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Detektiv-Geschichten

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IX

Ich verließ das Haus zu meinem gewöhnlichen Morgenritte. Michael war nicht in seiner gewöhnlichen Stimmung. Mit einiger Mühe brachte ich ihn dazu, mir den Grund zu sagen. Er hatte sich entschlossen, den General zu benachrichtigen, dass er seine Stelle bei ihm aufgeben wolle. Sobald ich mich einigermaßen gesammelt hatte, fragte ich ihn, was vorgefallen sei, um diesen unbegreiflichen Schritt von seiner Seite zu rechtfertigen. Er überreichte mir schweigend einen Brief. Derselbe war von dem Dienstherrn geschrieben, bei dem Michael gedient hatte, ehe er zu uns kam, und er meldete, dass ihm eine Stelle als Sekretär in dem Hause eines vornehmen Mannes angetragen werde, »der an seinen lobenswerten Bemühungen für die Verbesserung seiner Stellung herzlichen Anteil nehme.«



Was es mich kostete, wenigstens den äußeren Schein von Gemütsruhe zu bewahren, als ich ihm den Brief zurückgab, schäme ich mich, zu sagen. Ich sprach mit ihm mit einer gewissen Bitterkeit. »Ihre lange gehegten Wünsche werden damit erfüllt«, erwiderte ich; »ich wundere mich nicht, dass Sie sich danach sehnen, Ihre jetzige Stelle zu verlassen.« Er lenkte sein Pferd zurück und wiederholte meine Worte. »Dass ich mich danach sehne, meine Stelle zu verlassen? Es bricht mir das Herz, wenn ich Sie verlasse.« Ich war rücksichtslos genug, zu fragen, warum. Er senkte den Kopf. »Ich wage nicht, es Ihnen zu sagen«, erwiderte er. Ich ging weiter von einer Unklugheit zur anderen. »Um was sind Sie besorgt?« fragte ich. Er blickte plötzlich nach mir auf. Seine Augen antworteten: »Um Sie.«



Ist es möglich, die Torheit einer liebenden Frau zu ergründen? Kann ein verständiger Mensch sich die ungeheure Wichtigkeit vorstellen, welche auch das Unbedeutendste in ihrem armen schwachen Gemüte erhält? Ich war nach diesem einen Blicke vollkommen befriedigt – ja vollkommen glücklich. Ich ritt während einiger Minuten munter weiter – da kam mir der vergessene Vorfall im Stalle in das Gedächtnis zurück. Ich nahm wieder den gewöhnlichen Schritt und winkte Michael heran, mit mir zu sprechen.



»Frau Claudias Buchhändler wohnt in der Altstadt, nicht wahr?« fing ich an. – »Ja, Fräulein!«



»Gingen Sie hin und zurück zu Fuß?«



»Ja.«



»Sie müssen sich ermüdet gefühlt haben, als Sie zurückgekehrt waren?«



»Ich erinnere mich dessen kaum, als ich zurückkehrte – es wurde mir aber eine Überraschung zuteil.«



»Darf ich fragen, was dies war?«



»Gewiss, Fräulein. Erinnern Sie sich meiner schwarzen Tasche?«



»Sehr wohl!«



»Als ich aus der Altstadt zurückkehrte, fand ich die Tasche offen und die Sachen, welche ich in ihr aufbewahrte, – den Schal, das Leinenzeug und den Brief –«



»Verschwunden?«



»Verschwunden.«



Mein Herz pochte auf das heftigste und drohte mir zu zerspringen. Es war mir unmöglich, ein Worte weiter zu sagen. Ich hielt mein Pferd an und heftete meine Augen auf Michael. Er war bestürzt und fragte, ob ich mich unwohl fühle. Ich konnte ihm nur ein Zeichen geben, dass ich darauf warte, mehr von ihm zu hören.



»Ich glaube«, fuhr er fort, »dass irgendjemand die Sachen in meiner Abwesenheit verbrannte und das Fenster öffnete, um zu verhüten, dass durch den Geruch irgendein Verdacht erregt werde. Ich bin sicher, dass ich das Fenster schloss, ehe ich mein Zimmer verließ. Als ich es bei meiner Rückkehr wieder schloss, hatte die frische Luft den Brandgeruch noch nicht ganz entfernt; und, was mehr sagen will, ich fand einen Haufen Asche auf dem Roste des Kamins. Was die Person betrifft, welche mir diesen Schaden zugefügt hat, und warum es geschehen ist, so sind dies Geheimnisse, die ich nicht ergründen kann – ich bitte um Verzeihung, Fräulein, ich bin sicher, dass Sie nicht wohl sind. Darf ich Ihnen raten, nach Hause zurückzukehren?«



Ich nahm seinen Rat an und kehrte zurück.



In dem Widerstreite von Erstaunen und Entsetzen, die mein Gemüt erfüllten, konnte ich doch noch fühlen, dass bei all dem ein schwacher Triumph sich in mir regte, als ich sah, wie beunruhigt und besorgt er um mich war. Nichts wurde weiter zwischen uns auf dem Rückwege gesprochen. Von der schrecklichen Entdeckung, die ich soeben gemacht hatte, ergriffen, war ich still und hilflos. Meine adlig geborene, vornehm erzogene, untadelhafte Tante stand nun entlarvt als eins der schuldbeladenen Wesen vor mir, die eine Geburt verheimlicht und ein unmündiges Kind verlassen hatten. Eine ältere Frau wie ich hätte schwer vermocht werden können, in einer Lage wie der meinigen ihre Besonnenheit zu bewahren. Ein natürliches Gefühl, nicht der Verstand, half mir in meiner schlimmen Lage. Dieses unwillkürliche Gefühl fesselte mich in untätigem, ja einfältigem Schweigen, als ich nach Hause zurückgekehrt war. »Wir wollen morgen darüber reden«, das war alles, was ich zu Michael sagen konnte, als er mich artig vom Pferde hob.



Ich entschuldigte mein Nichterscheinen beim Frühstück und zog die Vorhänge in meinem Wohnzimmer nieder, damit mein Gesicht mich nicht verriet, wenn Frau Claudias Mutterpflicht sie heraufführte, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Die nämliche Entschuldigung half in beiden Fällen – mein Spazierritt hatte es nicht vermocht, mich von meinem Kopfweh zu befreien. Der kurze Besuch meiner Tante führte zu einem Ergebnis, das erwähnt zu werden verdient. Das unbeschreibliche Entsetzen, das ich ihr gegenüber fühlte, nötigte mir die Überzeugung auf, dass wir beide nicht länger unter einem Dache wohnen könnten. Während ich noch versuchte, diese Wahl mit der nötigen Ruhe ins Auge zu fassen, erschien mein Oheim selbst und zeigte einige Besorgnis über mein anhaltendes Unwohlsein. Ich würde sicherlich laut geweint haben, als der gute, liebe Alte mich bedauerte, wenn er nicht Nachrichten mitgebracht hätte, die alle meine Gedanken auf mich und meine Tante zurückleiteten. Michael hatte dem General seinen Brief gezeigt und ihm Kenntnis von seinem beabsichtigten Weggang gegeben. Frau Claudia war zu dieser Zeit gerade anwesend. Zum Erstaunen ihres Gatten mischte sie sich plötzlich ein, indem sie Michael selbst ersuchte, sich anders zu besinnen und in seiner Stelle zu bleiben.



»Ich würde dich nicht mit dieser unangenehmen Sache belästigt haben, Minna«, sagte mein Oheim, »wenn Michael mir nicht gesagt hätte, dass du von den Umständen unterrichtet seiest, unter welchen er es für seine Pflicht hält, uns zu verlassen. Nach der Einmischung deiner Tante, die mir übrigens ganz unbegreiflich ist, weiß der Mann kaum noch, was er tun soll. Da er dein Reitknecht ist, so bittet er mich, zu fragen, ob es eine Unschicklichkeit sei, wenn er die bestehende Schwierigkeit deiner Entscheidung überlasse. Ich melde dir sein Anliegen, Minna, aber ich rate dir ernstlich, irgendwelche Verantwortlichkeit abzulehnen.«



Ich antwortete mechanisch, indem ich den Rat meines Oheims annahm, während meine Gedanken sich völlig mit dieser letzten der zahlreichen außergewöhnlichen Handlungen beschäftigten, die Frau Claudia seit Michaels Eintritt begangen hatte. Es gibt – außer in Büchern und Schauspielen – Grenzen für die Unschuld eines jungen, unverheirateten Frauenzimmers. Nach dem, was ich soeben gehört hatte, waren die Zweifel, welche mich bis dahin beunruhigt hatten, vollständig aufgeklärt.



Ich sagte zu mir selbst: »Sie hat doch noch etwas menschliches Gefühl übrig. Wenn ihr Sohn fortgeht, weiß sie, dass sie sich niemals wieder begegnen werden.«



Von dem Augenblick an, da mein Inneres zur Klarheit gekommen war, erlangte ich die Herrschaft über meinen Verstand und Mut wieder, wie ich sie von Natur besaß. Von diesem Augenblick an wird man finden, dass ich, mit Recht oder Unrecht, meinen Weg mir vorgezeichnet sah und ihn einschlug.



Wenn ich sage, dass ich dem General von ganzem Herzen zugetan war, so bekenne ich damit, dass ich im gewöhnlichen Sinne dankbar sein konnte. Ich saß auf seinem Knie, legte meine Wange an die seine und dankte ihm für die Güte, die er mir in langen, langen Jahren erwiesen hatte. Er unterbrach mich in seiner einfachen, edlen Weise. »Ei, Minna, du redest ja, als ob du im Begriff wärst, uns zu verlassen!« Ich fuhr in die Höhe und ging zum Fenster, indem ich es öffnete und mich über die Hitze beklagte; so verbarg ich vor ihm meine Verwirrung, dass er unbewusst ein Ereignis vorausgesehen hatte, das allerdings eintreten musste. Als ich zu meinem Stuhl zurückkehrte, trug mein Oheim zu meiner Beruhigung bei, indem er noch einmal auf seine Frau zu sprechen kam. Er fürchtete, dass ihre Gesundheit in irgendeiner Weise erschüttert sei. Zu der Zeit, wo sie sich zuerst begegneten, hatte sie ein Nervenleiden, welches von einem »Unfall« herrührte, der in späteren Tagen von keinem von beiden jemals wieder erwähnt wurde. Sie mochte vielleicht wieder an irgendeiner anderen nervösen Störung leiden und er dachte ernstlich daran, sie zu überreden, ärztlichen Beistand zu benutzen.



Unter gewöhnlichen Umständen würde eine unbestimmte Erwähnung eines »Unfalls« ein besonderes Interesse bei mir nicht erregt haben. Aber mein Geist war jetzt in einem Zustande krankhaften Argwohns. Ich hatte nicht gehört, wie lange mein Oheim und meine Tante verheiratet waren, aber ich erinnere mich, dass Michael von seinen sechsundzwanzig Jahren gesprochen hatte. Da ich diese Umstände noch im Gedächtnis hatte, so kam mir der Gedanke, dass ich klug und in Michaels Interesse handeln würde, wenn ich den General überredete, noch weiter von jener Zeit zu sprechen, wo er dem Weibe begegnet war, ads ein böses Geschick ihm zur Frau bestimmt hatte. Nichts als die Fürsorge für den geliebten Mann würde mich dazu gebracht haben, für mein Geheimnis die Mitteilungen zu benutzen, die mein Oheim mir in harmloser Absicht anvertrauen möchte. So wie die Sache lag, hoffte ich, dass die angewendeten Mittel in diesem Falle durch den Ausgang der Sache einst ihre Rechtfertigung erhalten würden. Ich denke, dass jeder meiner Leser mir zustimmen wird.

 



Ich fand die Aufgabe leichter, als ich vermutet hatte, das Gespräch wieder auf die Tage zurückzulenken, wo der General seine Frau zum ersten Mal gesehen hatte. Er war stolz auf die Umstände, unter welchen er seine Frau gewonnen hatte. Ach, wie tat mir das Herz für ihn weh, als ich seine Augen glänzen und sein hübsches, männliches Gesicht sich röten sah!



Folgendes ist das Wesentliche seiner Mitteilungen. Ich berichte kurz, weil es mir noch immer schmerzlich ist, es zu erzählen.



Mein Oheim war seiner Frau in dem Landhause ihres Vaters begegnet. Sie war damals wieder in der Gesellschaft erschienen, nachdem sie eine Zeitlang in England, teils auf dem Kontinente in Zurückgezogenheit gelebt hatte. Vor dieser Zeit war sie verlobt gewesen und wollte einen französischen Offizier heiraten, der durch Geburt und diplomatische Dienste im Orient gleich ausgezeichnet war. Wenige Wochen vor dem Hochzeitstage ertrank er bei dem Schiffbruche seiner Yacht. Dies war der Unfall, auf den mein Oheim sich bezogen hatte.



Frau Claudias Gemüt war so ernstlich von dem furchtbaren Ereignis ergriffen, dass die Ärzte für die Folgen nicht einstehen wollten, wenn sie nicht sogleich in die strengste Zurückgezogenheit versetzt werde. Ihre Mutter und eine französische, ihr treu ergebene Zofe waren die einzigen Personen, die als zuverlässig die junge Dame sehen durften, bis Zeit und Pflege sie einigermaßen beruhigt hatten. Die Rückkehr zu ihren Freunden und Bewunderern nach der notwendigen Abschließung war natürlicherweise die Veranlassung zu aufrichtiger Freude unter den Gästen, die in dem Hause ihres Vaters versammelt waren. Das Interesse meines Oheims an der Dame ging bald in Liebe über. Sie waren einander im Range gleich, und passten auch im Alter recht wohl zusammen.



Die Eltern machten keine Schwierigkeiten; aber sie verhehlten auch ihrem Gaste nicht, dass das Missgeschick, das ihre Tochter befallen habe, ihr höchstwahrscheinlich die Neigung benehme, seine Bewerbung, oder auch die irgendeines anderen Mannes günstig aufzunehmen. Zu ihrer Überraschung ergab es sich, dass sie unrecht hatten. Die junge Dame war von der Einfachheit und dem Zartgefühl gerührt, womit ihr Liebhaber seine Bewerbung betrieb. Sie hatte unter weltlich gesinnten Leuten gelebt. Dies war aber ein Mann, dessen Liebe sie für aufrichtig halten konnte. Sie heirateten sich. Waren keine ungewöhnlichen Umstände eingetreten? Hatte sich nichts zugetragen, was der General vergessen hatte? Nichts.



X

Es ist gewiss nicht nötig, dass ich hier unterbreche, um die einfachen Folgerungen aus den eben erzählten Ereignissen zu ziehen.



Jeder, der sich erinnert, dass der Schal, in den das Kind eingewickelt war, aus jenen östlichen Gegenden stammte, die mit dem diplomatischen Berufe des französischen Edelmannes in Verbindung standen – ferner, dass die Fehler in der Abfassung des Briefes, der bei dem Kinde vorgefunden wurde, vermutlich von dem französischen Dienstmädchen gemacht worden waren – jeder, der diesen Spuren folgt, kann den Weg zur Wahrheit finden, wie ich ihn fand.



Wenn ich einen Augenblick an die Hoffnungen zurückdenke, die ich mir gebildet hatte, Michael in etwas dienen zu können, so habe ich nur zu sagen, dass diese auf einmal vernichtet wurden, als ich von dem durch Ertrinken eingetretenen Tode des Mannes hörte, der aller Wahrscheinlichkeit nach sein Vater war. Auch die Aussichten erschienen ungünstig, wenn ich an die erbärmliche Mutter dachte. Dass sie in ihrer Stellung ihren Sohn offen anerkennen würde, war vielleicht von keiner Frau zu erwarten. Hatte sie aber Mut genug, oder, besser gesagt, Herz genug, ihn in der Stille anzuerkennen?



Ich rief mir einige der augenscheinlichen Launen und Widersprüche in Frau Claudias Benehmen an jenem denkwürdigen Tage ins Gedächtnis zurück, da Michael sich vorstellte, um die erledigte Stelle anzunehmen. Man möge mit mir auf den Bericht darüber zurückblicken, was sie bei dieser Gelegenheit tat und sprach, und man prüfe diese Aufzeichnung in dem Lichte der nunmehrigen Kenntnis der Tatsachen: man wird sehen, dass die Ähnlichkeit mit seinem Vater großen Eindruck auf sie gemacht haben musste, als er das Zimmer betrat, und dass die Angabe seines Alters mit den Jahren ihres Sohnes genau übereinstimmte. Ruft man sich ferner ihre Handlungen ins Gedächtnis zurück, welche folgten, als sie von ihren ersten erfolgreichen Anstrengungen, sich zu beherrschen, erschöpft war – das Zurückweichen nach dem Fenster, um ihr Gesicht zu verbergen, den Griff nach dem Vorhange, als ihre Kräfte sie verließen, ihr barsches Benehmen, unter welchem sie ihre Gemütsbewegung verbarg, als sie mit ihm zu sprechen versuchte; die wiederholten Widersprüche und das Schwanken in dem nun folgenden Verhalten – alles die Wirkung des Widerstreites der mütterlichen Natur, die sich verzweifelt bis zum äußersten wehrte – und nun sage man, ob ich ihr unrecht tat, wenn ich sie für unfähig hielt, es irgendwie zu einer Entdeckung kommen zu lassen, als sie an die Mutterliebe erinnert wurde.



Es blieb also nur noch an Michael zu denken übrig. Ich erinnere mich, wie er von den unbekannten Eltern sprach; er erwartete weder sie zu ermitteln, noch kümmerte er sich um deren Entdeckung. Ich konnte es noch immer nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, die Möglichkeit einer bei ihm eintretenden Gemütserregung als eine hinreichende Rechtfertigung anzusehen, ihm eine Entdeckung vorzuenthalten, die ihn so nahe anging. Es schien wenigstens meine Pflicht zu sein, mich mit dem wahren Zustand seiner Gefühle bekannt zu machen, ehe ich mich entschied, die Last des Schweigens mit mir ins Grab zu nehmen.



Was ich in dieser ernsten Lage zu tun für meine Pflicht hielt, das entschloss ich mich sogleich zu tun.



Zudem will ich ehrlich bekennen, dass ich mich einsam und trostlos fühlte, niedergedrückt durch die bedenkliche Lage, in die ich versetzt war, aber in Sehnsucht nach der Erleichterung, die es mir gewährte, wenn ich nur den Klang von Michaels Stimme hörte. Ich schickte mein Mädchen zu ihm und ließ ihm sagen, dass ich ihn sogleich zu sprechen wünschte. Die Entscheidung schwebte schon über meinem Haupte, und diese eine Handlung führte sie herbei.



XI

Er trat ein und wartete bescheiden an der Tür.



Nachdem ich ihn einen Stuhl hatte nehmen lassen, sagte ich ihm, dass ich von seinem Anliegen Kenntnis erhalten hätte, dass ich mich aber nach dem Rate meines Oheims der Einmischung in die Frage enthalten müsste, ob er seine Stelle aufgeben solle oder nicht. Nachdem ich so einen Grund, ihn kommen zu lassen, vorgeschützt hatte, spielte ich zunächst auf den Verlust an, den er erlitten hatte, und fragte ihn, ob er diejenige Person ausfindig zu machen hoffe, die sein Zimmer in seiner Abwesenheit betreten habe. Als er dies verneinte, sprach ich von den ernsten Folgen, die die Vernichtung jener Gegenstände für ihn haben werde. »Die letzte Hoffnung, Ihre Eltern zu ermitteln«, sagte ich, »ist grausam zerstört worden.« Er lächelte betrübt. »Sie wissen schon, gnädiges Fräulein, dass ich niemals hoffte, sie zu ermitteln.«



Ich wagte mich ein wenig dem Ziele näher, das ich im Auge hatte. »Denken Sie niemals an Ihre Mutter?« fragte ich. »Bei ihrem Alter könnte sie noch am Leben sein. Können Sie alle Hoffnung aufgeben, sie noch zu finden, ohne dass es Ihrem Herzen Schmerzen bereitet?«



»Wenn ich ihr darin unrecht getan hätte, dass ich glaubte, sie hätte mich verlassen«, antwortete er, »so ist das Herzweh nur ein armseliges Mittel, die Gewissensbisse kundzugeben, die ich fühlen würde.«



Ich wagte mich noch näher. »Selbst wenn Sie recht hätten«, fing ich wieder an – »selbst wenn jene Sie verlassen hätte–« Er unterbrach mich mit ernster Miene. »Ich würde nicht einmal die Straße überschreiten, um sie zu sehen«, sagte er. »Eine Frau, die ihr Kind verlässt, ist ein Ungeheuer. Verzeihen Sie mir, gnädiges Fräulein, dass ich so spreche! Wenn ich gute Mütter und ihre Kinder sehe, macht es mich wahnsinnig, wenn ich daran denke, wie

meine

 Kindheit gewesen ist.«



Als ich diese Worte hörte und ihn aufmerksam betrachtete, während er sprach, konnte ich sehen, dass mein Stillschweigen eine Barmherzigkeit für ihn, nicht aber ein Verbrechen sein würde. Ich beeilte mich, von etwas anderem zu reden. »Wenn Sie sich entschließen, uns zu verlassen«, fragte ich, »wann werden Sie dann gehen?«



Seine Augen nahmen augenblicklich einen sanfteren Ausdruck an. Immer mehr verschwand die Farbe aus seinem Gesicht, als er mir antwortete.



»Der General sagte mir freundlich, als ich vom Aufgeben meiner Stelle sprach« – hier stockte seine Stimme und er machte eine Pause, um ihr wieder die nötige Sicherheit zu geben. »Der Herr sagte«, fuhr er fort, »dass ich meinen neuen Dienstherrn nicht warten zu lassen brauche, indem ich noch den üblichen Monat hier bliebe, vorausgesetzt – vorausgesetzt, dass Sie bereit wären, mich von meinem Dienste zu entbinden.«



Bis jetzt war es mir gelungen, mich zu beherrschen. Bei dieser Antwort aber fühlte ich meine Standhaftigkeit wanken. Ich sah, wie er litt; ich sah, wie mannhaft er kämpfte, dies zu verbergen.



»Ich bin nicht bereit«, sagte ich, »es tut mir leid – sehr, sehr leid, Sie zu verlieren. Aber ich will etwas tun, was zu Ihrem Besten dient. Mehr kann ich nicht sagen.«



Er erhob sich plötzlich, als wenn er das Zimmer verlassen wollte, bemeisterte aber seine Aufregung und stand einen Augenblick schweigend da, indem er nach mir hinsah – alsdann blickte er wieder weg und sprach seine Abschiedsworte.



»Wenn es mir in meiner neuen Stellung glückt, Fräulein Miina – wenn ich mich zu besseren Verhältnissen empor ringe – ist es – ist es zu viel gewagt, zu fragen, ob ich eines Tages – vielleicht wenn Sie allein ausreiten – ob ich mit Ihnen sprechen dürfte – nur um zu fragen, ob Sie sich wohl befinden und glücklich sind–«



Er konnte nicht weiter sprechen. Ich sah Tränen in seinen Augen; ich sah ihn von krampfhaften Atemzügen erschüttert, die sich aus dem Manne in den seltenen Augenblicken herauspressen, wenn er weint. Und dann selbst unterdrückte er sie. Er verneigte sich gegen mich, als wenn er nur mein Diener wäre und als wenn er zu tief unter mir stünde, meine Hand zu ergreifen, selbst in diesem Augenblicke! Ich hätte alles andere ertragen können; ich glaube, dass ich mich unter allen anderen Umständen noch bezwungen hätte. Es ist aber jetzt wenig daran gelegen; mein Geständnis muss erfolgen, was man auch immer von mir denken möge. Ich flog wie ein wahnsinniges Geschöpf auf ihn zu – ich schlang meine Arme um seinen Hals – ich rief: »O Michael, wissen Sie denn nicht, dass ich Sie liebe?« Und dann legte ich meinen Kopf an seine Brust und hielt ihn fest und sprach nichts mehr.



In diesem Augenblicke des Schweigens wurde die Tür des Zimmers geöffnet. Ich erschrak und blickte auf. Frau Claudia stand auf der Schwelle.



Ich sah ihr am Gesicht an, dass sie gelauscht hatte – sie musste ihm gefolgt sein, als er auf dem Wege zu meinem Zimmer war. Diese Überzeugung stärkte mich. Ich nahm seine Hand in die meinige und stellte mich an seine Seite, indem ich darauf wartete, dass sie zuerst spreche. Sie blickte nach Michael, nicht nach mir. Sie tat einige Schritte vorwärts und sprach ihn an: »Es ist möglich, dass

Sie

 noch Gefühl für Anstand haben. Verlassen Sie das Zimmer!«



Diese wohlüberlegte Beleidigung war alles, was ich brauchte, um mich vollständig zur Herrin meiner selbst zu machen. Ich sagte Michael, er solle einen Augenblick warten, und öffnete mein Schreibpult. Ich schrieb auf ein Couvert die Adresse einer treuen alten Dienerin in London, die meine Mutter in ihren letzten Stunden gepflegt hatte. Ich gab sie Michael. »Sprechen Sie morgen früh dort vor«, sagte ich. »Ich werde Sie erwarten.« Er blickte nach Frau Claudia, offenbar nicht gewillt, mich mit ihr allein zu lassen. »Fürchten Sie nichts«, sagte ich, »ich bin alt genug, um selbst auf meiner Hut zu sein. Ich habe dieser Dame nur ein Wort zu sagen, ehe ich das Haus verlasse.« Damit nahm ich seinen Arm, ging mit ihm zur Tür und sagte ihm beinahe ebenso ruhig den Abschiedsgruß, als wenn wir schon Mann und Frau gewesen wären.



Frau Claudias Augen folgten mir, als ich die Tür wieder schloss, und blickten dann durch das Zimmer nach einer zweiten Tür, die in mein Schlafzimmer führte. Dann trat sie plötzlich auf mich zu, gerade als ich im Begriff war, mein Zimmer zu betreten, und legte ihre Hand auf meinen Arm.



»Was bedeutet deine Miene?« – sie richtete die Frage ebenso sehr an sich selbst wie an mich – indem sie die Augen aufmerksam forschend auf die meinigen richtete.



»Du sollst es sofort erfahren«, antwortete ich. »Lass mich nur erst meinen Hut und meinen Mantel nehmen.«



»Hast du vor, das Haus zu verlassen?«



»Ja, das will ich.«

 



Sie zog die Schelle. Ich kleidete mich ruhig an, um auszugehen. – Der Diener erschien, als ich in das Wohnzimmer zurückkehrte.



»Sagen Sie Ihrem Herrn, dass ich ihn augenblicklich zu sehen wünsche«, sagte Frau Claudia.



»Der Herr ist ausgegangen, gnädige Frau.«



»In seinen Klub?«



»Ich glaube, gnädige Frau.«



»Ich werde Sie mt einem Brief zu ihm schicken. Kommen Sie zurück, wenn ich wieder schelle.« Sie wandte sich zu mir, als der Diener sich entfernt hatte. »Weigerst du dich wirklich, hier zu bleiben, bis der General zurückkehrt?«



»Ich werde glücklich sein, den