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Die Blinde

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Sechstes Kapitel.
Giebt es keine Entschuldigung für ihn?

Oscar‘s Diener, der nach seiner Kündigung noch einen Monat lang das Haus zu hüten hatte, öffnete mir die Hausthür. Obgleich es eine für die primitiven Dimchurcher Verhältnisse späte Stunde war, schien der Mann doch bei meinem Anblick durchaus nicht überrascht zu sein.

»Ist Herr Nugent Dubourg zu Hause?«

»Ja, Madame,« antwortete er und fügte dann mit leiserer Stimme hinzu, »ich glaube, Herr Nugent hat darauf gerechnet, Sie heute Abend zu sehen.«

Gleichviel ob absichtlich oder nicht, hatte der Diener mir einen guten Dienst geleistet, er hatte mich dahin gebracht, auf meiner Hut zu sein. Nugent Dubourg kannte meinen Charakter besser, als ich den seinigen gekannt hatte. Er hatte vorausgesehen, was erfolgen werde, wenn ich bei meiner Rückkehr nach dem Pfarrhause von Lucilla’s Besuch hörte, und er hatte sich ohne Zweifel demgemäß vorbereitet. Ich bekenne, daß ich mich einer gewissen nervösen Aufregung nicht erwehren konnte, als ich dem Diener in das Wohnzimmer folgte. In dem Augenblick jedoch, da er die Thür öffnete, verließ mich diese ängstliche Befangenheit ebenso plötzlich wie sie gekommen war. Ich fühlte mich wieder ganz als die Wittwe Pratolungo’s, als ich das Zimmer betrat.

Eine Leselampe mit dunklem Schirm war das einzige auf dem Tisch befindliche Licht. Neben dieser Lampe saß mit einem Buch in der Hand und einer Cigarre im Munde, behaglich ausgestreckt in einem Lehnstuhl, Nugent Dubourg. Bei meinem Eintritt legte er das Buch auf den Tisch und stand auf, mich zu empfangen. Jetzt, wo ich wußte, mit was für einem Menschen ich zu thun hatte, war ich entschlossen, mir auch die geringfügigsten Umstände nicht entgehen zu lassen. Es konnte mir vielleicht zum Verständniß seines Wesens förderlich sein, wenn ich wußte, womit er sich, während er mich erwartete, beschäftigt hatte.

Ich sah mir das Buch an, es waren Rousseau’s »Confessions«. Er trat mir mit einem freundlichen Lächeln entgegen und reichte mir die Hand, als ob nichts vorgefallen wäre, was unsere gewöhnlichen Beziehungen zu einander hätte stören können. Ich trat einen Schritt zurück und sah ihn an.

»Wollen Sie mir nicht die Hand geben?« fragte er.

»Ich will Ihnen gleich darauf antworten« sagte ich, »wo ist Ihr Bruder?«

»Das weiß ich nicht«

»Sobald Sie es wissen und Ihren Bruder in dieses Haus zurückgeführt haben werden, Herr Nugent Dubourg, will ich Ihnen die Hand geben, nicht eher.«

Er verneigte sich mit einem satyrischen Achselzucken und fragte mich, ob er mir einen Stuhl anbieten dürfe. Ich nahm mir selbst einen Stuhl und stellte denselben so hin, daß ich ihm gegenüber sitzen mußte, sobald er seinen Sitz wieder einnahm. Im Begriff, sich niederzusetzen, blieb er stehen und sah nach dem offenen Fenster.

»Soll ich meine Cigarre wegwerfen? « fragte er.

»Meinetwegen nicht, mir macht das Rauchen nichts« .

»Ich danke Ihnen.« Er setzte sich wieder und zwar so, daß der von der Lampe geworfene Schatten auch auf sein Gesicht fiel. Nachdem er einige Züge geraucht hatte, sprach er wieder, ohne mich anzusehen. »Darf ich fragen, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?«

»Zweierlei. Erstens die Absicht, Sie zu bestimmen, Dimchurch morgen früh zu verlassen. Zweitens der Entschluß, Ihren Bruder wieder mit seiner Verlobten, zu vereinigen.«

Er sah erstaunt zu mir auf. Die Reizbarkeit meines Temperaments, wie er sie kannte, machte, daß er nicht auf die vollkommene Ruhe in Ton und Wesen gefaßt war, mit welcher ich seine Frage beantwortet hatte. Dann heftete er seinen Blick auf seine Cigarre, stieß die Asche ab und dachte einen Augenblick nach, bevor er wieder sprach.

»Ich komme gleich auf die Frage meiner Abreise von Dimchurch,« sagte er. »Haben Sie einen Brief von Oscar erhalten?«

»Ja.«

»Haben Sie ihn gelesen?«

»Ja.«

»Dann wissen Sie, daß wir uns verständigt haben?«

»Ich weiß, daß Ihr Bruder sich für Sie geopfert hat und daß Sie sich dieses Opfer in niedriger Weise zu Nutze gemacht haben.«.

Er fuhr zusammen und sah wieder erstaunt zu mir auf. Ich sah, daß etwas in meiner Ausdrucksweise oder in meinem Ton ihn empfindlich getroffen hatte.

»Sie haben ein Privilegium als Dame.,« sagte er, »aber mißbrauchen Sie dasselbe nicht. Was Oscar gethan hat, hat er aus eigenem Antriebe gethan.«

»Was Oscar gethan hat,« erwiderte ich« »ist bejammernswerth thöricht und höchst verkehrt; aber bei aller Verkehrtheit liegt doch in dem Motiv, das ihn dabei geleitet hat, etwas Großmüthiges, etwas Edles. Was dagegen Ihr Benehmen bei dieser Gelegenheit betrifft, so kann ich keine anderen als niedrige und feige Motive für Ihre Handlungsweise erkennen.«

Er sprang auf und warf seine Cigarre in das leere Kamin.

»Madame Pratolungo» sagte er, »ich habe nicht die Ehre, irgend etwas von Ihrer Familie zu wissen. Ich kann eine Frau für eine mir von derselben angethane Insulte nicht zur Rechenschaft ziehen. Haben Sie vielleicht in oder außerhalb Englands einen männlichen Verwandten?«

»Ich habe zufällig etwas, was bei dieser Gelegenheit dieselben Dienste leisten wird, erwiderte ich. »Ich habe eine herzliche Verachtung für Drohungen aller Art und eine nicht zu erschütternde Entschlossenheit, zu sagen, was ich denke«

Er ging nach der Thür und öffnete dieselbe mit den Worten:

»Ich muß Ihnen die Gelegenheit nehmen, noch weiter etwas zu sagen. Ich bitte um die Erlaubniß, Sie hier allein lassen und Ihnen einen guten Abend wünschen zu dürfen.«

Er öffnete die Thür. Als ich das Haus betrat, hatte ich mich für den äußersten Fall mit einem verzweifelten Entschluß gewaffnet, den ich nur im äußersten Nothfall ihm oder sonst Jemand mittheilen wollte. Jetzt war der Augenblick gekommen, wo ich das sagen mußte, was ich von ganzem Herzen gehofft hatte, ungesagt lassen zu können.

Ich stand gleichfalls auf und hielt ihn, als er im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, zurück.

»Setzen Sie sich ruhig wieder hin und lesen Sie weiter, sagte ich. »Unsere Zusammenkunft ist zu Ende. Bevor ich dieses Haus verlasse, habe ich Ihnen nur noch ein letztes Wort zu sagen. Sie vergeuden nur Ihre Zeit, wenn Sie noch länger in Dimchurch bleiben.«

»Das muß ich selbst am besten beurtheilen können»,antwortete er, indem er mir Platz machte, um mich hinaus zu lassen.

»Verzeihen Sie mir, aber Sie sind durchaus nicht in der Lage, das beurtheilen zu können. Sie wissen nicht, was ich zu thun entschlossen bin, sobald ich nach dem Pfarrhause zurückkomme.«

Sofort änderte er seine Stellung und postierte sich vor die offene Thür, um mich so zu verhindern, das Zimmer zu verlassen.

»Und was sind Sie entschlossen, zu thun?« fragte er, indem er seine Augen fest auf die meinigen geheftet hielt.

»Ich bin entschlossen, Sie zu zwingen, Dimchurch zu verlassen.«

Er lachte frech. Ich aber fuhr ebenso ruhig wie bisher fort. »Sie haben sich diesen Morgen gegen Lucilla für Ihren Bruder ausgegeben,« sagte ich. »Sie haben das zum letzten Mal gethan, Herr Nugent Dubourg.«

»So? Wer will mich verhindern, es noch einmal zu thun?«

»Ich.«

Diesmal nahm er die Sache ernst.

»So? « fragte er.

»Wie wollen Sie mich denn kontrollieren. Wenn ich fragen darf?«

»Ich kann Sie durch Lucilla kontrollieren. Wenn ich in’s Pfarrhaus zurückkomme, kann und will ich Lucilla die Wahrheit sagen.«

Er fuhr zusammen, faßte sich aber sofort wieder.

»Sie vergessen etwas« Madame Pratolungo. Sie vergessen, was der behandelnde Arzt uns gesagt hat.«

»Das ist mir vollkommen gegenwärtig. Er erklärte, wenn wir irgend etwas sagten oder thäten, was seine Patientin in Ihrem gegenwärtigen Zustande aufregen könne, nicht für die Folgen einstehen zu können.«

»Nun?«

»Nun, bei der Alternative, die mir gestellt ist, entweder Sie gewähren und Beiden das Herz brechen zu lassen oder der Warnung des Arztes zu trotzen, habe ich, so furchtbar auch diese Wahl ist, meine Wahl getroffen.

Ich sage Ihnen gerade in’s Gesicht. lieber will ich, daß Lucilla wieder erblindet, als daß sie Ihre Frau wird.«

Die Stärke seiner Position hatte sich in seiner Vorstellung auf die Ueberzeugung gegründet, daß Grosse’s ärztliche Autorität mir die Zunge binden werde.

Jetzt hatte ich seine Berechnung zu Schanden gemacht.

Er wurde todtenbleich, wie ich trotz der matten Beleuchtung sehr wohl erkennen konnte.

»Ich glaube Ihnen nicht!« sagte er.

»Kommen Sie morgen nach dem Pfarrhause,« antwortete ich, »und Sie werden sehen. »Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen. Lassen Sie mich hinaus.«

Vielleicht glaubt der Leser, ich habe ihn nur erschrecken wollen. Das wäre aber durchaus irrig. Man mag mich tadeln oder mir zustimmen – aber ich kann versichern, daß es mir mit dem Entschluß, den ich aussprach, vollkommener Ernst war. Ob mein Muth während des Ganges von Browndown vorgehalten haben und ob ich nicht schließlich Lucilla gegenüber vor der Ausführung zurückgeschreckt sein würde, das ist mehr; als ich selbst zu sagen vermag. Alles was ich sagen kann, ist, daß ich in meiner Verzweiflung fest entschlossen war, meine Drohung auszuführen und daß Nugent Dubourg aus meiner Stimme etwas heraushörte, was ihm sagte, daß es mir mit meinen Worten Ernst sei.«

»Sie Teufel!« schrie er, indem er mit wüthenden Blicken auf mich zutrat. Die leidenschaftliche Gluth der Liebe, welche der Elende für sie fühlte, machte ihn am ganzen Leibe zittern, als sich sein Abscheu vor mir in jenen beiden Worten Luft machte.

»Verschonen Sie mich mit Ihrer Ansicht über meinen Charakter,« sagte ich. »Ich kann von Ihnen kein Verständniß für die Motive einer rechtschaffenen Frau erwarten. Zum letzten Mal, lassen Sie mich hinaus.«

Aber statt mich hinauszulassen, verschloß er die Thür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann wies er aus den Stuhl, auf welchem ich gesessen hatte.

 

»Setzen Sie sich,« sagte er, indem er plötzlich die Stimme sinken ließ und dadurch einen plötzlichen Wechsel seiner Stimmung zu erkennen gab. »Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken.«

Ich setzte mich wieder. Er rückte seinen Stuhl an die andere Seite des Tisches und bedeckte das Gesicht mit seinen Händen. So saßen wir eine Weile schweigend einander gegenüber. Von Zeit zu Zeit sah ich nach ihm auf, Zwischen seinen Fingern glitzerte etwas. Ich stand leise auf und beugte mich über den Tisch hin, um zu erkennen, was es sei; Thränen, wahrhaftig Thränen, die sich durch seine Finger, die er vors Gesicht hielt, hindurchdrängten. Ich hatte ihn eben anreden wollen. Jetzt setzte ich mich wieder schweigend nieder.

»Sagen Sie mir, was Sie von mir verlangen, was Sie wünschen, das ich thun soll.«

Das waren die ersten Worte, die er wieder sprach. Er sagte sie, ohne die Hände zu bewegen, so ruhig, so traurig, in einem so hoffnungslos kummervollen, so klaglos resignierten Ton, daß ich, die ich das Zimmer von Haß gegen ihn erfüllt betreten hatte, wieder aufstand und an seinen Stuhl herantrat. Ich, die ich ihn noch vor einer Minute, wenn ich die Kraft besessen, gern zu Boden gestreckt hätte, legte ihm, indem ich ihn von ganzem Herzen bemitleidete, die Hand auf die Schulter. So sind die Frauen! Das ist ein Beispiel ihres Urtheils, ihrer Festigkeit und ihrer Selbstbeherrschung.

»Seien Sie gerecht, Nugent,« sagte ich, »seien Sie ehrenhaft, seien Sie Alles, wofür ich Sie ehemals gehalten habe. Mehr verlange ich nicht von Ihnen.«

Er ließ die Arme auf den Tisch fallen und den Kopf auf die Arme sinken und brach in einen Strom von Thränen aus. Das sah seinem Bruder so ähnlich, daß ich beinahe hätte glauben können, auch ich hatte Einen mit dem Andern verwechseln können.

»Ganz wie Oscar,« dachte ich bei mir, »an jenem Tage, wo ich ihn zuerst in eben diesem Zimmer sprach!«

»Kommen Sie,« sagte ich, als er ruhiger geworden war, »wir werden schließlich noch dahin gelangen, uns einander zu verstehen, uns zu achten.

Ungeduldig schüttelte er meine Hand wieder von seiner Schulter ab und wandte sein Gesicht vom Lichte weg.

»Reden Sie nicht davon, daß Sie mich verstehen könnten,« sagte er. »Ihre Sympathien sind für ihn. Er ist das Opfer, er ist der Märtyrer, er erfreut sich Ihrer ganzen Achtung, Ihres ganzen Mitleids. Ich bin ein Feigling, ein Nichtswürdiger; ich habe keine Ehre und kein Herz. Mich darf man wie einen Wurm zertreten. Mein Unglück habe ich verdient! An einem solchen Schurken wie ich, wäre das Mitleid nur vergeudet, nicht wahr?«

Ich war in schmerzlicher Verlegenheit, wie ich ihm antworten sollte. Alles, was er gegen sich vorgebracht, hatte ich wirklich von ihm gedacht. Und warum sollte ich nicht? Hatte er sich doch wirklich nichtswürdig benommen, erschien doch wirklich die tiefste Entrüstung gegen ihn gerechtfertigt. Und doch, und doch; es ist bisweilen gar zu schwer für ein Frauenherz, einem Manne, wie schlecht er sich auch benommen haben möge, nicht zu verzeihen, wenn es weiß, daß die Liebe zu einem Weibe dieses Benehmen veranlaßt hat!

»Was ich auch immer von Ihnen gedacht haben mag,« sagte ich, »es steht noch immer bei Ihnen, Nugent, meine Achtung wiederzugewinnen.«

»So?« fragte er höhnisch. »Ich weiß es besser. Sie haben nicht Oscar vor sich. Sie reden mit einem Manne, der die Frauen kennt. Ich weiß, wie Ihr Alle an Euren Ansichten festhaltet, nur weil es Eure Ansichten sind, ohne Euch zu fragen, ob Sie richtig oder falsch sind. Männer könnten mich verstehen und bemitleiden – Frauen nicht. Die besten und gescheidtesten unter Euch haben keinen Begriff von der Liebe eines Mannes. Die Liebe macht Euch nicht so rasend wie uns. Bei Frauen begegnet sie noch gewissen Schranken, bei Männern durchbricht sie jede Schranke. Sie raubt Ihnen Verstand, Ehrgefühl und Selbstachtung, sie stellt sie auf eine Stufe mit dem Thiere, sie treibt dieselben zum Wahnsinn. Ich sage Ihnen, ich bin für meine eigenen Handlungen nicht verantwortlich. Das Beste, was Sie für mich thun könnten, wäre, mich in ein Irrenhaus zu sperren. Das Beste, was ich selbst für mich thun könnte, wäre, mir die Kehle abzuschneiden O ja, es ist entsetzlich, so zu reden, nicht wahr? Ich sollte dagegen ankämpfen, wie Sie es nennen. Ich sollte mich zusammennehmen und mich zu beherrschen suchen. Ha! ha! hat Sie sind eine gescheidte, eine erfahrene Frau. Und doch haben Sie, obgleich Sie mich hunderte von Malen in Lucilla’s Gesellschaft gesehen haben, nie eine Spur des Kampfes bei mir entdeckt. Von dem ersten Augenblicke an, wo ich dieses himmlische Geschöpf zuerst gesehen habe, habe ich« einen einzigen langen Kampf mit mir selbst gekämpft, habe ich unablässig Höllenqualen der Scham und der Gewissensbisse erduldet, und Sie, meine kluge Freundin, haben so wenig beobachtet und wissen so wenig, daß Sie in meinem Benehmen nichts anderes zu sehen vermögen, als das Benehmen eines Feiglings und eines Schurken!«

Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Ich war begreiflicherweise durch seine Aeußerungen etwas aufgeregt. Ein Mann, der sich anmaßte, sich auf die Liebe besser zu verstehen, als eine Frau! Hat man je von einer so ungeheuerlichen Verkehrung der Begriffe gehört? Ich appelliere an die Frauen!

»Sie sind der Letzte, der ein Recht hätte, mich zu tadeln,« sagte ich. »Ich hatte eine zu hohe Meinung von Ihnen, um zu argwöhnen, was in Ihnen vorging. Ich verspreche Ihnen aber, nie wieder in diesen Fehler zu verfallen.«

Er trat wieder auf mich zu und sah mir scharf ins Gesicht.

»Wollen Sie wirklich behaupten, daß Sie an jenem Tage, wo ich sie zuerst sah, nichts bemerkt haben, was Ihnen zu denken gegeben hätte?« fragte er. »Sie waren ja im Zimmer; ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß ich in ihrer Gegenwart verstummte? Und haben Sie auch später nichts Verdächtiges bemerkt? War mir denn, während ich Folterqualen erlitt, sobald ich sie nur anblickte, nichts anzusehen, was für sich selbst gesprochen hätte?«

»Ich sah wohl, daß Sie sich nie in ihrer Gegenwart behaglich fühlten,« erwiderte ich, »aber ich hatte Sie gern, traute Ihnen und verstand Sie nicht.«

»Verstanden Sie auch von dem, was weiter geschah, nichts? Habe ich nicht mit ihrem Vater gesprochen? Habe ich nicht versucht, ihre Heirath zu beschleunigen? Habe ich wirklich auf keine Weise zu erkennen gegeben, was ich empfand, als Sie mir mittheilten, daß das Erste, was sie an Oscar angezogen habe, seine Stimme gewesen sei, und als ich Sie darauf aufmerksam machte, daß meine Stimme der seinigen vollkommen gleiche? Habe ich Ihnen nicht, als wir zuerst davon sprachen, ob er nicht Lucilla die Entstellung seines Gesichts bekennen solle, darin zugestimmt, daß er ihr in seinem eigenen Interesse die Wahrheit sagen müsse? Als sie nahe daran war, die Sache selbst zu entdecken, wessen Einfluß wurde da aufgeboten, um ihn zu einem Geständniß zu bewegen? Der meinige! Und was that ich, als er es versuchte, die Sache zu bekennen, sie ihn aber nicht verstand? Was that ich, als sie zum ersten Mal in den Irrthum verfiel, mich für den Entstellten zu halten?«

Die Kühnheit dieser letzten Frage benahm mir fast den Athem: »Sie waren grausam behilflich dazu, sie zu betrügen,« antwortete ich entrüstet. »Sie ermuthigten Ihren Bruder schmählicherweise bei seiner Politik des Schweigens.«

Er sah mich mit einem Ausdruck zornigen Erstaunens an, der meinem zornigen Erstaunen mehr als die Spitze bot.

»Das ist also die feine Auffassungsgabe der Frauen!« rief er aus, »das ist also der wunderbare Takt, der dem weiblichen Geschlechte eigen ist! Sie vermögen kein anderes, als ein niedriges Motiv meiner Aufopferung für Oscar zu erkennen!«

Ich fing an zu ahnen, daß seinem Benehmen doch wohl noch ein anderes, als das von mir vermuthete schlechte Motiv zu Grunde gelegen haben könne. Nun, es mochte sein, daß ich Unrecht gehabt hatte, aber mich kränkte der Ton, den er gegen mich annahm. Jedem andern Menschen gegenüber würde ich bereit gewesen sein, meinen Irrthum einzugestehen; ihm gegenüber wollte ich ihn nicht eingestehen.

»Blicken Sie einen Augenblick zurück,« nahm er in ruhigerem und sanfterem Tone wieder auf. »Und sehen Sie, wie hart Sie mich beurtheilen. Ich ergriff die Gelegenheit, ich schwöre es Ihnen, ich ergriff die Gelegenheit, mich in dem Augenblick, wo ich von ihrem Mißverständniß hörte, zu einem Gegenstand des Entsetzens für sie zu machen. Da ich fühlte, daß es mir immer weniger möglich wurde, sie zu meiden, ergriff, ich begierig die Gelegenheit, sie mich meiden zu machen. Ich that das und ich that mehr! Ich bat Oscar, mich von Dimchurch fortgehen zu lassen. Er beschwor mich aber im Namen unserer brüderlichen Liebe, zu bleiben. Ich konnte ihm nicht widerstehen. Wo finden Sie in dem Allen die Spuren des Benehmens eines Schurken? Würde ein Schurke sich Ihnen gegenüber wohl zehnmal verrathen haben, wie ich es bei jenem Gespräch that, das wir im Pavillon führten? Ich erinnere mich, damals die Worte gesprochen zu haben: ich wollte, ich wäre nie nach Dimchurch gekommen. Konnte es noch einen Grund geben, mich zu einer solchen Aeußerung zu veranlassen? Wie kommt es, daß Sie mich niemals auch nur fragten, was ich damit meine?«

»Sie vergessen,« schaltete ich ein, »daß ich keine Gelegenheit hatte, Sie darnach zu fragen. Lucilla unterbrach uns damals und lenkte meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Warum aber versuchen Sie es, mich in dieser Weise zu beschuldigen?« fuhr ich, durch den Ton, den er gegen mich annahm, mehr und mehr gereizt, fort. »Welches Recht haben Sie, sich ein Urtheil über mein Benehmen zu erlauben?«

Er sah mich mit einem Ausdruck fassungslosen Staunens an.

»Habe ich mir ein Urtheil über Ihr Benehmen erlaubt?« fragte er.

»Ja.«

»Vielleicht habe ich gedacht, daß Sie, wenn Sie bei Zeiten meine Verblendung erkannt hätten, derselben auch bei Zeiten hätten Einhalt thun können. Aber nein,« rief er, noch ehe ich ihm antworten konnte, »nichts hätte derselben Einhalt thun können – nichts wird sie heilen als mein Tod. Lassen Sie uns versuchen, uns zu verständigen. Ich bitte Sie um Verzeihung, wenn ich Sie beleidigt habe. Ich bin bereit, Ihr Benehmen billig zu beurtheilen. Wollen Sie auch das meinige billig beurtheilen?«

Ich bemühte mich endlich, ihm zu willfahren. Obgleich mich seine Art, mit mir zu reden, verletzte, fühlte ich im Geheimen für ihn, wie ich es vorhin bekannt habe. Aber ich konnte ihm nicht verzeihen, daß er an jenem Tage, wo Lucilla zum ersten Mal ihre Sehkraft versuchte, ihre ersten Blicke auf sich zu lenken gewagt, daß er noch an diesem Morgen sich gegen Lucilla für seinen Bruder ausgegeben, daß er es geduldet hatte, daß sein Bruder mit gebrochenem Herzen fortgegangen und von Allem, Was ihm theuer war, sich losgerissen und freiwillig in die Verbannung begeben hatte. Nein, ich konnte wohl für ihn fühlen, aber ich konnte ihn nicht milde beurtheilen. Ich setzte mich schweigend nieder.

Er aber kam alsbald, nunmehr mit der größten Höflichkeit, auf die zwischen uns streitige Frage zurück. Trotz alledem beunruhigte er mich durch das, was er jetzt sagte, mehr, als durch irgend etwas, was er bis dahin ausgesprochen hatte.

»Ich wiederhole, was ich Ihnen bereits gesagt habe,« fuhr er fort. »Ich bin nicht mehr verantwortlich für das, was ich thue. Wenn ich mich nicht völlig über mich selbst täusche, so kann man mir, glaube ich, künftig nicht mehr trauen. Lassen Sie mich Ihnen, so lange ich noch dazu im Stande bin, die Wahrheit sagen. Was auch später geschehen möge vergessen Sie es nicht; ich habe mich heute Abend offen darüber gegen Sie ausgesprochen.«

»Halt!« rief ich, »ich verstehe Sie nicht. Jeder Mensch ist Verantwortlich für seine Handlungen.«

Er unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung.

»Bleiben Sie bei Ihrer Meinung, ich bestreite sie nicht. Sie werden sehen, Sie werden sehen, Madame Pratolungo, der Tag, an welchem wir jenes Gespräch im Pavillon des Pfarrgartens führten, bildet ein denkwürdiges Datum in meinem Kalender. Mein letzter redlicher Kampf, meinem armen Oscar treu zu bleiben, endete an jenem Tage. Die Anstrengungen, die ich seitdem gemacht habe, waren nicht viel mehr als Ausbrüche der Verzweiflung. Sie haben nichts vermocht gegen die Gewalt der Leidenschaft, die mich ganz beherrscht und die der Fluch meines Lebens geworden ist. Reden Sie nicht von Widerstand. Aller Widerstand hält bei einem gewissen Punkte nicht mehr vor. Seit jener Zeit hat mein Widerstand seine Grenzen gefunden. Sie haben gehört, wie ich gegen die Versuchung gekämpft habe, so lange ich ihr Widerstand zu leisten vermochte. Ich kann Ihnen jetzt nur noch sagen, wie ich ihr erlegen bin.«

Die rücksichtslose, schamlose Ruhe, mit der er das sagte, fing an, mich wieder gegen ihn aufzubringen. Die beständigen Schwankungen und Widersprüche in seinen Worten reizten mich und brachten mich außer Fassung. Wie Quecksilber konnte man ihn auf keine Weise fassen.

 

»Erinnern Sie sich jenes Tages?« fragte er, »wo Lucilla die Geduld verlor und Sie bei ihrem Besuch in Browndown so unfreundlich empfing?»

Ich nickte bejahend mit dem Kopfe.

»Sie sprachen vorhin davon, daß ich mich ihr gegenüber für Oscar ausgegeben habe. Bei der eben erwähnten Gelegenheit gab ich mich zum ersten Mal für ihn aus. Sie waren zugegen und hörten mich. Hielten Sie es damals der Mühe werth, über die Motive nachzudenken, welche mich dazu bestimmten, mich ihr gegenüber für meinen Bruder auszugeben?«

»Soweit ich mich erinnere,« antwortete ich, »beruhigte ich mich bei der ersten Erklärung, die mir einfiel. Ich dachte, Sie gaben einer augenblicklichen neckischen Laune auf Kosten Lucilla’s nach.«

»Ich gab der Leidenschaft nach, die mich verzehrte. Ich sehnte mich darnach, die Wollust ihrer Berührung zu empfinden und so vertraulich von ihr behandelt zu werden wie Oscar. Noch schlimmer als das, ich wollte versuchen, wie vollständig ich sie täuschen könne, wie leicht ich sie würde heirathen können, wenn ich Euch nur Alle betrügen und sie allein irgendwo hinbringen könnte. Der Teufel besaß mich. Ich weiß nicht, wie die Sache geendet haben würde, wenn Oscar nicht eingetreten und Lucilla nicht in Zorn ausgebrochen wäre, wie sie es that. Sie betrübte mich, sie erschreckte mich, sie gab mich meinem besseren Selbst zurück. Ich stürzte mich, ohne sie vorzubereiten, auf die Frage der Wiederherstellung ihrer Sehkraft, weil ich darin das einzige Mittel sah, ihre Aufmerksamkeit von der unwürdigen Art, wie ich mir ihre Blindheit zu Nutze gemacht hatte abzulenken. An jenem Abend litt ich Aengste der Selbstverurtheilung und der Gewissensqual, die selbst Ihnen, Madame Pratolungo, genügt haben würden. Bei einer nächsten Gelegenheit, die sich mir darbot, machte ich die Sache gegen Oscar wieder gut. Ich förderte seine Interessen; ich legte ihm sogar die Worte, die er zu Lucilla sagen sollte, in den Mund«

»Wann?« unterbrach ich ihn. Wo? Wie?«

»Als die beiden Aerzte uns verlassen hatten, in Lucilla’s Wohnzimmer, in der Hitze der Discussion, ob sie sich der Operation sofort unterwerfen, oder ob sie Oscar erst heirathen, und Grosse die Operation an ihren Augen später vornehmen lassen solle. Wenn Sie sich unserer Unterhaltung erinnern, werden Sie wissen, daß ich Alles aufbot, um Lucilla zu überreden, meinen Bruder zu heirathen, bevor Grosse die Operation an ihren Augen vornähme. Vergebens! Sie warfen das ganze Gewicht Ihres Einflusses in die andere Wagschale. Meine Bemühungen waren umsonst. Es änderte sich nichts. Was ich gethan hatte, war aus reiner Verzweiflung geschehen. Es war lediglich der Impuls des Augenblicks gewesen, es hielt nicht vor. Als die nächste Versuchung an mich herantrat, benahm ich mich wie ein Schurke, wie Sie sagen.»

»Ich habe nichts gesagt,« antwortete ich kurz.

»Nun gut – wie Sie denken also. Schöpften Sie endlich Verdacht gegen mich, als Sie mich gestern im Dorfe trafen? Selbst Ihre Augen müssen mich bei dieser Gelegenheit durchschaut haben!« .

Ich antwortete mit einem Kopfnicken. Ich hatte keine Lust, abermals in Streit mit ihm zu gerathen. Auf eine wie schwere Probe er auch meine Geduld stellte, so wollte ich es doch in Lucilla’s Interesse versuchen, auf freundlichem Fuße mit ihm zu bleiben.

»Sie wußten es merkwürdig gut zu verbergen, fuhr er fort« »als ich dahinter zu kommen suchte, ob Sie mich aufgefunden hätten oder nicht. Ihr tugendhaften Leute versteht es meisterhaft, zu täuschen, wenn es Euren Interessen dient. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, worin die Versuchung, der ich gestern ausgesetzt war, bestand. Den ersten Blick ihrer Augen, wenn sie sich der Welt öffneten, das erste Licht der Liebe und Freude, das von ihrem himmlischen Antlitz ausstrahlen würde welche Tollheit, zu glauben, ich würde dulden, daß dieser Blick auf einen andern Mann falle, daß dieses Licht von anderen Augen gesehen werde! Kein Mensch, der sie anbetet, wie ich sie anbete, würde anders gehandelt haben, als ich es that. Ich hätte aus die Kniee fallen und Grosse anbeten mögen, als er mir ahnungsloser Weise proponirte, gerade den Platz im Zimmer einzunehmen, den ich einzunehmen entschlossen war. Sie sehen, was ich vorhatte. Sie thaten Ihr Bestes und thaten es meisterlich, meinen Plan zu vereiteln. O, Ihr Mustermenschen, Ihr versieht es, wenn es sich darum handelt, einen schlauen Streich zu spielen, die ausgesuchtesten Mittel zur Anwendung zu bringen! Sie haben gesehen, wie es endete. Das Glück war mir in der elften Stunde hold, das Glück scheint wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte. Der erste Blick ihrer Augen fiel auf mich; ich war es, den das erste Licht der Liebe und Freude auf ihrem Antlitz bestrahlte. Ihre Arme umschlangen mich und Ihr Busen ruhte an meiner Brust!«

Ich konnte es nicht länger ertragen.

»Oeffnen Sie die Thür,« sagte ich, »ich schäme mich in demselben Zimmer mit Ihnen zu sitzen.»

»Das wundert mich nicht,« antwortete er, »Sie mögen sich wohl meiner schämen« ich schäme mich selbst.«

Es lag etwas Cynisches in seinem Ton, nichts Insolentes in seinem Wesen. Derselbe Mann, der sich noch eben so schmählich seines Sieges über Unschuld und Unglück gerühmt hatte, sprach und benahm sich jetzt wie ein Mensch, der aufrichtige Scham empfindet. Wenn ich mich nur hätte überzeugen können, ob er sich über mich lustig mache oder vor mir heuchle, so würde ich gewußt haben, was ich zu thun habe. Aber ich wiederhole, er bereuete, so unmöglich es auch scheinen mag, doch unzweifelhaft das, was er eben gesagt hatte, einen Augenblick nachher aufrichtig. Trotz all’ meiner Welterfahrung und meiner langjährigen Uebung, mit ungewöhnlichen Charakteren zu verkehren, machten mich Nugent’s Worte doch wieder so irre, daß ich inmitten des Weges zwischen ihm und der verschlossenen Thür wieder stehen blieb.

»Glauben Sie mir?« fragte er.

»Ich verstehe Sie nicht» antwortete ich.

Er zog den Schlüssel zur Thür aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch, nahe dem Stuhl, von dem ich eben ausgestanden war.

»Ich verliere die Besinnung, wenn ich von ihr rede oder an sie denke,« fuhr er fort. »Ich würde Alles, was ich besitze, darum geben, wenn ich das, was ich eben gesagt habe, ungesagt machen könnte. Sie können es nicht in zu starken Ausdrücken verdammen. Die Worte entfuhren mir – ich hätte sie nicht zurückhalten können und wenn Lucilla selbst zugegen gewesen wäre. Gehen Sie, wenn Sie wollen. Ich habe kein Recht, Sie noch länger hier zu halten, nachdem ich mich so benommen habe. Da liegt der Schlüssel, bedienen Sie sich seiner. Nur denken Sie erst nach, bevor Sie mich verlassen. Sie wollten mir etwas vorschlagen, als Sie eintraten. Vielleicht könnten Sie Einfluß auf mich üben, könnten meine Scham erregen und mich vermögen, mich zu benehmen wie ein ehrenhafter Mensch. Thun Sie, was Sie wollen, es steht ganz bei Ihnen.«

Ich weiß nicht, handelte ich wie eine gute Christin? oder wie eine verächtliche Närrin? Aber ich setzte mich wieder nieder und beschloß, ihm eine letzte Chance zu geben.

»Das ist gütig von Ihnen,« sagte er, »Sie ermuthigen mich; Sie zeigen mir, daß es der Mühe werth ist, es noch einmal mit mir zu versuchen. Ich hatte gestern in diesem Zimmer eine edle Regung und es hätte mehr als eine Regung werden können, wenn mir nicht eine andere Versuchung gerade in den Weg getreten wäre.«

»Welche Versuchung?« fragte ich.

»Oscar’s Brief hat es Ihnen mitgetheilt, Oscar selbst hat mir die Versuchung in den Weg gestellt.«

»Ich habe nichts der Art in dem Brief gelesen.«

»Hm er Ihnen nicht geschrieben, daß ich ihm angeboten habe, Dimchurch für immer zu verlassen? Ich meinte es aufrichtig; ich hatte den Jammer auf dem Gesicht des armen Jungen gesehen, als Grosse und ich Lucilla aus dem Zimmer führten. Mein Vorschlag war von ganzem Herzen aufrichtig gemeint. Wenn er meine Hand ergriffen und mir Lebewohl gesagt hätte, so wäre ich fortgegangen. Er bestand aber darauf, sich die Sache allein zu überlegen und kehrte damit zu dem Opfer entschlossen —«