Blinde Liebe

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Sechstes Kapitel.

Der Wind erhob sich ein wenig, und die Spalten in den Wolken begannen breiter zu werden, als Iris die Landstraße erreichte.

Eine Zeit lang erhellte der Schimmer des trüben Mondlichts den Weg vor ihr. Soviel sie erkennen konnte, bevor sich der Himmel wieder verfinsterte, hatte sie schon mehr als die Hälfte der Entfernung zwischen der Stadt und dem Meilenstein zurückgelegt. Die Gegenstände zu beiden Seiten des Weges lagen im Dunkeln und waren daher nur schwer zu unterscheiden. Ein leichter Sprühregen begann niederzufallen. Der Meilenstein befand sich, wie sie von dem Spaziergang, den sie am hellen Tag hierher gemacht hatte, noch wußte, auf der rechten Seite der Straße. Der Stein war aber wegen seiner stumpfen grauen Farbe in der herrschenden Finsternis nicht leicht zu entdecken.

Der Gedanke beunruhigte sie, sie könnte schon an dem Meilenstein vorübergegangen sein. Sie blieb stehen und betrachtete den Himmel.

Der Regen hatte wieder aufgehört, und es war begründete Aussicht vorhanden, daß die Wolken sich von neuem zerteilen und so das Mondlicht durchscheinen lassen würden. Sie wartete. Schwach und trübe fielen die letzten Strahlen des untergehenden Mondes auf die dunkle Erde. Vor ihr war nichts zu sehen als der Weg. Iris blickte zurück und entdeckte den Meilenstein.

Eine roh zusammengefügte Steinmauer schützte den Weg auf jeder Seite. Ungefähr hinter dem Meilenstein befand sich ein Loch in dieser Mauer, zum Teil von einem Gestrüpp verdeckt. Eine halb zerstörte Schleuse überwölbte einen ausgetrockneten Graben und bildete eine Brücke, die von der Straße auf das Feld führte. Hatte sich die Polizei nun das Feld ausgesucht, um sich zu verstecken? Nichts war zu erkennen als ein Fußpfad und darüber hinaus ein nur undeutlich wahrnehmbarer Strich angebauten Landes. Während sie diese Entdeckungen machte, begann der Regen wieder zu fallen. Die Wolken zogen sich von neuem zusammen; das Mondlicht verschwand.

In demselben Augenblick stieg vor ihrem Geist ein Hindernis auf, das Iris bis jetzt nicht im entferntesten in Betracht gezogen.

Lord Harry konnte sich nämlich von drei verschiedenen Seiten dem Meilenstein nähern, das heißt, entweder auf dem Weg, der von der Stadt herkam, oder auf dem Weg, der aus dem offenen Land zu dem Meilenstein führte, oder endlich drittens auf dem Fußpfad über das Feld und die halb verfallene Grabenüberbrückung. Wie konnte sie sich nun so aufstellen, daß sie im stande sein würde, ihn zu warnen, bevor er in die Hände der Polizei fiel? Alle drei Annäherungswege in der Dunkelheit der Nacht und zu ein und derselben Zeit zu überwachen, war einfach unmöglich.

Ein Mann in dieser Lage würde, geleitet von der Vernunft, aller Wahrscheinlichkeit nach die kostbare Zeit mit vergeblichen Versuchen, die richtige Entscheidung zu treffen, vergeudet haben. Ein Weib aber, von Liebe beherrscht, überwindet die Schwierigkeit in dem Augenblick, da sie sich ihr entgegenstellt.

Iris beschloß, zu dem Meilenstein zurückzukehren und dort zu warten, bis die Polizei sie bemerken und verhaften würde. Wenn dann Lord Harry pünktlich zur verabredeten Stunde kommen würde, so würde er als notwendige Folge der Verhaftung Stimmen und Geräusch vernehmen und noch zur rechten Zeit entfliehen können. Im Fall er aber zu spät käme, so würde die Polizei mit ihrem Fang schon wieder auf dem Rückweg nach der Stadt sein; er würde niemand mehr am Meilenstein finden und denselben ungefährdet wieder verlassen können.

Sie stand eben im Begriff, sich umzudrehen und auf die Straße zurückzugehen, als etwas auf der dunklen Fläche des Feldes undeutlich sichtbar wurde, was wie ein tieferer Schatten aussah. Im nächsten Moment hatte es den Anschein, als ob es ein Schatten wäre, der sich bewegte. Sie eilte darauf zu. Als sie näher kam, sah der Schatten aus wie ein Mann. Der Mann blieb stehen.

»Die Parole?« fragte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme.

»Treue!« antwortete sie flüsternd.

Es war zu dunkel, um die Gesichtszüge des Mannes erkennen zu können; Iris jedoch erkannte ihn an seiner hohen Gestalt und an dem Tonfall der Stimme in dem er nach dem Losungswort gefragt hatte. Da er sie seinerseits irrigerweise für einen Mann hielt, trat er einen Schritt wieder zurück. Sir Giles Mountjoy war ungefähr von mittlerer Größe; der Fremde dagegen in dem Ueberrock, der ihm die Worte zugeflüstert hatte, war untersetzter.

»Sie sind nicht die Person, welche ich hier anzutreffen erwartet hatte,« sagte er. »Wer sind Sie?«

Ihr Aufrichtigkeit liebendes Herz verlangte darnach, ihm die Wahrheit zu gestehen. Die Versuchung, sich zu entdecken und ihrer Freude darüber Ausdruck zu geben, daß es ihr möglich gewesen sei, ihn zu retten, würde ihre Zurückhaltung überwunden haben, wenn nicht ein Geräusch auf dem Wege hinter ihnen an ihr Ohr gedrungen wäre. In der ringsum herrschenden Stille war aber ein Irrtum unmöglich. Es war das Geräusch von Fußtritten.

Sie fand gerade noch Zeit, ihm zuzuflüstern:

»Sir Giles hat Sie verraten. Retten Sie sich!«

»Ich danke Ihnen, wer Sie auch sein mögen.«

Mit diesen Worten verschwand er plötzlich und schnell in der Finsternis. Iris erinnerte sich der Brücke über den Graben und ging nach ihr hin. Dort unter den Bogen fand sie einen passenden Platz, sich zu verbergen, wenn sie noch zur rechten Zeit in den ausgetrockneten Graben gelangen konnte. Sie stand eben im Begriff, sich mit den Füßen bis an den Rand desselben vorwärts zu tasten, als eine feste Hand ihren Arm ergriff und eine Stimme in gebietendem Ton sagte:

»Sie sind mein Gefangener.«

Sie wurde auf den Weg zurückgeführt. Der Mann, der sie fest gefaßt hielt, ließ einen lauten Pfiff ertönen. Sofort tauchten noch zwei andere Männer aus dem Dunkel auf.

»Machen Sie Licht,« befahl der erstere, »damit wir sehen, wer der Kerl ist.«

Der Schieber an der Blendlaterne wurde zur Seite geschoben; das Licht fiel voll auf das Gesicht des Gefangenen. Die beiden Begleiter des Polizeisergeanten waren vor Staunen ganz starr. Dieser selbst, ein frommer Katholik, brach in den Ruf aus:

»Heilige Maria! Das ist ja eine Frau!«

Nahmen denn die geheimen Gesellschaften Irlands auch Frauen auf? War das eine moderne Judith, welche anonyme Briefe schrieb und sich verpflichtet hatte, einen Finanz-Holofernes, der eine Bank hielt, zu töten? Was hatte sie über sich selbst auszusagen? Wie kam sie dazu, auf einem öden Feld in regnerischer Nacht sich allein aufzuhalten? Anstatt aber auf diese Fragen zu antworten, zog die rätselhafte Fremde eine kühle und kurze Entgegnung vor.

»Bringen Sie mich zu Sir Giles!« Das war alles, was sie zu den Polizeibeamten sagte.

Der Sergeant hatte die Handfesseln bereit, ließ sie aber, nachdem er beim Schein der Laterne die feinen Handgelenke der Gefangenen gesehen hatte, gleich wieder in seiner Tasche verschwinden.

»Eine Lady, da gibt's gar keinen Zweifel,« sagte er zu dem einen seiner Begleiter.

Seine beiden Untergebenen warteten mit boshaftem Interesse, um zu sehen, was er wohl zunächst anfangen würde. Die Liste der rühmlichen Eigenschaften ihres frommen Vorgesetzten enthielt auch Parteilichkeit für die Frauen, welche immer die gnadenreiche Seite der Gerechtigkeit walten ließ, wenn der Uebelthäter einen Unterrock trug.

»Wir werden Sie zu Sir Giles bringen, Miß,« sagte er und bot ihr anstatt der Handfesseln seinen Arm. Iris verstand ihn und nahm das Anerbieten an.

Sie verhielt sich schweigsam – ganz unverantwortlich schweigsam, wie die Männer dachten – auf dem Weg nach der Stadt. Einigemale hörten sie sie seufzen, und einmal klang der Seufzer mehr wie ein Schluchzen; sie ahnten nichts von dem, was in der Seele des jungen Mädchens während der Zeit vorging.

Der eine Gegenstand, welcher die Gedanken von Iris ganz in Anspruch genommen hatte, war die Rettung Lord Harrys. Nachdem diese gelungen, hatten ihre nun von der Sorge darum befreiten Gedanken sie jetzt an Arthur Mountjoy erinnert.

Es war schlechterdings unmöglich, daran zu zweifeln, daß die vorgeschlagene Zusammenkunft an dem Meilenstein den Zweck haben sollte, Sicherheitsmaßregeln für das Leben des jungen Mannes zu ergreifen. Ein Feigling ist immer mehr oder minder grausam. Die Handlungsweise von Sir Giles, ebenso hinterlistig wie unmenschlich, durch die er für die Sicherheit seines eigenen Lebens sorgen zu müssen glaubte, hatte Lord Harrys edles Vorhaben aufgeschoben, vielleicht sogar gänzlich vereitelt. Die Möglichkeit lag nahe, furchtbar nahe, daß es nur durch eine geschickte und pünktliche Benützung der Zeit möglich gewesen wäre, Arthur vor dem Tode durch Mörderhand zu bewahren. In der Gemütserregung, welche sie ergriffen hatte, trieb sie die Polizeibeamten ordentlich zur Eile an bei der Rückkehr in die Stadt.

Siebentes Kapitel.

Sir Giles hatte es so eingerichtet, daß er auf den Bericht über den Verlauf der Sache in seinem Privatzimmer in dem Bankhause harrte, und so befand er sich denn dort in Gesellschaft von Dennis Howmore in gespannter Erwartung der kommenden Dinge.

Der Polizeisergeant betrat zuerst allein das Zimmer des Bankiers, um seinen Bericht zu erstatten. Er ließ die Thür offen stehen, so daß Iris alles hören konnte, was in dem Zimmer gesprochen wurde.

»Haben Sie Ihren Gefangenen erwischt?« begann Sir Giles.

»Ja, Euer Gnaden.«

»Ist der Schurke auch genügend gefesselt?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, aber es ist gar kein Mann.«

»Unsinn, Sergeant, es kann doch unmöglich ein Knabe sein.«

 

Der Sergeant erklärte, es sei allerdings kein Knabe. »Es ist eine Frau!« sagte er.

»Was???«

»Eine Frau,« wiederholte der geduldige Beamte, »und zwar eine junge. Sie fragte nach Ihnen.«

»Bringen Sie die Person herein.«

Iris gehörte nicht zu den Menschen, die warten, bis sie hineingeführt werden. Sie trat aus eigenem Antrieb in das Zimmer.

»Herr Gott im Himmel,« schrie Sir Giles, »Iris, Sie?! In meinem Ueberrock und mit meinem Hut in der Hand! – Sergeant, das ist ja ein furchtbarer Irrtum. Die Dame hier ist mein Patenkind, Miß Henley.«

»Wir fanden sie bei dem Meilenstein, Euer Gnaden. Diese junge Dame und sonst niemand.«

Sir Giles wendete sich hilflos an sein Patenkind:

»Was soll das heißen?«

Anstatt zu antworten, warf Iris einen Seitenblick auf den Sergeanten. Der Beamte, der sich seiner Verantwortlichkeit bewußt war, ließ sich nicht irre machen und blickte seinerseits Sir Giles an. Aber sein Gesicht zeigte deutlich, daß das jedem Irländer angeborene lebhafte Gefühl für Humor gekitzelt war; er verriet jedoch nicht die Absicht, das Zimmer zu verlassen. Sir Giles erkannte, daß sich das junge Mädchen in Gegenwart des Mannes auf keine Erklärung einlassen würde, und sagte daher:

»Sie brauchen nicht länger zu warten.«

»Bitte, was soll mit der Gefangenen geschehen?« erkundigte sich der Sergeant.

Sir Giles beantwortete diese höchst unnötige Frage durch eine abwinkende Bewegung seiner Hand. Er war dreifach verantwortlich – als Baronet, als Bankier und als Handelsrichter.

»Ich werde dafür sorgen,« entgegnete er, »daß Miß Henley erscheint, wenn das Gericht es verlangt. Gute Nacht!«

Dem Pflichtgefühl des Sergeanten war Genüge gethan. Er grüßte militärisch und bezeigte seine Ehrerbietung der jungen Dame gegenüber artig durch eine Verbeugung. Darauf schritt er würdevoll aus dem Zimmer.

»Jetzt darf ich,« begann Sir Giles, »wohl annehmen, daß ich eine Erklärung erhalte. Was hat dieses sonderbare, unpassende Benehmen zu bedeuten? Was hatten Sie an dem Meilenstein zu thun?«

»Ich habe die Person gerettet, welche die Zusammenkunft mit Ihnen verabredet hatte,« sagte Iris, »den armen Menschen, der nichts Schlimmes gegen Sie im Sinn hatte, der im Gegenteil alles aufs Spiel setzte, um Ihren Neffen zu erretten. O, Sir, Sie haben einen verhängnisvollen Fehler begangen, daß Sie diesem Mann nicht getraut haben!«

Sir Giles hatte sich auf Aeußerungen von Furcht und demütige Entschuldigungen ihrerseits gefaßt gemacht, und jetzt antwortete sie ihm entrüstet mit zornig erregter Stimme und mit Thränen in den Augen. Das Bewußtsein seiner eigenen Würde wurde dadurch auf das empfindlichste verletzt.

»Wer ist denn eigentlich der Mensch, von dem Sie sprechen?« fragte er in hochmütigem Ton. »Und was haben Sie für eine Entschuldigung, daß Sie nach dem Meilenstein gegangen sind, um ihn zu retten – verkleidet mit meinem Ueberrock und unter meinem Hut verborgen?«

»Verschwenden Sie doch nicht die kostbare Zeit mit Fragen!« lautete die verzweifelte Antwort. »Suchen Sie das Unglück ungeschehen zu machen, das Sie schon angerichtet haben! Ihr Dazuthun – o, ich weiß genau, was ich sage! – kann vielleicht allein noch Ihren Neffen Arthur vor einem schweren Unglück bewahren. Gehen Sie auf sein Gut und retten Sie ihn!«

Sir Giles verlegte sich jetzt auf eine andere Tonart, er nahm plötzlich die mehr oder minder gut gemachte Miene der Bereitwilligkeit an, zog seine Uhr aus der Tasche und betrachtete sie spöttisch.

»Muß ich mich entschuldigen?« fragte er scheinbar zerknirscht.

»Nein, Sie müssen nur so schnell als möglich gehen.«

»Gestatten Sie, Miß Henley, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, daß der letzte Zug schon seit zwei Stunden abgefahren ist.«

»Was thut das? Sie sind reich genug, um einen Extrazug zu nehmen.«

Jetzt konnte sich Sir Giles, der Schauspieler, nicht länger verstellen; er ließ die Maske fallen und wurde wieder Sir Giles, der Mann, der er in Wirklichkeit war. Durch ein energisches Läuten mit der Glocke rief er Dennis herbei.

»Begleiten Sie Miß Henley nach Hause,« sagte er und fuhr, sich an Iris wendend, in strengem Ton fort: »Sie haben Zeit, während der noch übrigen Nachtstunden wieder Ihre fünf Sinne zu sammeln. Morgen früh will ich dann Ihre Entschuldigungen hören.«

Am nächsten Morgen stand das Frühstück wie gewöhnlich um neun Uhr bereit. Sir Giles befand sich aber allein an dem Tisch.

Er ließ einer der Dienerinnen sagen, sie möge an Miß Henleys Zimmerthür klopfen. Sir Giles mußte ziemlich lange warten, bis die Wirtschafterin in sehr erregtem Zustand selbst vor ihm erschien. Sie war in höchst eigener Person die Treppen hinaufgestiegen, um den Befehl des Herrn auszuführen.

Aber Miß Henley befand sich nicht in ihrem Zimmer, und ebensowenig ihr Kammermädchen. Doch waren die Betten während der Nacht zum Schlafen benützt worden. An dem schweren Gepäck hingen Zettel mit der Aufschrift: »Wird vom Hotel abgeholt werden.« Das war alles, was die verschwundene Iris an sichtbaren Zeugen ihrer Anwesenheit in diesen Räumen zurückgelassen hatte.

Sir Giles ließ im Hotel nachfragen. Die junge Dame war dort mit ihrem Mädchen sehr früh am Morgen erschienen. Sie hatten ihre Reisetaschen bei sich, und Miß Henley hatte die Weisung gegeben, daß das schwerere Gepäck bis zu ihrer Rückkehr unter der Obhut des Wirtes bleiben sollte. Was sie selbst zu thun vorgehabt hatte, das wußte niemand.

Sir Giles war zu aufgebracht, als daß er sich hätte erinnern können, was Iris in der vergangenen Nacht zu ihm gesagt, oder daß er hätte erraten können, welcher Grund sie zur Abreise bewogen hätte.

»Ihr Vater hat schon Aerger und Streit mit ihr gehabt,« sagte er, »und jetzt geht mir's ebenso.«

Seine Dienstboten empfingen den bestimmten Befehl, Miß Henley nicht wieder ins Haus hereinzulassen, wenn sie etwa gar die Kühnheit haben sollte, zu ihrem Paten zurückzukehren.

Achtes Kapitel.

Am Nachmittag desselben Tages langte Iris in der Ortschaft an, welche in der nächsten Nachbarschaft von Arthur Mountjoys Pachtgut gelegen war.

Die allgemeine Erregung, mit anderen Worten der Haß gegen England, der wie eine ansteckende Krankheit die Gemüter der Irländer ergriffen hatte, war sogar bis zu diesem weltentlegenen Orte gedrungen. Auf den Stufen, die in seine kleine Kapelle führten, stand der Priester, der, selbst ein Bauer, zu seinen Brüdern in lautem, lebhaftem Ton sprach. Ein Irländer, der seinem Gutsherrn den Zins zahlte, war ein Verräter an seinem Vaterland; derjenige aber, der sein freies, angeborenes Recht auf das Land behauptete, war ein erleuchteter Patriot. Das war das neue Gesetz, welches der ehrwürdige Herr seiner aufmerksamen Zuhörerschaft vorpredigte. Wenn seine Brüder gern von ihm wissen möchten, wie sie dieses Gesetz in Anwendung bringen sollten, so wolle er auf den treulosen Irländer Arthur Mountjoy hinweisen und ihnen sagen: »Kauft nichts von ihm, und verkauft nichts an ihn; geht ihm aus dem Weg, wenn er sich euch nähert; hungert ihn auf seinem Gut aus. Ich könnte noch mehr sagen. Freunde – ihr wißt schon, was ich meine!«

Den letzten Teil dieser rednerischen Leistung mit anhören zu müssen, ohne ein Wort des Widerspruchs dagegen äußern zu dürfen, war eine harte Prüfung ihrer Selbstüberwindung und Geduld, die Iris erzittern ließ. Erst in zweiter Linie machte sich bei ihr als eine durch die Ansprache des Priesters hervorgerufene Wirkung geltend, daß sich in ihrem Geist die Ueberzeugung von der Arthur drohenden Gefahr mit zehnfach verstärkter Zähigkeit festwurzelte. Nach dem, was sie soeben gehört hatte, konnte die geringste Verzögerung der Bewahrung seiner Sicherheit das beklagenswerteste Ergebnis zur Folge haben. Sie setzte einen barfüßigen Knaben, der außerhalb der den Priester umdrängenden Menge stand, durch das Geschenk eines Sechspencestückes in nicht geringes Erstaunen und erkundigte sich nach dem zur Besitzung Arthurs führenden Weg. Der kleine Irländer lief rasch vor ihr her, ernstlich bemüht, der freigebigen jungen Dame zu beweisen, wie brauchbar er schon sein konnte. In weniger denn einer halben Stunde stand Iris mit ihrem Kammermädchen vor der Thür des Gutshauses. Nichts von derartigen nützlichen Erfindungen der Zivilisation wie eine Glocke oder ein Klopfer war zu entdecken. Der Junge nahm statt dessen seine Fäuste und lief eilends davon, als er an der innern Seite den Schlüssel im Thürschloß sich drehen hörte. Er fürchtete, gesehen zu werden, wenn er mit einem Bewohner der »verfehmten Farm« spräche.

Eine einfach gekleidete alte Frau erschien und fragte argwöhnisch, was die Damen wünschten. Der Accent, mit dem sie sprach, war der unverfälscht englische. Als Iris nach Mr. Arthur Mountjoy fragte, lautete die Antwort: »Nicht zu Hause.« Darauf versuchte die Haushälterin, die Thür wieder zu schließen.

»Warten Sie einen Augenblick,« sagte Iris; »die Jahre haben Sie zwar verändert, aber in Ihrem Gesicht liegt etwas, was mir nicht ganz fremd ist. Sind Sie Mrs. Lewson?«

Die Alte erwiderte, dies sei ihr Name.

»Aber wie kommt es, daß Sie mir ganz unbekannt sind?« fragte sie mißtrauisch.


»Wenn Sie lange in Mr. Mountjoys Diensten gewesen sind,« antwortete Iris, »so werden Sie ihn vielleicht von Miß Henley haben sprechen hören?«

Das Gesicht der alten Frau erstrahlte sofort in freudigem Glanz; sie riß mit einem frohen Ausruf des Wiedererkennens die Thüre weit auf.

»Treten Sie ein. Miß, treten Sie ein! Wer hätte gedacht, Sie an diesem schrecklichen Ort zu sehen! Ja, ich war die Kinderfrau, unter deren Obhut Sie alle drei – Sie, Miß, Mr. Arthur und Mr. Hugh – zusammen gespielt haben!«

Ihre Augen ruhten mit Wohlgefallen auf ihrem Liebling vergangener Tage. Ihre feinfühlige Sympathie deutete Iris diesen Blick. Liebevoll bot sie der alten Wärterin die Wange zum Kuß. Nachdem sie dieser herzlichen Aufforderung Folge geleistet hatte, brach die Fassung der armen alten Frau zusammen; sie entschuldigte ihre Thränen mit den Worten:

»Wie oft ich jener, ach, so glücklichen Zeit denken mußte, Miß, werden Ihnen diese Thränen erzählen, – wenn Sie sie selbst nicht vergessen haben!«

Als sie das Empfangszimmer betraten, war der erste Gegenstand, den Iris erblickte, der Brief, den sie an Arthur geschrieben hatte; er lag noch uneröffnet auf dem Tisch.

»Er ist also wirklich nicht zu Hause?« fragte sie mit dem frohen Gefühl der Erleichterung.

Er war schon länger als eine Woche von dem Gut abwesend gewesen. Hatte er von einer andern Seite eine Warnung erhalten und in weiser Vorsicht sein Heil in der Flucht gesucht? Das Erstaunen, welches sich in dem Gesicht der Haushälterin ausdrückte, verlangte eine nähere Erklärung. Iris bekannte ohne Zurückhaltung die Gründe, die sie zu der Reise veranlaßt hatten, und erkundigte sich angelegentlich darnach, ob ihre Annahme unrichtig gewesen sei, daß sich Arthur in der ernstlichen Gefahr, ermordet zu werden, befunden hätte.

Mrs. Lewson schüttelte den Kopf. Es unterlag nicht dem geringsten Zweifel, daß Arthur in Gefahr schwebte; aber Iris hätte seine Natur besser kennen sollen, als daß sie glauben konnte, er habe sich dem drohenden Unheil durch die Flucht entzogen. Er hätte es selbst dann nicht gethan, wenn alle Mitglieder der Landliga zusammen ihn bedroht hätten. Nein, gewiß nicht! Lachend hätte er der Gefahr Trotz geboten. Er hatte sein Gut mit der Absicht verlassen, einen Freund in der nächsten Grafschaft zu besuchen, und die alte Frau hatte sich scharfsinnig zusammengereimt, daß ein junges Mädchen, welches sich dort befand, die Anziehungskraft wäre, die ihn so lange entfernt hielt.

»Auf jeden Fall wird er, wie es auch seine Absicht war, morgen zurückkommen,« sagte Mrs. Lewson. »Hoffentlich besinnt er sich aber eines Bessern und benützt die sich ihm bietende günstige Gelegenheit, nach England zu entweichen. Wenn die Barbaren hier in dieser Gegend durchaus jemand töten müssen, ich bin da – eine alte Frau, die doch nicht mehr lange zu leben hat. Mich können sie ruhig ermorden.«

Iris fragte, ob Arthurs Sicherheit auch in der nächsten Grafschaft gefährdet sei und in dem Hause seines Freundes.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Miß, denn ich bin niemals dort gewesen. Er ist in Gefahr, wenn er darauf besteht, nach seinem Gute zurückzukehren. Da gibt es auf dem ganzen Weg bis hierher Gelegenheiten genug, ihn aus dem Hinterhalt niederzuschießen. O, er weiß es, der arme, liebe Junge, ebenso gut, wie ich es weiß. Aber Menschen seiner Art sind so wunderliche, eigensinnige Geschöpfe. Er geht seine eigenen Wege und hört nicht auf eine alte Frau, wie ich bin. Und was seine Freunde anbetrifft, die ihm raten könnten – der einzige von ihnen, der unsere Schwelle betreten hat, ist ein Taugenichts, der besser weggeblieben wäre. Sie mögen vielleicht auch schon von ihm gehört haben. Der alte Earl, ein schlechter Mensch, wurde gewöhnlich mit einem schlimmen Namen bezeichnet, und der wilde junge Lord ist seines Vaters echter Sohn.«

 

»Doch nicht Lord Harry?« rief Iris aus.

Ihr Kammermädchen bemerkte die heftige Erregung in ihrer Stimme und in ihrem ganzen Wesen, sagte aber nichts. Die Haushälterin Arthurs dagegen machte gar nicht den Versuch, ihre Gedanken darüber zu verbergen.

»Hoffentlich kennen Sie diesen Vagabunden nicht,« sagte sie sehr ernst. »Vielleicht denken Sie an seinen älteren Bruder, den ältesten Sohn des alten Earl, der ein durchaus ehrenhafter Mann ist, wie man mir gesagt hat.«

Miß Henley ließ diese Fragen vollständig unbeachtet. Einzig und allein getrieben von dem Interesse für ihren Geliebten, welches sich jetzt mehr denn je ihrer Beherrschung entzogen hatte, fragte sie:

»Ist Lord Harry seines Freundes wegen in Gefahr?«

»Er hat nichts von dem Gesindel zu fürchten, das unsere Gegend unsicher macht,« entgegnete Mrs. Lewson. »Berichte erzählen, er gehöre selbst dazu. Die Polizei, die ist's, vor der seine junge Lordschaft auf der Hut sein muß, wenn nämlich alles wahr ist, was über ihn gesprochen wird. Jedenfalls kam er damals, als er meinem Herrn seinen Besuch abstattete, heimlich wie ein Dieb in der Nacht, und ich hörte Mr. Arthur, als sie beide zusammen hier im Empfangszimmer waren, ihn laut und heftig tadeln wegen etwas, was er gethan hatte. Und jetzt nichts mehr über Lord Harry, Miß! Ich habe mit Ihnen etwas Wichtiges zu besprechen. Wollen Sie, wenn ich Ihnen das Versprechen gebe, es Ihnen so behaglich wie möglich zu machen, wollen Sie dann bis morgen hier bleiben, damit Sie mit Mr. Arthur reden können? Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der im stande ist, ihn zu einiger Vorsicht zu bewegen, so sind Sie es nach meiner Meinung ganz allein.«

Iris erklärte sich sofort bereit, auf Arthur Mountjoys Rückkunft zu warten. Als Mrs. Lewson, um ihren häuslichen Obliegenheiten nachzugehen, sie mit ihrer Kammerzofe allein gelassen hatte, bemerkte sie in dem Gesichte des Mädchens etwas von Mißstimmung.

»Es scheint mir, Rhoda, als ob Du jetzt schon anfingest, zu wünschen,« sagte Iris, »ich hätte Dich nicht an diesen fremden Ort unter diese rohen und wilden Gesellen gebracht?«

Rhoda war ein stilles, freundliches Mädchen, augenscheinlich von sehr zarter Gesundheit. Sie lächelte matt und antwortete:

»Ich dachte gerade an einen andern Edelmann, Miß, als den, von dem Mrs. Lewson soeben sprach; er scheint ein sehr freies, leichtsinniges Leben geführt zu haben. Es stand in einer Zeitung gedruckt, die ich gelesen habe, bevor wir London verließen.«

»War sein Name erwähnt?« fragte Iris.

»Nein, Miß; ich glaube, sie fürchteten, sich dadurch Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er hatte so viele sonderbare Wege eingeschlagen, um sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben, daß es sich fast wie ein Roman las.«

»Erinnerst Du Dich noch der Erlebnisse des Helden?« fragte Iris.

»Ich will es versuchen, Miß, wenn Sie es zu hören wünschen.«

Die Erzählung in der Zeitung schien einen lebhaften Eindruck auf Rhodas Geist gemacht zu haben. Wenn man die selbstverständlichen Stockungen und Irrtümer und die Schwierigkeiten, sich richtig auszudrücken, in Abrechnung brachte, so wiederholte sie mit überraschend klarer Erinnerung den Inhalt dessen, was sie gelesen hatte.