener SelbstSelbst-Fremdheit, wie sie Sigmund FreudsFreud, Sigmund Lehre vom UnbewusstenUnbewusste nahelegt (→ Kapitel 3). Nicht zuletzt – und das wäre ein anderer, letztendlich auf den frühen Karl MarxMarx, Karl rekurrierender kulturkritischer Befund – ist dem Menschen jene Welt, die er selbst als ein kollektiver Demiurg ge- und erschaffen hat, fremdfremd geworden. Das Entäußerte tritt ihm dabei, so die einstmals sehr prominente und heute ein wenig verschattete Theorie der EntfremdungEntfremdung, als ein fremdes Anderes und Unbekanntes entgegen (→ Kapitel 11).

Der Einbruch der Figur des bzw. der Anderen (Singular und Plural, MannMann und FrauFrau) in den philosophischen DiskursDiskurs wäre neben der GlobalisierungGlobalisierung der zweite RahmenRahmen, innerhalb dessen heute PhänomenePhänomen des Alteritären verhandelt werden. Er bedeutet den Bruch mit einer TraditionTradition des Philosophierens, die vornehmlich – Ausnahmen hat es immer gegeben – monologisch und monadisch nach dem Verhältnis von MenschMensch und WeltWelt gefragt hat und letzte dabei unter die Kategorie eines gegenständlichen ObjektsObjekt gefasst hat, mit dem das theoretisch fragende SubjektSubjekt konfrontiert ist. Dieser Bezug ist heute von einem anderen gleichsam überschrieben, in dem es um die RelationRelation zwischen Subjekten, um eine Subjekt-Subjekt-Beziehung geht. Martin BuberBuber, Martin und Gabriel MarcelMarcel, Gabriel haben sie im Sinne einer Ich-Du-Beziehung skizziert, aber vielleicht markiert dieses Du doch tendenziell ein exklusives und intimesintim Verhältnis zweier Menschen und unterschlägt eben die in und durch die ModerneModerne erkannte und formulierte ‚HeimatlosigkeitHeimatlosigkeit‘ des modernenmodern Menschen, der sich selbst fremdfremd ist und dem auch sein Gegenüber an einem entscheidenden Punkt fremd bleibt. Insofern beginnt der Diskurs der AlteritätAlterität, der mit der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie anfängt, tatsächlich erst, als dieses Gegenüber in einem schillernden und vieldeutigen Sinn mit dem Epitheton des Anderen versehen wird.

Der Blick auf die beiden Rahmungen unseres Themas, GlobalisierungGlobalisierung einerseits, AlteritätAlterität andererseits, macht deutlich, dass diese Überlagerungen sich wechselweise produktiv beeinflussen, ohne doch theoretisch und ‚kategorisch‘ identisch zu sein. Rückt nämlich der mit den Globalisierungsphänomenen befasste kulturwissenschaftliche Blick die Figur des oder der kulturell Anderen, der mit der Zuschreibung des Ausländisch-Exterritorialen und darüber hinaus mit der des Fremden verbunden ist, ins ZentrumZentrum, so kreist der philosophische viel stärker um die FrageFrage der ZweiheitZweiheit, GespaltenheitGespaltenheit und FragmentierungFragmentierung der conditio humanaconditio humana. Die FremdheitFremdheit, die sich dabei auftut, unterscheidet sich prinzipiell von der traditionellen AngstAngst-LustLust vor anderen KulturenKultur. Strukturell löst sie ebenfalls Angst-Lust aus, aber sie entzündet sich nicht an der kulturellen Fremdheit eines MenschenMensch, sondern an der Tatsache, dass es ein unübersteigbares Moment an Fremdheit in uns gibt, das wir nicht zu übersteigen vermögen, das wir im Sinne einer nachtraditionellen EthikEthik aber produktiv entfalten können.

1.4. FremdheitFremdheit als transdisziplinäres Paradigma

Es gibt, wie der Verweis auf SimmelSimmel, Georg nahelegt, eine ältere, aber stets erneuerte soziologische und sozialwissenschaftliche Diskursschicht, die den Anderen vornehmlich in seiner gesellschaftlichen Funktion begreift und dabei zumeist zwischen stratifikatorischen und funktionell differenzierenden Gesellschaftskonstruktionen unterscheidet. Auch diese Funktion ist nicht einheitlich. Sie reicht vom Fremden als FeindFeind oder als SündenbockSündenbock über die Zuweisung als SchiedsrichterSchiedsrichter bis zu speziellen Zuweisungen. Immer spielen dabei UnbekanntheitUnbekanntheit, Konflikt und Unterwerfung (bis zur SklavereiSklaverei) eine zentrale Rolle.

Erstaunlich ist, wie wenig die aus verschiedenen Disziplinen heraus entstandenen Konzepte von FremdheitFremdheit miteinander im DialogDialog stehen bzw. wie die Debatten aus anderen Diskursen diesen Dialog systematisch ignorieren. So wird man in der in den Vergleichenden LiteraturwissenschaftenVergleichende Literaturwissenschaften entstandenen ImagologieImagologie nur selten auf naheliegende und anschließbare soziologische oder kulturwissenschaftliche Perspektiven verwiesen. Auch im soziologischen FunktionalismusFunktionalismus wird allenfalls auf bestimmte philosophische TraditionenTradition rekurriert, aber die Bezugnahme zu gegenwärtig aktuellen psychoanalytischen oder dekonstruktivistischen Theorien wird gemieden.

Das lässt sich etwa an der empfehlenswerten einführenden Studie von Yaşar AydınAydın, Yaşar Topoi des Fremden ablesen, die den Fremden als WandererWanderer und potentiellen ZuwandererZuwanderer, als kulturellen Hybriden und als AußenseiterAußenseiter präsentiert, die philosophische Dimension der AlteritätAlterität freilich ebenso außer Acht lässt wie die DifferenzDifferenz von Fremdem und AusländerAusländer. Aydın verweist in seinen Überlegungen zur Genese des ToposTopos des Fremden auf so unterschiedliche Momente wie den (postmodernistischen) DiskursDiskurs über die ModerneModerne, die Herabstufung des Fremden, den Begriff der EntfremdungEntfremdung, den Begriff der Verantwortung im Sinne von LévinasLévinas, Emmanuel oder die IdeeIdee der ReziprozitätReziprozität bei HonnethHonneth, Axel und RicœurRicœur, Paul, ohne die zumindest partielle Differenz von FremdheitFremdheit und Alterität ins Blickfeld zu rücken. PsychoanalysePsychoanalyse, KulturKultur- oder Literaturwissenschaft kommen gar nicht zur SpracheSprache und werden auch nicht eigens erwähnt.1

Gleichwohl halte ich die von dem Autor vorgenommene Typologie von Theorien und Konzepten des Fremden für erhellend. AydınAydın, Yaşar unterscheidet vier gesellschaftstheoretische Denkmodelle:

 

1 Das Modell des Fremden als eines negativen Kontrastes zum Eigenen. Als Theoretiker führt er hier – in kritischer und nicht-affirmativer Intention – Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard an (→ Kapitel 5).

2 Das Modell, das FremdheitFremdheit auf EntfremdungEntfremdung zurückführt und von HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich entworfen und von MarxMarx, Karl und der marxistischen Theorie systematisch ausgearbeitet wurde (→ Kapitel 11).

3 Das Modell, das FremdheitFremdheit und die Vorrangigkeit des Fremden vor dem Eigenen postuliert, so das Verständnis von LévinasLévinas, Emmanuel Philosophie der AlteritätAlterität (→ Kapitel 4).

4 Das Modell, das EigenheitEigenheit und FremdheitFremdheit als reziprok begreift. Dieses Modell verbindet er mit Axel HonnethHonneth, Axel, einem Erben der Kritischen Theorie, sowie mit Paul RicœurRicœur, Paul.2

Es ist ganz offenkundig, dass sich die vier vorgestellten Modelle auch darin unterscheiden, was sie unter ‚FremdheitFremdheit‘ verstehen, einmal den Kontrast gegenüber einer anderen fremdenfremd KulturKultur (Modell 1), sodann einen Prozess der EnteignungEnteignung, in dem das kulturelle Moment zunächst gar keine Rolle spielt (Modell 2), während die Pointe bei LévinasLévinas, Emmanuel ja gerade darin besteht, ‚Fremdheit‘ in der AlteritätAlterität des Vertrauten, des Nicht-Exotischen, im Gegenüber zu verorten. Und auch bei RicœurRicœur, Paul geht es nicht primär um die Figur eines MenschenMensch, der aus einer anderen Kultur stammt bzw. dessen Herkunft dunkel und mysteriös ist. Anders ausgedrückt: Das Thema ‚Fremdheit‘ changiert zwischen kultureller Prädikation (der kulturell Fremde, ‚der Türke‘) und universaler Prädikatslosigkeit, die sich in der Begegnung eines Anderen vollzieht, der nicht (mehr) im Sinne einer sozialen oder kulturellen KonstruktionKonstruktion ‚fremd‘ ist.

Das vorliegende Buch ist als eine fächerübergreifende und transdisziplinäre Einführung konzipiert, in der neben philosophischen Fragestellungen auch kulturtheoretische und literaturwissenschaftliche Ansätze zur SpracheSprache kommen, die in den sozialwissenschaftlichen Abhandlungen zumeist zu kurz kommen. Es verfolgt den Anspruch, möglichst viele, im Bereich von Sozial- und Humanwissenschaften relevante, theoretische Ansätze zu thematisieren und ihren je spezifischen Beitrag zum Verständnis alteritärer PhänomenePhänomen zu würdigen. Dabei werden die verschiedenen Ansätze möglichst textnah vorgestellt und diskutiert. Nach der in diesem Eingangskapitel skizzierten Begriffsklärung kommt in Kapitel 2 HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich überaus einflussreicher Text aus der PhänomenologiePhänomenologie über HerrHerr und KnechtKnecht zur Sprache, ohne den der französische philosophische Nachkriegsdiskurs über AlteritätAlterität und DifferenzDifferenz undenkbar wäre. Kapitel 3 präsentiert Denkformen des Fremden im Umfeld von RomantikRomantik und PsychoanalysePsychoanalyse. Wie nicht zuletzt Freuds Kommentar zu E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A. nahelegt, hat die Romantik psychoanalytische Denkfiguren des Fremden und des UnbewusstenUnbewusste wie auch soziologische Bestimmungen des Fremden gebündelt und vorweggenommen. In diesem Kapitel wird auch Julia KristevasKristeva, Julia einflussreiches und bahnbrechendes Buch über FremdheitFremdheit diskutiert, das sich auf den romantischen und den psychoanalytischen DiskursDiskurs, wie er in Freuds Hoffmann-Lektüre gebahnt wurde, bezieht. Das vierte und das fünfte Kapitel, die in so mancher Hinsicht an Kapitel 2 anschließen, stellen die bedeutsamen Beiträge von Ansätzen vor, die im Umfeld phänomenologischen Denkens entstanden sind. Dabei kommt den SchriftenSchrift von Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel und Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard eine besondere, nämlich auch korrektive Bedeutung zu. Daran anschließend werden in Kapitel 6 all jene sozialwissenschaftlichen Ansätze zur Sprache kommen, die im Anschluss an Georg SimmelSimmel, Georg und Alfred SchützSchütz, Alfred und später an Niklas LuhmannsLuhmann, Niklas SystemtheorieSystemtheorie Fremdheit als soziale KonstruktionKonstruktion begreifen. Kapitel 7 unternimmt eine intensive Lektüre von LacansLacan, Jacques SpiegelstadiumSpiegelstadium-Aufsatz und seiner Implikation für eine Theorie des Alteritären. Um BildkonstruktionenBildkonstruktion des Anderen geht es im Anschluss daran in dem Kapitel über ImagologieImagologie, in dem das theoretische Selbstverständnis der Aachener SchuleAachener Schule, der OrientalismusOrientalismus Edward SaidsSaid, Edward sowie die Analyse des kolonialen StereotypsStereotyp bei Homi K. BhabhaBhabha, Homi K. vorgestellt und kommentiert werden. Kapitel 9 behandelt die Denkfigur der DekonstruktionDekonstruktion und ihre ‚Strategie‘, bestehende, selbstverständliche GrenzenGrenze in FrageFrage zu stellen, im Fall Jacques DerridasDerrida, Jacques die Differenz von MenschMensch und TierTier, im Falle Jean-Luc NancysNancy, Jean-Luc jene von GesundheitGesundheit und KrankheitKrankheit. Nicht nur wird Krankheit als eine potentiell lebensbedrohende MachtMacht erfahren, sondern auch die medizinische Therapie, die im Falle von Nancy in der ImplantationImplantation eines fremdenfremd Herzens gipfelt. Immer geht es dabei darum, den Fremden bzw. das Fremde als das Ergebnis von binären Denkstrukturen zu begreifen, ohne die die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem undenkbar wäre. Diese reflexive Subversion spielt auch für die Kategorie des GeschlechtsGeschlecht und insbesondere für die GeschlechterdifferenzGeschlechterdifferenz eine maßgebliche Rolle, die in Kapitel 10 erörtert werden, wobei Texte aus dem differenztheoretischen FeminismusFeminismus (Luce IrigarayIrigaray, Luce) konstruktivistischen Denkweisen (Judith ButlerButler, Judith) gegenübergestellt werden. Im Kapitel 11 kommt ein Diskurs zur Sprache, der zeitweilig bereits historisch geworden zu sein schien, von dem aber noch immer nicht unerhebliche subkutane kulturpolitische Impulse ausgehen. Die Rede ist von der höchst aufschlussreichen Kategorie der ‚EntfremdungEntfremdung‘, die auf der TheseThese und dem NarrativNarrativ von Karl MarxMarx, Karl basiert, wonach es die modernemodern okzidentale kapitalistische ProduktionProduktion ist, die systematisch und strukturell Fremdheit erzeugt. Hierbei wird ‚Entfremdung‘ (ein Begriff, der ja eigentlich eine Rücknahme von Fremdheit meint), zum Inbegriff einer in ihrem Kern als tragisch interpretierten Selbstfremdheit des Menschen. Alle gesellschaftlichen und kulturellen Befreiungsbewegungen des 19., 20. und womöglich auch noch des 21. Jahrhunderts haben sich an diesem Befund entzündet. Die Konstatierung wachsender Fremdheit menschlicher Befindlichkeit bildet ein tragendes Element in allen FormenForm und Versionen von kritischen Theorien, von ihren Anfängen bei György LukácsLukács, György und Walter BenjaminBenjamin, Walter, über Günther AndersAnders, Günther bis zu Theodor W. AdornosAdorno, Theodor W. Spätwerk. Eine gänzlich andere Produktion des Fremden und Befremdlichen rückt mit der PhantastikPhantastik in den Vordergrund (→ Kapitel 12). Dabei springt einem der Zusammenhang von Fremdheit und LiminalitätLiminalität ins Auge. Über ÜbersetzungÜbersetzung als Mediation von Fremdheit geht es im dreizehnten und letzten Kapitel dieses Buches. Dabei werden im Anschluss an Benjamins Überlegungen zur ArbeitArbeit des Übersetzens literatur- (George SteinerSteiner, George) und kulturwissenschaftliche Ansätze (Boris BudenBuden, Boris) vorgestellt. Das Thema ‚HybriditätHybridität‘ wird in die Kommentierung miteinbezogen, in der es um eine SubjektSubjekt-Konstellation geht, in der die Differenz von EigenheitEigenheit und Fremdheit überwunden scheint und die Eigenheit als Fremdheit und umgekehrt die Fremdheit als Eigenheit erscheint.