Read the book: «Tödliches Nickerchen am Mondsee», page 2

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Die Hitze lag schwer auf Peter Waagners Schultern, der gemeinsam mit seinem Freund Robert Wullner seine morgendliche Runde um den Mondsee lief. Zwei Schwäne schwammen stolz im See, für die Waagner aber kein Auge hatte. Denn er kämpfte mit der Luft und gab diesen Kampf schließlich auf. Das letzte Drittel ging er mit Wullner zu Fuß.

„So oder so ähnlich könnte mein Krimi beginnen“, meinte Waagner zu seinem Freund, nachdem er ihn beim Gehen mit dem ersten Kapitel seines noch zu schreibenden Buches beglückt hatte. Wullner meinte nur lakonisch, ob da nicht bereits zu Beginn den Leser die Langeweile erdrücken könnte.

Ein Sommer wie damals

Merkwürdig war doch, dass man im wirklichen Leben, wenn man nicht gerade Polizist, Anwalt oder Richter war, gar nie mit Toten in Berührung kam. Natürlich, auch Ärzte, Totengräber und Versicherungsangestellte hatten gelegentlich mit Toten, Morden und Selbstmorden zu tun. Aber es wäre interessant zu wissen, dachte Peter Waagner, ob es in der Realität überhaupt so viele Morde gab wie in all den Krimis, die auf der ganzen Welt gerade geschrieben wurden. Die Mordstatistik für Österreich soll im Jahr 2014 von rund 150 Morden gesprochen haben. Darunter wären zwar gelegentlich Morde gewesen, die auch einem nicht unmittelbar mit der Unterwelt in Berührung Stehenden hätten passieren können. So zum Beispiel, wenn man spät abends von einem Discobesuch mit dem Taxi nach Hause fuhr, die letzten hundert Meter zu Fuß gehen wollte, um vor dem Einschlafen noch ein wenig Luft zu schnappen, und dann aus einem vorbeifahrenden Auto ohne jeglichen Grund erschossen wurde. Abgesehen davon, dass ein solcher Mord aus Jux und Tollerei für einen Krimi nicht sehr ergiebig gewesen wäre, hätte Waagner als normales kleinbürgerliches Mitglied der österreichischen Gesellschaft, der seinen Lebensunterhalt als überzeugend fabulierender und somit recht erfolgreicher Autoverkäufer verdiente, noch so oft einen Krimi lesen können, im wahren Leben wäre er nie über eine Leiche gestolpert. Denn die würden üblicherweise und in aller Regel in alten Weinpressen, in Häckselmaschinen, in alten Schlössern und in Kanalschächten, so diese in der Nähe von Freudenhäusern situiert waren, liegen. Und solche Orte lagen im Allgemeinen nicht auf Waagners Jogging-Runden.

Warum sich Waagner in den Kopf gesetzt hatte, in seinem Urlaub, den er am Mondsee verbrachte, ausgerechnet einen Krimi zu schreiben, war ihm inzwischen schon wieder entfallen. Wollte er darin vielleicht ein Verewigungsverfahren (Robert Musil) seiner selbst gefunden haben? Mitausschlaggebend könnte naturgemäß gewesen sein, dass er – offenbar wie viele andere Österreicher auch – einem Beruf nachging, der ihn geradewegs in die Arme eines Psychiaters geführt hätte, wäre es ihm nicht um das Honorar für einen solchen, wohl sich wiederholenden Arztbesuch zu schade gewesen. Waagner war ein quartalsweise frustrierter Autoverkäufer, der zwar im Verkauf von japanischen Sportwagen sehr erfolgreich zu sein schien, darin aber nur wenig Genugtuung fand und sich stets die Frage stellte, weshalb er überhaupt Germanistik studiert hatte. Nicht nur, dass dieses Studium auf eine mehr oder weniger brotlose Zukunft ausgerichtet war, falls man nicht den Fehler begangen haben würde, in irgendeinem Schulgebäude den Schülern zum Fraße vorgeworfen zu werden, sondern es schien ihm überdies seit den ersten Tagen an der Universität die unbeschwerte Lektüre von Literatur verleidet zu haben. Waagner konnte keine Seite eines Buches lesen, ohne Satzgefüge und Stil, Entstehungsgeschichte und Semantik, Rechtschreibung und Grammatik zu analysieren und ohne sich stets zu fragen, ob es sich beim jeweiligen Schriftsteller um ein Genie, einen Handwerker oder gar einen Psychopathen gehandelt hatte. Zu Beginn seiner Berufslaufbahn war ihm der Verkauf von Gebrauchtwagen als reinste Katharsis nach den geistig intensiven Tagen an der Universität und den durchzechten Nächten in den Studentenlokalen der Bundeshauptstadt erschienen. Der ihm wie ein Geschenk in den Schoß fallende Erfolg bei den Autoliebhabern ließ ihn anfangs für kurze Zeit vergessen, dass er sich sein akademisch ausgebildetes Leben anders vorgestellt hatte. Das irrwitzige Ausmaß seiner mit jedem Verkauf steigenden Provisionen, der Wechsel vom Gebrauchtwagen- in den Neuwagenbereich, der Übertritt von der italienischen defektanfälligen Modellpalette zur qualitativen japanischen Spitze und schließlich zur Verkaufsleitung hatten viele Jahre darüber hinweggetäuscht, dass Waagner sein Leben gleichermaßen vollständig verpfuscht hatte. Auch er war dem schnöden Mammon erlegen, fuhr schauerlich-prachtvolle japanische Luxusgefährte, lebte in einer respektablen Eigentumswohnung und leistete sich eine liebreizende Frau und zwei Kinder. Der Schein war perfekt, würde man gesagt haben, unter der Oberfläche hatte es seit einiger Zeit jedoch zu brodeln begonnen.

So überraschend mag der Wunsch, einen Krimi zu schreiben, dann wohl doch nicht gewesen sein. Hätte er Betriebswirtschaftslehre studiert, wäre ihm vielleicht die Idee gekommen, nach den abstoßend-prickelnden Grenzerfahrungen der Finanzkrise seinen Job überhaupt sein zu lassen und in das Investment Banking zu wechseln. Und hätte er sein Geld als Arzt in einem AKH verdient, wäre jetzt sicherlich der Zeitpunkt gekommen gewesen, um in Afrika oder im Regenwald Brasiliens Arzt ohne Grenzen und Verantwortung zu spielen. Aufgrund seiner germanistischen und teils auch germanischen Herkunft blieb ihm aber nichts anderes übrig, als seine blödsinnige und abgeschmackte Idee eines Buches während seiner Urlaubswochen in die Tat umzusetzen. Dabei war zu berücksichtigen, dass er sich dem Thema „Buch“ nicht zum ersten Mal anzunähern gedachte. Zuvor hatte er sich, wie er sich nachträglich einzugestehen hatte, bereits einmal in einem Anfall völliger Verzweiflung über sein automobilabhängiges Dasein an der Paraphrasierung einer kurzen Geschichte Joseph Roths versucht. Dass ihm diese sehr gut gelungen sei, hatte er sich während des Schreibens und kurz danach stets einzureden versucht. Er hatte in diesem Zusammenhang sogar kurzfristig daran gedacht, eine neue Kategorisierung von Büchern in den literarischen Kunstbetrieb einzuführen, etwas, das für Waagner als typisch bezeichnet werden konnte. Er war vom literarischen Kunstbetrieb so weit entfernt wie Österreichs Fußballnationalmannschaft vom Gewinnen der Weltmeisterschaft und dachte bereits an den möglicherweise zu führenden öffentlichen Diskurs über seine noch zu schreibenden Bücher und seine eigenen Beiträge hierzu!

Waagner stellte sich vor, zum Beispiel im Rahmen der Präsentation seines Buches auf der Frankfurter Buchmesse über die verschiedenen Funktionsbücher referieren zu wollen: Dabei würde er Gebrauchsanweisungen als Algebra-Bücher bezeichnen. Juristische Gebrauchstexte, wie zum Beispiel Vertragsauslegungen, wären demnach Geometrie-Bücher gewesen. Vektor-Bücher könnten laut Waagner solche Bücher sein, die von ihren Urhebern nur deshalb geschrieben werden, um damit Geld zu verdienen. Wollte man mit einem Buch unmittelbar das eigene und das Leben nahestehender Personen zu beeinflussen versuchen, so würde Waagner ein solches Buch als Integral-Buch bezeichnen. Und schließlich gab es noch die Differential-Bücher, mit deren Hilfe Autoren persönliche Ereignisse, Verluste und sonstige Tragödien zu verarbeiten und damit zu überwinden trachteten. Als Integral-Buch würde Waagner, hätte er außerhalb des Genfer und des Pariser Autosalons je hierzu die Gelegenheit gehabt, eben seine Paraphrase auf Joseph Roths Legende vom heiligen Trinker sehen wollen. Bei Waagner hieß die Geschichte übrigens Die Legende vom einfältigen Ehebrecher. Als Integral-Buch hätte sie ihm Mittel dazu sein sollen, bestimmte Personen seiner näheren Umgebung im Sinne dieses Buches zu beeinflussen. Der „Erfolg“ war überwältigend gewesen: Marla Tannhäuser, eine von Waagner in Jugendtagen sehr verehrte Studienkollegin, die inzwischen zur angesehenen Literaturkritikerin avanciert war, hatte neben vier Verlagen als Einzige das Buch zu lesen bekommen und verriss es – leider nicht öffentlich – in den höchsten Tönen. Von den Verlagen, die Waagner mit seinem Manuskript belästigt hatte, schrieben ihm zwei einen ingrimmigen Serienablehnungsbrief, einer bedankte sich für die „interessante Geschichte vom einfältigen EINBRECHER“, ein weiterer blieb stumm und die restlichen hundert von ihm nicht kontaktierten Verlage konnten ihr Glück nicht fassen, nichts davon zu wissen, dass sie sich das Porto für das Ablehnungsschreiben erspart hatten. Die Niedergeschlagenheit Waagners ob dieses erstklassigen Nichterfolges seines literarischen Erstlings machte sich gegenüber der Enttäuschung über die Erkenntnis, dass die besten Literaturkritiker den wahren Gehalt eines Buches nicht erkannten, nur minimal aus. Dass er das Buch für Marla Tannhäuser geschrieben hatte, um mit ihr wieder in Kontakt zu kommen, war von dieser mit höchster Ignoranz gewürdigt worden.

Wahrscheinlich war dies auch der Grund, weshalb sich Waagner bei seinem zweiten literarischen Versuch nun in ein Vektor-Buch zu stürzen beabsichtigte, wohlwissend, dass die Chance, damit wirklich Geld zu verdienen, grenzwertig gegen Null ging. Dass er dabei gleich zu Beginn mit den wesentlichen Problemen der Kriminalliteratur konfrontiert war, schien seine diesjährige Sommerurlaubslaune nicht gerade zu fördern. Denn zuerst musste er sich naturgemäß über die Personen seines Krimis klar werden. Es mussten zumindest so viele sein, dass ungefähr fünf bis sieben als potentielle Mörder in Frage kamen. Das war gar nicht so einfach, denn bei so vielen Verdächtigen musste er sich auch ebenso viele Motive aus den Fingern saugen. An klingenden Namen für seine Verdächtigen fehlte es Waagner nicht: Alexis Bubat, ein vom Schicksal stark gebeutelter Installateurgeselle, Laetitia Huncar, eine Zigeunerin mit sieben Kindern, Walter Yvtoncic und David Smeralnov, zwei Freunde von Bubat, ein namenloser Schotte und Josef Kella, der ehemalige Marketingleiter eines Autohauses, der inzwischen einer Werbeagentur vorstand. Zu viele Personen durften es wiederum auch nicht sein, denn sonst wären seine Leser, von deren intellektuellen Fähigkeiten Waagner noch keine genaue Vorstellung hatte, zu schnell überfordert. Durch eine nur bedingt repräsentative Umfrage unter drei Bekannten hatte er in Erfahrung bringen können, was für einen erfolgreichen Krimi ausschlaggebend war: Ein nicht zu komplizierter Aufbau der Geschichte und eine große, leicht lesbare Schrift. Ob er das erste Erfolgskriterium berücksichtigen wollte, erschien ihm eher unwahrscheinlich. Auf das Erscheinen seines Krimis in Großdruck würde er aber größten Wert in den Verhandlungen mit den Verlagen legen, die sich angesichts der unschlagbaren Werbebotschaft Der erste Krimi des letzten Autoverkäufers“ eines hemmungslos großartigen wirtschaftlichen Erfolges sicher sein durften.

Neben den Mordverdächtigen wollte Waagner auch eine gewisse Mindestanzahl von pompös konstruierten Statisten in das Geschehen einführen. Diese sollten nicht, wie er dies in seiner Legende vom einfältigen Ehebrecher angeblich getan hatte, blutleere, von Stereotypen und Klischees triefende Personen sein, die ohne Sinn und Herkunft lieblos in die Landschaft gestellt wurden. Kellner, die eine Geschlechtsumwandlung beabsichtigten, oder Weinbauern, die nur im Weinkeltern ihre Erfüllung sahen, schieden damit als Staffage für seinen Sherlock-Holmes-Fall aus. Auch sich nur über ihren roten Lippenstift und ihren herzbetörenden Duft definierende Frauengestalten waren demnach verpönt. Waagner rang innerlich mit sich, ob es eine gute Idee sein würde, das Personal seines Krimis dem wahren Leben zu entlehnen. In den Sinn waren ihm unter anderen gekommen: Seine Freunde Hardy Leiter und Robert Wullner, der Rechtsanwalt Dr. Oberfettinger sowie eine gewisse Adelheid Ripkö, die auch die wandelnde Hausmeisterin genannt werden konnte. Schließlich spielte er auch mit dem Gedanken, Marla Tannhäuser ein Denkmal zu setzen, als kleine Revanche für ihre Unwilligkeit oder Unfähigkeit, die wahre Botschaft seiner Legende vom einfältigen Ehebrecher zu entschlüsseln. Der Rückgriff auf die Wirklichkeit hatte aber naturgemäß den Nachteil, dass man seinem Werk nicht den stumpfsinnig-grandiosen Satz voranstellen konnte: „Alle Personen dieses Buches sind frei erfunden und allfällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig, wenn auch nicht unbeabsichtigt.“Außerdem wäre bei einem gewissen Minimalerfolg des Krimis auch nicht auszuschließen, mit dem Bernhard-Syndrom in Berührung zu kommen: Darin geübte Juristen würden es sich gegebenenfalls verbieten, in Papierform unter die Menschen gebracht zu werden, und deshalb einen Auslieferungsstopp der druckfrischen Bücher einstweilig verfügen lassen.

Als Hauptakteur schwebte Waagner in erster Linie sein Alter Ego vor. Der Held oder Antiheld würde ein zwar glücklicher, aber nicht zufriedener Autoverkäufer sein. Während Pessoas Hilfsbuchhalter Soares das Leben als einzige Überdrüssigkeit beschrieben und Musils Mann ohne Eigenschaften wohl einen Teil des leeren Lebens einer gewissen Leere des Zeitalters, in dem er lebte, zugeschrieben haben, würde Waagners Held bloß latent verzweifelt sein. Es würde ihm an dichterischem Talent mangeln, um die Sinnlosigkeit und Widerwärtigkeit des Lebens in jener unnachahmlichen Art des Herrn Soares auszudrücken, und er wäre weit von Ulrichs intellektuellen Fähigkeiten entfernt, um sich über die Philosophien dieser Welt entsprechend adäquate Gedanken zu machen. Es könnte ihm aber auch nur schlicht der Wille fehlen, sein Gehirn anzustrengen. Und dennoch könnte sich der Held des Krimis, so wie sein geistiger Vater Waagner, in den Kopf gesetzt haben, ein Buch zu schreiben, ein Buch über die Liebe oder den Tod? Oder beides? Oder gar einen Krimi? Der Gedanke an das Schreiben eines Buches im Rahmen eines Buches, das von jemandem geschrieben wurde, der über das Bücherschreiben schreibt, reizte Waagner und schien ihm trefflich geeignet, einen Großteil der normalen Krimianhängerschaft zu verwirren oder gar abzustoßen und damit sein Ziel, ein Vektor-Buch zu schreiben, von vornherein scheitern zu lassen.

Unschlüssig war Waagner noch darüber, ob sein ermittelnder Polizist dem Helden ebenbürtig sein würde und ob sich die wesentlichen Handlungsstränge um seinen Helden oder um Inspektor K. ranken sollten. Wäre es eine Idee, die von seinem imaginären Publikum mit Beifall bedacht würde, wenn Inspektor K. bloß durch Zufall zur Polizei gekommen und aufgrund seines Jusstudiums alle Basisstationen der Polizeiausbildung übersprungen haben und nun seinen ersten Mordfall gleichsam als sogenannten Einführungsfall an der Seite des sein Büro nicht verlassenden Kommissars Maigret leiten würde? Oder gefiele es dem Leser besser, wenn Inspektor K. so dünn war, dass er sich im Schatten der Verkehrstafelstangen vor der sengenden Kleinstadtsonne verstecken können würde?

Das prunkvolle Stiegenhaus, die Gestalt am See und ein unsichtbarer Liebhaber

Inspektor K. wurde von seiner Freundin in ihrem schwarzen CRX Halbcabrio ins AKH Linz chauffiert. Es war zwar bedrückend, regelmäßig in diesem von hässlich-modernen Gebäuden bestückten Gelände vorzufahren. Aber sein Therapeut hatte es noch zu keiner eigenen Praxis gebracht, weshalb die Sitzungen in dessen Arztzimmer im AKH stattfanden. Als Inspektor K. sein erstes Therapiegespräch hatte, war er vom Ambiente des sehr nüchtern eingerichteten Zimmers mehr als enttäuscht. Er war durch die Bilder von Freuds Ordinationsräumen in der Berggasse so vorbelastet gewesen, dass er damals vergeblich nach der Couch Ausschau gehalten hatte, die er für ein unerlässliches Mobiliar bei einem Therapeuten hielt.

„Ich befand mich in einem sehr stattlichen Pariser Bürgerhaus in der Avenue Mozart. Die Adresse dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass ein Cousin meiner Freundin einstens dort wohnte. Allerdings war dessen Wohnung eher klein und beengt gewesen, während die Wohnung in meinem heutigen Traum weitläufig und reich ausgestattet war. Auch das Stiegenhaus war prachtvoll: Goldene Lampen, reichliche Stuckaturen, Marmortreppen rund um einen von einem fein verzierten, schmiedeeisernen Gehäuse umgebenen Aufzug. In den Mauernischen standen griechische Skulpturen, an den dazwischen befindlichen Wänden hingen Ölgemälde, welche Szenen aus der griechischen Mythologie zeigten. Der rote Teppich, der von glänzenden Messingstangen in seiner Bahn gehalten wurde, rundete das Traumbild ab, dem zur Vollkommenheit nur noch der richtige Geruch gefehlt hätte. Diesen wird wohl die Tochter des Hauses versprüht haben. Aber genau kann ich mich nicht daran erinnern, wie ich mich überhaupt selten an Gerüche in meinen Träumen erinnern kann. Dass das Unaussprechliche ausgerechnet im Stiegenhaus geschah, überraschte mich. Allerdings weiß ich nicht, was dem vorausgegangen war. Ich war plötzlich – wie in eine Filmszene hineingeworfen – in diesem Stiegenhaus. Ich wusste nur, dass ich in Paris war, dass dieses junge Mädchen sehr liebenswert und das Nachfolgende unvermeidlich war. Ich kannte dieses Mädchen nicht, wusste auch ihren Namen nicht. Etwas Unwiderstehliches trieb mich geradewegs in ihre Arme. Aber ohne den Genuss dieses Moments, dieser Situation länger auskosten zu können, fand ich mich ohne Übergang kurz darauf im großzügigen, ja man könnte sagen, mondänen Badezimmer dieses Hauses wieder. Ich war in der Dusche. Davor stand die Mutter des Mädchens und sprach mit mir über das Vorgefallene. Dabei schwang in ihrer Stimme zu meiner Überraschung kein Vorwurf mit. Es war eine sachliche Analyse des Geschehenen, die Diskussion möglicher Konsequenzen für mich wie auch für ihre Tochter.“

„War dabei auch von einer möglichen Schwangerschaft die Rede?“

„Nein, das glaube ich nicht. Es ging vielmehr um die nun notwendig werdenden Vorbereitungen für eine Hochzeit. Die Mutter meinte wohl meine Hochzeit mit ihrer Tochter. An die Details kann ich mich nicht erinnern. Es blieb nur der eigenartige Nachgeschmack des Umstands, dass ich in dieser nur von Glaswänden umgebenen Dusche stand, während sich die Mutter ungeniert auf einen mit einer Husse überzogenen und mit grünen Kordeln geschmückten Sessel gesetzt hatte, mir beim Duschen zusah und sich mit mir über die Zukunft ihrer Tochter unterhielt. Wie ein kurzer Blitz durchzuckte es mich, ob sie sich bei der Heirat ihrer Tochter mit mir auch etwas für sich versprach. Aber für eine solche frivole Frage schien mir im Traum der Mut zu fehlen. Auch diese Szene ging nahtlos in eine neue über, die aber mit dem davor Erlebten keinen Zusammenhang zu haben schien.

Wieder stand eine Frau im Mittelpunkt, eine sehr schöne Frau. Ob die im Badezimmer sitzende Frau attraktiv gewesen war, vermag ich jetzt nicht mehr zu beurteilen. Diesmal war es eine sehr große, schlanke Frau, die in ein weißes Kleid aus luftigem Tüll gekleidet schien. Ihre langen, blonden Haare umrahmten ein ebenmäßig schönes Gesicht, das vom Licht des Mondes erhellt war. Sie stand am Ufer eines Sees und schaute auf das Wasser hinaus. Ich weiß nicht, ob ich selbst in dieser Traumsequenz mitspielte oder ob ich dies alles nur von einem unbekannten Ort aus beobachtete. Wieder war das Gefühl da, dass es zwischen dieser Frau und mir, der ich zwar im Schlaf, nicht jedoch im Traum existierte, irgendeine unsichtbare Verbindung gab. Banal ausgedrückt könnte es naturgemäß bloß wieder mein unstillbares Begehren nach dieser Schönheit gewesen sein. Oder ist es wieder ein Hinweis auf die in meinem Unterbewusstsein liegenden Wünsche, die in meiner jetzigen Beziehung nicht verwirklichbar erscheinen? Ich genoss jedenfalls den Anblick der Frau, wie sie einfach so dastand. Wahrscheinlich dürfte ein leichter Wind ihre Kleider derart bewegt haben, dass auch jeder andere Mann in Verzückung versetzt worden wäre. Beim genauen Betrachten ihres Gesichtes gewahrte ich, dass sie nicht schwerelos und unbekümmert auf den See hinaussah. Es hatte nicht den Anschein, als würde sie gerade auf ein amouröses Abenteuer warten. Obwohl ich mich in dieser Phase, da ich offenbar auch erkannte, dass ich träumte und es daher in der Hand zu haben glaubte, den weiteren Verlauf meines Traumes durch eine gewisse Anstrengung oder durch Ausüben eines unmerklichen Druckes auf mein Unterbewusstsein in eine Richtung lenken zu können, gerne in die Handlung eingebracht hätte, musste ich feststellen, dass ich hier nur die Rolle des Polizisten hätte übernehmen dürfen.

Denn plötzlich näherte sich ein junger Mann, der einen Körper über seine Schultern geworfen hatte. Aufgrund seiner Bewegungen vermutete ich, dass der Mensch, den er trug, sehr schwer sein musste. Die Frau lief auf den jungen Mann zu und versuchte, ihm beim Tragen behilflich zu sein. Ich konnte nicht erkennen, ob die beiden mit einem toten oder noch lebenden Menschen hantierten, ich wusste nur, dass es ein Mann, ein sehr beleibter Mann sein musste. Gemeinsam schleppten sie den Körper die Böschung zum See hinunter, wo ein Elektroboot – wahrscheinlich ein Frauscher-Boot – angebunden lag. Mit Mühe legten sie den zumindest bewusstlosen Mann in das Boot. Die Frau startete den Motor und lenkte das Boot in die Mitte des Sees. Während mein Unterbewusstsein im Traum noch damit haderte, sich dem Betrachten der schönen Frau nicht weiter hingeben zu können, stellte mein träumerisches Bewusstsein mit Erstaunen fest, dass die Frau und der junge Mann offenbar einen Menschen im See versenken wollten. Ich schien meinen Beobachtungsposten aber nicht zu verändern, denn das Boot wurde immer kleiner, als es auf den See hinausfuhr. Es ist schwer, jetzt im Nachhinein zu beurteilen, ob ich wirklich sah, wie die beiden den Mann mit großer Anstrengung über den Bootsrand hievten und ihn in das dunkle Wasser fallen ließen. Die Szenerie wirkte gespenstisch: Die weiß gewandete Frau, vom Mond wie von einem Scheinwerfer beleuchtet, fast durchsichtig, ohne dass darunter jedoch – wie Sie jetzt vielleicht vermuten – die Silhouette ihres Körpers zu sehen gewesen wäre. Unmittelbar daneben tiefschwarze Dunkelheit, die vor allem den jungen Mann und auch den zu entsorgenden leblosen Körper umgab. Wenn es außerhalb des kleinen Lichtkegels, in dessen Mitte die Frau stand, wirklich so dunkel war, wie ich mich jetzt zu erinnern glaube, so kann ich gar nicht gesehen haben, dass der Mann ins Wasser geworfen wurde. Aber es war so naheliegend, es konnte gar nicht anders sein.“

„Hatten Sie in der Vergangenheit schon einen Mordfall mit einer Wasserleiche?“

„Nein, ich hatte bisher überhaupt noch keinen Mordfall zu bearbeiten. Sie wissen ja, dass ich erst seit Kurzem bei der Polizei bin. Nein, zu einem Mord habe ich es bisher nicht gebracht. Glauben Sie, dass dieser Traum etwas mit meinem Beruf und gar nicht mit dem anderen Problem zu tun hat? Übrigens gab es nach diesem, ich möchte fast sagen, beeindruckenden Schlussbild der weißen Frau im Mondlicht sofort einen erneuten Schnitt. Wieder war ich in einer großen Wohnung oder vielleicht war es diesmal ein Haus. Es war ein mir unbekanntes Haus, erinnerte mich beinahe an ein Schloss, so weit verzweigt waren seine Räume. Ich war hier offenbar weder zu Hause noch geladener Gast. Vielleicht trieb ich mich, Sie würden vielleicht sagen, in voyeuristischer Absicht umher. In einem Zimmer, das zu einer offenbar zusammenhängenden Zimmerflucht gehörte, befand sich eine junge Frau mit ihrem ungefähr drei- bis vierjährigen Sohn. Vielleicht spielten die beiden miteinander oder sie half ihm beim Anziehen oder vielleicht saßen sie bloß auf der Bettkante und sprachen miteinander. Ich weiß es nicht. Die Frau und der Bub sahen mich nicht oder nahmen mich nicht wahr, weil ich wieder nicht anwesend war. Nein, diesmal war ich anwesend, war für die beiden aber nicht sichtbar, weil ich wohl hinter einer Tür oder einem Vorhang stand. Gerade als ich mich entschloss, mich den beiden zu zeigen, schienen andere Familienangehörige nach Hause zu kommen. Es hatte für mich den Anschein, als wohnte in diesem Haus eine amerikanische Großfamilie, deren einer Teil von einer Reise heimgekehrt war. Mit großem Lärm kamen viele Kinder unterschiedlichsten Alters in ein riesiges Esszimmer gerannt, wo man das gemeinsame Abendessen einnehmen wollte. Die junge Frau mit ihrem kleinen Sohn mochte die Tante dieser Kinder sein, auch sie wurde zum Essen gerufen. Irgendwie muss es mir gelungen sein, mit der jungen Frau, die naturgemäß Claudia Schiffer ähnlich sah, auf dem Weg von ihrer Suite ins Esszimmer in Kontakt zu treten. Da das Haus – oder Schloss? – sehr groß war, muss einige Zeit vergangen sein, bis wir das Esszimmer erreichten. In dieser Zeitspanne kam es zu einer gewissen Annäherung zwischen ihr und mir, aber nicht in dem Sinne, wie Sie das jetzt vermuten. Nein, dazu reichte auch die irreale Zeitdimension meines Traumes nicht aus. Die Zeit musste aber ausreichend gewesen sein, um bei uns gegenseitige Sympathien entstehen zu lassen. Und ich hatte den Eindruck gewonnen, es würde sich lohnen, das Abendessen der Großfamilie abzuwarten, um mich danach mit ihr zu treffen. Im Esszimmer angekommen, ereignete sich jedoch das Sonderbare: Ich wurde von den übrigen Familienmitgliedern offenbar nicht wahrgenommen, obwohl ich in meinem Traum tatsächlich existierte. Das konnte ich an den Reaktionen der jungen Frau und ihres Sohnes erkennen, die mir immer wieder sonderbare Blicke zuwarfen. Für die anderen im Raum war ich hingegen unsichtbar. Daraus ergab sich, dass ich nicht die Möglichkeit erhielt, offiziell am Essen teilzunehmen. Ich bewegte mich daher zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, die noch dieses und jenes aus der Küche holten, sich an den Tisch setzten und wieder aufsprangen. Dabei bemerkte ich, dass ich zwar unsichtbar, aber nicht unfühlbar war. Denn einige der Anwesenden stießen gegen mich, wenn ich unvorsichtigerweise meine zu begehrlichen Blicke auf die junge Frau richtete und nicht gewahrte, dass ich jemandem im Weg stand. Im Grunde hatte das Ganze etwas von jenen Slapstick-Filmen, in welchen Leute über unsichtbare Gegenstände fielen und sich wunderten, was um sie herum vorging. Für mich wäre dieser Teil meines Traumes letztlich nur mühsam gewesen, wenn nicht die gelegentlichen Zusammenstöße meine Angebetete veranlassten, immer wieder die absurdesten Erklärungen für das Taumeln ihrer Verwandten zu geben. Sie tat dies mit einer solchen Beflissenheit, dass ich daraus den Schluss zog, dass sie mit allen Mitteln verhindern wollte, dass die übrigen Anwesenden von meiner Existenz erfuhren. Wohl in einer gewissen Blindheit der jungen Verliebtheit wollte ich mich glauben machen, dass sie sich auf das vor uns liegende Treffen ebenso freute wie ich mich.“

„Und kam es zu diesem Treffen, bei dem wieder einmal das Unaussprechliche geschah?“

„Nein, diesmal nicht, ich wachte wahrscheinlich eine Minute zu früh auf.“