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Märchen-Almanach auf das Jahr 1827

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Der alte Fremde konnte leider dem Triumph seines Neffen nicht beiwohnen, weil er krank war; er gab aber dem Bürgermeister, der ihn eine Stunde zuvor noch besuchte, einige Maßregeln über seinen Neffen auf. "Er ist eine gute Seele, mein Neffe", sagte er, "aber hier und da verfällt er in allerlei sonderbare Gedanken und fängt dann tolles Zeug an; es ist mir eben deswegen leid, daß ich dem Konzert nicht beiwohnen kann; denn vor mir nimmt er sich gewaltig in acht, er weiß wohl, warum! Ich muß übrigens zu seiner Ehre sagen, daß dies nicht geistiger Mutwillen ist, sondern es ist körperlich, es liegt in seiner Natur. Wollten Sie nun, Herr Bürgermeister, wenn er etwa in solche Gedanken verfiele, daß er sich auf ein Notenpult setzte oder daß er durchaus den Kontrabaß streichen wollte oder dergleichen, wollten Sie ihm dann nur seine hohe Halsbinde etwas lockerer machen oder, wenn es auch dann nicht besser wird, ihm solche ganz ausziehen, Sie werden sehen, wie artig und manierlich er dann wird."

Der Bürgermeister dankte dem Kranken für sein Zutrauen und versprach, im Fall der Not also zu tun, wie er ihm geraten.

Der Konzertsaal war gedrängt voll; denn ganz Grünwiesel und die Umgegend hatten sich eingefunden. Alle Jäger, Pfarrer, Amtleute, Landwirte und dergleichen aus dem Umkreis von drei Stunden waren mit zahlreicher Familie herbeigeströmt, um den seltenen Genuß mit den Grünwieselern zu teilen. Die Stadtmusikanten hielten sich vortrefflich; nach ihnen trat der Bürgermeister auf, der das Violoncell spielte, begleitet vom Apotheker, der die Flöte blies; nach diesen sang der Organist eine Baßarie mit allgemeinem Beifall, und auch der Doktor wurde nicht wenig beklatscht, als er auf dem Fagott sich hören ließ.

Die erste Abteilung des Konzertes war vorbei, und jedermann war nun auf die zweite gespannt, in welcher der junge Fremde mit des Bürgermeisters Tochter ein Duett vortragen sollte. Der Neffe war in einem glänzenden Anzug erschienen und hatte schon längst die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. Er hatte sich nämlich, ohne viel zu fragen, in den prächtigen Lehnstuhl gelegt, der für eine Gräfin aus der Nachbarschaft hergesetzt worden war; er streckte die Beine weit von sich, schaute jedermann durch ein ungeheueres Perspektiv an, das er noch außer seiner großen Brille gebrauchte, und spielte mit einem großen Fleischerhund, den er trotz des Verbotes, Hunde mitzunehmen, in die Gesellschaft eingeführt hatte. Die Gräfin, für welche der Lehnstuhl bereitet war, erschien; aber wer keine Miene machte, aufzustehen und ihr den Platz einzuräumen, war der Neffe; er setzte sich im Gegenteil noch bequemer hinein, und niemand wagte es, dem jungen Mann etwas darüber zu sagen; die vornehme Dame aber mußte auf einem ganz gemeinen Strohsessel mitten unter den übrigen Frauen des Städtchens sitzen und soll sich nicht wenig geärgert haben.

Während des herrlichen Spieles des Bürgermeisters, während des Organisten trefflicher Baßarie, ja sogar während der Doktor auf dem Fagott phantasierte und alles den Atem anhielt und lauschte, ließ der Neffe den Hund das Schnupftuch apportieren oder schwatzte ganz laut mit seinen Nachbarn, so daß jedermann, der ihn nicht kannte, über die absonderlichen Sitten des jungen Herrn sich wunderte.

Kein Wunder daher, daß alles sehr begierig war, wie er sein Duett vortragen würde. Die zweite Abteilung begann; die Stadtmusikanten hatten etwas weniges aufgespielt, und nun trat der Bürgermeister mit seiner Tochter zu dem jungen Mann, überreichte ihm ein Notenblatt und sprach: "Mosjöh, wäre es Ihnen jetzt gefällig, das Duetto zu singen?" Der junge Mann lachte, fletschte mit den Zähnen, sprang auf, und die beiden anderen folgten ihm an das Notenpult, und die ganze Gesellschaft war voll Erwartung. Der Organist schlug den Takt und winkte dem Neffen, anzufangen. Dieser schaute durch seine großen Brillengläser in die Noten und stieß greuliche, jämmerliche Töne aus. Der Organist aber schrie ihm zu: "Zwei Töne tiefer, Wertester, C müssen Sie singen, C!"

Statt aber C zu singen, zog der Neffe einen seiner Schuhe ab und warf ihn dem Organisten an den Kopf, daß der Puder weit umherflog. Als dies der Bürgermeister sah, dachte er. "Ha, jetzt hat er wieder seine körperlichen Zufälle!", sprang hinzu, packte ihn am Hals und band ihm das Tuch etwas leichter; aber dadurch wurde es nur noch schlimmer mit dem jungen Mann. Er sprach nicht mehr Deutsch, sondern eine ganz sonderbare Sprache, die niemand verstand, und machte große Sprünge. Der Bürgermeister war in Verzweiflung über diese unangenehme Störung; er faßte daher den Entschluß, dem jungen Mann, dem etwas ganz Besonderes zugestoßen sein mußte, das Halstuch vollends abzulösen. Aber kaum hatte er dies getan, so blieb er vor Schrecken wie erstarrt stehen; denn statt menschlicher Haut und Farbe umgab den Hals des jungen Menschen ein dunkelbraunes Fell, und alsobald setzte derselbe auch seine Sprünge noch höher und sonderbarer fort, fuhr sich mit den glasierten Handschuhen in die Haare, zog diese ab, und o Wunder, diese schönen Haare waren eine Perücke, die er dem Bürgermeister ins Gesicht warf, und sein Kopf erschien jetzt mit demselben braunen Fell bewachsen.

Er setzte über Tische und Bänke, warf die Notenpulte um, zertrat Geigen und Klarinette und erschien wie ein Rasender. "Fangt ihn, fangt ihn!" rief der Bürgermeister ganz außer sich, "er ist von Sinnen, fangt ihn!" Das war aber eine schwierige Sache; denn er hatte die Handschuhe abgezogen und zeigte Nägel an den Händen, mit welchen er den Leuten ins Gesicht fuhr und sie jämmerlich kratzte. Endlich gelang es einem mutigen Jäger, seiner habhaft zu werden. Er preßte ihm die langen Arme zusammen, daß er nur noch mit den Füßen zappelte und mit heiserer Stimme lachte und schrie. Die Leute sammelten sich umher und betrachteten den sonderbaren jungen Herrn, der jetzt gar nicht mehr aussah wie ein Mensch. Aber ein gelehrter Herr aus der Nachbarschaft, der ein großes Naturalienkabinett und allerlei ausgestopfte Tiere besaß, trat näher, betrachtete ihn genau und rief dann voll Verwunderung: "Mein Gott, verehrte Herren und Damen, wie bringen Sie nur dies Tier in honette Gesellschaft, das ist ja ein Affe, der Homo Troglodytes Linnaei, ich gebe sogleich sechs Taler für ihn, wenn Sie mir ihn ablassen, und balge ihn aus für mein Kabinett."

Wer beschreibt das Erstaunen der Grünwieseler, als sie dies hörten! "Was, ein Affe, ein Orang-Utan in unserer Gesellschaft? Der junge Fremde ein ganz gewöhnlicher Affe?" riefen sie und sahen einander ganz dumm vor Verwunderung an. Man wollte nicht glauben, man traute seinen Ohren nicht, die Männer untersuchten das Tier genauer, aber es war und blieb ein ganz natürlicher Affe.

"Aber, wie ist dies möglich!" rief die Frau Bürgermeister. "Hat er mir nicht oft seine Gedichte vorgelesen? Hat er nicht wie ein anderer Mensch bei mir zu Mittag gespeist?"

"Was?" eiferte die Frau Doktorin. "Wie? Hat er nicht oft und viel den Kaffee bei mir getrunken und mit meinem Manne gelehrt gesprochen und geraucht?"

"Wie! Ist es möglich!" riefen die Männer. "Hat er nicht mit uns am Felsenkeller Kugeln geschoben und über Politik gestritten wie unsereiner?"

"Und wie?" klagten sie alle. "Hat er nicht sogar vorgetanzt auf unseren Bällen? Ein Affe! Ein Affe? Es ist ein Wunder, es ist Zauberei!" sagten die Bürger. "Ja, es ist Zauberei und teuflischer Spuk", sagte der Bürgermeister, indem er das Halstuch des Neffen oder Affen herbeibrachte. "Seht! In diesem Tuch steckte der ganze Zauber, der ihn in unseren Augen liebenswürdig machte. Da ist ein breiter Streifen elastischen Pergaments, mit allerlei wunderlichen Zeichen beschrieben. Ich glaube gar, es ist Lateinisch; kann es niemand lesen?"

Der Oberpfarrer, ein gelehrter Mann, der oft an den Affen eine Partie Schach verloren hatte, trat hinzu, betrachtete das Pergament und sprach: "Mitnichten! Es sind nur lateinische Buchstaben, es heißt:

DER—AFFE—SEHR—POSSIERLICH—IST—ZUMAL—WANN—ER—VOM—APFEL—FRISST -Ja, ja, es ist höllischer Betrug, eine Art von Zauberei", fuhr er fort, "und es muß exemplarisch bestraft werden."

Der Bürgermeister war derselben Meinung und machte sich sogleich auf

den Weg zu dem Fremden, der ein Zauberer sein mußte, und sechs

Stadtsoldaten trugen den Affen; denn der Fremde sollte sogleich ins

Verhör genommen werden.

Sie kamen, umgeben von einer ungeheuren Anzahl Menschen, an das öde Haus; denn jedermann wollte sehen, wie sich die Sache weiter begeben würde. Man pochte an das Haus, man zog die Glocke, aber vergeblich, es zeigte sich niemand. Da ließ der Bürgermeister in seiner Wut die Türe einschlagen und begab sich hierauf in die Zimmer des Fremden. Aber dort war nichts zu sehen als allerlei alter Hausrat. Der fremde Mann war nicht zu finden. Auf seinem Arbeitstisch aber lag ein großer, versiegelter Brief, an den Bürgermeister überschrieben, den dieser auch sogleich öffnete. Er las:

"Meine lieben Grünwieseler!

Wenn Ihr dies leset, bin ich nicht mehr in Eurem Städtchen, und Ihr werdet dann längst erfahren haben, wes Standes und Vaterlandes mein lieber Neffe ist. Nehmet den Scherz, den ich mit Euch erlaubte, als eine gute Lehre auf, einen Fremden, der für sich leben will, nicht in Eure Gesellschaft zu nötigen. Ich selbst fühlte mich zu gut, um Euer ewiges Klatschen, um Eure schlechten Sitten und Euer lächerliches Wesen zu teilen. Darum erzog ich einen jungen Orang-Utan, den Ihr als meinen Stellvertreter so liebgewonnen habt. Lebet wohl und benützet diese Lehre nach Kräften!"

Die Grünwieseler schämten sich nicht wenig vor dem ganzen Land. Ihr Trost war, daß dies alles mit unnatürlichen Dingen zugegangen sei. Am meisten schämten sich aber die jungen Leute in Grünwiesel, weil sie die schlechten Gewohnheiten und Sitten des Affen nachgeahmt hatten. Sie stemmten von jetzt an keinen Ellbogen mehr auf, sie schaukelten nicht mit dem Sessel, sie schwiegen, bis sie gefragt wurden, sie legten die Brillen ab und waren artig und gesittet wie zuvor, und wenn je einer wieder in solche schlechten, lächerlichen Sitten verfiel, so sagten die Grünwieseler: "Es ist ein Affe." Der Affe aber, welcher so lange die Rolle eines jungen Herrn gespielt hatte, wurde dem gelehrten Mann, der ein Naturalienkabinett besaß, überantwortet. Dieser läßt ihn in seinem Hof umhergehen, füttert ihn und zeigt ihn als Seltenheit jedem Fremden, wo er noch bis auf den heutigen Tag zu sehen ist.

 

Es entstand ein Gelächter im Saal, als der Sklave geendet hatte, und auch die jungen Männer lachten mit. "Es muß doch sonderbare Leute geben unter diesen Franken, und wahrhaftig, da bin ich lieber beim Scheik und Mufti in Alessandria als in Gesellschaft des Oberpfarrers, des Bürgermeisters und ihrer törichten Frauen in Grünwiesel!"

"Da hast du gewiß recht gesprochen", erwiderte der junge Kaufmann.

"In Frankistan möchte ich nicht tot sein. Die Franken sind ein rohes,

wildes, barbarisches Volk, und für einen gebildeten Türken oder

Perser müßte es schrecklich sein, dort zu leben."

"Das werdet ihr bald hören", versprach der Alte, "so viel mir der

Sklavenaufseher sagte, wird der schöne junge Mann dort vieles von

Frankistan erzählen; denn er war lange dort und ist doch seiner

Geburt nach ein Muselmann."

"Wie, jener, der zuletzt sitzt in der Reihe? Wahrlich, es ist eine Sünde, daß der Herr Scheik diesen losgibt! Es ist der schönste Sklave im ganzen Land; schaut nur dieses mutige Gesicht, dieses kühne Auge, diese schöne Gestalt! Er kann ihm ja leichte Geschäfte geben; er kann ihn zum Fliegenwedeler machen oder zum Pfeifenträger; es ist ein Spaß, ein solches Amt zu versehen, und wahrlich, ein solcher SkIave ist die Zierde von einem ganzen Haus. Und erst drei Tage hat er ihn und gibt ihn weg? Es ist Torheit, es ist Sünde!"

"Tadelt ihn doch nicht, ihn, der weiser ist als ganz Ägypten!" sprach der Alte mit Nachdruck. "Sagte ich euch nicht schon, daß er ihn losläßt, weil er glaubt, den Segen Allahs dadurch zu verdienen? Ihr sagt, er ist schön und wohlgebildet, und ihr sprecht die Wahrheit. Aber der Sohn des Scheik, den der Prophet in sein Vaterhaus zurückbringen möge, der Sohn des Scheik war ein schöner Knabe und muß jetzt auch groß sein und wohlgebildet. Soll er also das Gold sparen und einen wohlfeilen, verwachsenen Sklaven hingeben in der Hoffnung, seinen Sohn dafür zu bekommen? Wer etwas tun will in der Welt, der tut es lieber gar nicht oder—recht!"

"Und sehet, des Scheik Augen sind immer auf diesen Sklaven geheftet; ich bemerkte es schon den ganzen Abend. Während der Erzählungen streifte oft sein Blick dorthin und verweilte auf den edlen Zügen des Freigelassenen. Es muß ihn doch ein wenig schmerzen, ihn freizugeben."

"Denke nicht also von dem Mann! Meinst du, tausend Tomans schmerzen ihn, der jeden Tag das Dreifache einnimmt?" sagte der alte Mann. "Aber wenn sein Blick mit Kummer auf dem Jüngling weilt, so denkt er wohl an seinen Sohn, der in der Fremde schmachtet; er denkt wohl, ob dort vielleicht ein barmerziger Mann wohne, der ihn loskaufe und zurückschicke zum Vater. "

"Ihr mögt recht haben", erwiderte der junge Kaufmann, "und ich schäme mich, daß ich von den Leuten nur immer das Gemeinere und Unedle denke, während Ihr lieber eine schöne Gesinnung unterlegt. Und doch sind die Menschen in der Regel schlecht, habt Ihr dies nicht auch gefunden, Alter?"

"Gerade, weil ich dies nicht gefunden habe, denke ich gerne gut von den Menschen", antwortete dieser, "es ging mir gerade wie euch; ich lebte so in den Tag hinein, hörte viel Schlimmes von den Menschen, mußte selbst an mir viel Schlechtes erfahren und fing an, die Menschen alle für schlechte Geschöpfe zu halten. Doch da fiel mir bei, daß Allah, der so gerecht ist als weise, nicht dulden könnte, daß ein so verworfenes Geschlecht auf dieser schönen Erde hause. Ich dachte nach über das, was ich gesehen, was ich erlebt hatte, und siehe—ich hatte nur das Böse gezählt und das Gute vergessen. Ich hatte nicht achtgegeben, wenn einer eine Handlung der Barmherzigkeit übte, ich hatte es natürlich gefunden, wenn ganze Familien tugendhaft lebten und gerecht waren; so oft ich aber Böses, Schlechtes hörte, hatte ich es wohl angemerkt in meinem Gedächtnis. Da fing ich an, mit ganz anderen Augen um mich zu schauen; es freute mich, wenn ich das Gute nicht so sparsam keimen sah, wie ich anfangs dachte; ich bemerkte das Böse weniger, oder es fiel mir nicht so sehr auf, und so lernte ich die Menschen lieben, lernte Gutes von ihnen denken und habe mich in langen Jahren seltener geirrt, wenn ich von einem Gutes sprach, als wenn ich ihn für geizig oder gemein oder gottlos hielt."

Der Alte wurde bei diesen Worten von dem Aufseher der Sklaven unterbrochen, der zu ihm trat und sprach: "Mein Herr, der Scheik von Alessandria, Ali Banu, hat Euch mit Wohlgefallen in seinem Saale bemerkt und ladet Euch ein, zu ihm zu treten und Euch neben ihn zu setzen."

Die jungen Leute waren nicht wenig erstaunt über die Ehre, die dem Alten widerfahren sollte, den sie für einen Bettler gehalten, und als dieser hingegangen war, sich zu dem Scheik zu setzen, hielten sie den Sklavenaufseher zurück, und der Schreiber fragte ihn: "Beim Bart des Propheten beschwöre ich dich, sage uns, wer ist dieser alte Mann, mit dem wir sprachen und den der Scheik also ehrt?"

"Wie!" rief der Aufseher der Sklaven und schlug vor Verwunderung die

Hände zusammen. "Diesen Mann kennet ihr nicht?"

"Nein, wir wissen nicht, wer er ist."

"Aber ich sah euch doch schon einigemal mit ihm auf der Straße sprechen, und mein Herr, der Scheik, hat dies auch bemerkt und erst letzthin gesagt: 'Das müssen wackere junge Leute sein, die dieser Mann eines Gespräches würdigt.'"

"Aber, so sage doch, wer er ist!" rief der junge Kaufmann in höchster

Ungeduld.

"Gehet, Ihr wollet mich nur zum Narren haben", antwortete der Sklavenaufseher. "In diesen Saal kommt sonst niemand, wer nicht ausdrücklich eingeladen ist, und heute ließ der Alte dem Scheik sagen, er werde einige junge Männer in seinen Saal mitbringen, wenn es ihm nicht ungelegen sei, und Ali Banu ließ ihm sagen, er habe über sein Haus zu gebieten."

"Lasse uns nicht länger in Ungewißheit; so wahr ich lebe, ich weiß nicht, wer dieser Mann ist. Wir lernten ihn zufällig kennen und sprachen mit ihm."

"Nun, dann dürfet ihr euch glücklich preisen; denn ihr habt mit einem gelehrten, berühmten Mann gesprochen, und alle Anwesenden ehren und bewundern euch deshalb; es ist niemand anders als Mustapha, der gelehrte Derwisch."

"Mustapha, der weise Mustapha, der den Sohn des Scheik erzogen hat? Der viele gelehrte Bücher schrieb, der große Reisen machte in alle Weltteile! Mit Mustapha haben wir gesprochen? Und gesprochen, als wär' er unsereiner, so ganz ohne alle Ehrerbietung?" So sprachen die jungen Männer untereinander und waren sehr beschämt; denn der Derwisch Mustapha galt damals für den weisesten und gelehrtesten Mann im ganzen Morgenland.

"Tröst' euch darüber", antwortete der Sklavenaufseher, seid froh, daß ihr ihn nicht kanntet; er kann es nicht leiden, wenn man ihn lobt, und hättet ihr ihn ein einziges Mal die Sonne der Gelehrsamkeit oder das Gestirn der Weisheit genannt, wie es gebräuchlich ist bei Männern dieser Axt, er hätte euch von Stund' an verlassen. Doch ich muß jetzt zurück zu den Leuten, die heute erzählen. Der, der jetzt kommt, ist tief hinten in Frankistan gebürtig, wollen sehen, was er weiß."

So sprach der Sklavenaufseher; der aber, an welchen jetzt die Reihe zu erzählen kam, stand auf und sprach: "Herr! ich bin aus einem Lande, das weit gegen Mitternacht liegt, Norwegen genannt, wo die Sonne nicht, wie in deinem gesegneten Vaterlande, Feigen und Zitronen kocht, wo sie nur wenige Monde über die grüne Erde scheint und ihr im Flug sparsame Blüten und Früchte entlockt. Du sollst, wenn es dir angenehm ist, ein paar Märchen hören, wie man sie bei uns in den warmen Stuben erzählt, wenn das Nordlicht über die Schneefelder flimmert." (Im Märchenalmanach auf das Jahr 1827 standen hier "Das Fest der Unterirdischen" (norwegisches Märchen nach mündlicher Überlieferung) und "Schneeweißchen und Rosenrot" von Wilhelm Grimm)

Noch waren die jungen Männer im Gespräch über diese Märchen und über den Alten, den Derwisch Mustapha; sie fühlten sich nicht wenig geehrt, daß ein so alter und berühmter Mann sie seiner Aufmerksamkeit gewürdigt und sogar öfters mit ihnen gesprochen und gestritten hatte. Da kam plötzlich der Aufseher der Sklaven zu ihnen und lud sie ein, ihm zum Scheik zu folgen, der sie sprechen wolle.

Den Jünglingen pochte das Herz. Noch nie hatten sie mit einem so vornehmen Mann gesprochen, nicht einmal allein, viel weniger in so großer Gesellschaft. Doch sie faßten sich, um nicht als Toren zu erscheinen, und folgten dem Aufseher der Sklaven zum Scheik. Ali Banu saß auf einem reichen Polster und nahm Sorbet zu sich. Zu seiner Rechten saß der Alte, sein dürftiges Kleid ruhte auf herrlichen Polstern, seine ärmlichen Sandalen hatte er auf einen reichen Teppich von persischer Arbeit gestellt; aber sein schöner Kopf, sein Auge voll Würde und Weisheit zeigten an, daß er würdig sei, neben einem Mann wie dem Scheik zu sitzen.

Der Scheik war sehr ernst, und der Alte schien ihm Trost und Mut zuzusprechen. Die Jünglinge glaubten auch in ihrem Ruf vor das Angesicht des Scheik eine List des Alten zu entdecken, der wahrscheinlich den trauernden Vater durch ein Gespräch mit ihnen zerstreuen wollte.

"Willkommen, ihr jungen Männer", sprach der Scheik, "willkommen in dem Hause Ali Banus! Mein alter Freund hier hat sich meinen Dank verdient, daß er euch hier einführte; doch zürnte ich ihm ein wenig, daß er mich nicht früher mit euch bekannt machte. Wer von euch ist denn der junge Schreiber?"

"Ich, o Herr und zu Euren Diensten!" sprach der junge Schreiber, indem er die Arme über der Brust kreuzte und sich tief verbeugte.

"Ihr hört also gerne Geschichten und leset gerne Bücher mit schönen

Versen und Denksprüchen?"

Der junge Mensch erschrak und errötete; denn ihm fiel bei, wie er damals den Scheik bei dem Alten getadelt und gesagt hatte, an seine Stelle würde er sich erzählen oder aus Büchern vorlesen lassen. Er war dem schwatzhaften Alten, der dem Scheik gewiß alles verraten hatte, in diesem Augenblicke recht gram, warf ihm einen bösen Blick zu und sprach dann: "O Herr! Allerdings kenne ich für meinen Teil keine angenehmere Beschäftigung, als mit dergleichen den Tag zuzubringen. Es bildet den Geist und vertreibt die Zeit. Aber jeder nach seiner Weise! Ich tadle darum gewiß keinen, der nicht—"

"Schon gut, schon gut", unterbrach ihn der Scheik lachend und winkte den zweiten herbei.

"Wer bist denn du?" fragte er ihn.

"Herr, ich bin meines Amtes der Gehilfe eines Arztes und habe selbst schon einige Kranke geheilt."

"Richtig", erwiderte der Scheik, "und Ihr seid es auch, der das Wohlleben liebet; Ihr möchtet gerne mit guten Freunden hier und da tafeln und guter Dinge sein? Nicht wahr, ich habe es erraten?"

Der junge Mann war beschämt; er fühlte, daß er verraten war und daß der Alte auch von ihm gebeichtet haben mußte. Er faßte sich aber ein Herz und antwortete: "O ja, Herr, ich rechne es unter des Lebens Glückseligkeiten, hier und da mit guten Freunden fröhlich sein zu können. Mein Beutel reicht nun zwar nicht weiter hin, als meine Freunde mit Wassermelonen oder dergleichen wohlfeilen Sachen zu bewirten; doch sind wir auch dabei fröhlich, und es läßt sich denken, daß wir es noch um ein gutes Teil mehr wären, wenn ich mehr Geld hätte."

Dem Scheik gefiel diese beherzte Antwort, und er konnte sich nicht enthalten, darüber zu lachen. "Welcher ist denn der junge Kaufmann?" fragte er weiter.

Der junge Kaufmann verbeugte sich mit freiem Anstand vor dem Scheik; denn er war ein Mensch von guter Erziehung; der Scheik aber sprach: "Und Ihr? Ihr habt Freude an Musik und Tanz? Ihr höret es gerne, wenn gute Künstler etwas spielen und singen und sehet gerne Tänzer künstliche Tänze ausführen?" Der junge Kaufmann antwortete: "Ich sehe wohl, o Herr, daß jener alte Mann, um Euch zu belustigen, unsere Torheiten insgesamt verraten hat. Wenn es ihm gelang, Euch dadurch aufzuheitern, so habe ich gerne zu Eurem Scherz gedient. Was aber Musik und Tanz betrifft, so gestehe ich, es gibt nicht leicht etwas, was mein Herz also vergnügt. Doch glaubet nicht, daß ich deswegen Euch tadle, o Herr, wenn Ihr nicht ebenfalls—"

"Genug, nicht weiter!" rief der Scheik, lächelnd mit der Hand abwehrend. "Jeder nach seiner Weise, wollet Ihr sagen; aber dort steht ja noch einer; das ist wohl der, welcher so gerne reisen möchte? Wer seid denn Ihr, junger Herr?"

 

"Ich bin ein Maler, o Herr", antwortete der junge Mann, "ich male Landschaften teils an die Wände der Säle, teils auf Leinwand. Fremde Länder zu sehen, ist allerdings mein Wunsch; denn man sieht dort allerlei schöne Gegenden, die man wieder anbringen kann; und was man sieht und abzeichnet, ist doch in der Regel immer schöner, als was man nur so selbst erfindet."

Der Scheik betrachtete jetzt die schönen jungen Leute, und sein Blick wurde ernst und düster. "Ich hatte einst auch einen lieben Sohn", sagte er, "und er müßte nun auch so herangewachsen sein wie ihr. Da solltet ihr seine Genossen und Begleiter sein, und jeder eurer Wünsche würde von selbst befriedigt werden. Mit jenem würde er lesen, mit diesem Musik hören, mit dem anderen würde er gute Freunde einladen und fröhlich und guter Dinge sein, und mit dem Maler ließe ich ihn ausziehen in schöne Gegenden und wäre dann gewiß, daß er immer wieder zu mir zurückkehrte. So hat es aber Allah nicht gewollt, und ich füge mich in seinen Willen ohne Murren. Doch es steht in meiner Macht, eure Wünsche dennoch zu erfüllen, und ihr sollt freudigen Herzens von Ali Banu gehen. Ihr, mein gelehrter Freund", fuhr er fort, indem er sich zu dem Schreiber wandte, "wohnt von jetzt an in meinem Hause und seid über meine Bücher gesetzt. Ihr könnet noch dazu anschaffen, was Ihr wollet und für gut haltet, und Euer einziges Geschäft sei, mir, wenn Ihr etwas recht Schönes gelesen habt, zu erzählen. Ihr, der Ihr eine gute Tafel unter Freunden liebet, Ihr sollet der Aufseher über meine Vergnügungen sein. Ich selbst zwar lebe einsam und ohne Freude, aber es ist meine Pflicht, und mein Amt bringt es mit sich, hier und da viele Gäste einzuladen. Dort sollet Ihr an meiner Stelle alles besorgen und könnet von Euren Freunden dazu einladen, wen Ihr nur wollet; versteht sich, auf etwas Besseres als Wassermelonen. Den jungen Kaufmann da darf ich freilich seinem Geschäft nicht entziehen, das ihm Geld und Ehre bringt; aber alle Abende stehen Euch, mein junger Freund, Tänzer, Sänger und Musikanten zu Dienste, so viel Ihr wollet. Lasset Euch aufspielen und tanzen nach Herzenslust. Und Ihr", sprach er zu dem Maler, "Ihr sollet fremde Länder sehen und das Auge durch Erfahrung schärfen. Mein Schatzmeister wird Euch zu der ersten Reise, die Ihr morgen antreten könnet, tausend Goldstücke reichen nebst zwei Pferden und einem Sklaven. Reiset, wohin Euch das Herz treibt, und wenn Ihr etwas Schönes sehet, so malet es für mich!"

Die jungen Leute waren außer sich vor Erstaunen, sprachlos vor Freude und Dank. Sie wollten den Boden vor den Füßen des gültigen Mannes küssen; aber er ließ es nicht zu. "Wenn ihr einem zu danken habt", sprach er, "so ist es diesem weisen Mann hier, der mir von euch erzählte. Auch mir hat er dadurch Vergnügen gemacht, vier so muntere junge Leute eurer Art kennenzulernen."

Der Derwisch Mustapha aber wehrte den Dank der Jünglinge ab. "Sehet", sprach er, "wie man nie voreilig urteilen muß; habe ich euch zuviel von diesem edlen Manne gesagt?"

"Lasset uns nun noch den letzten meiner Sklaven, die heute frei sind, erzählen hören", unterbrach ihn Ali Banu.

Jener junge Sklave, der die Aufmerksamkeit aller durch seinen Wuchs, durch seine Schönheit und seinen mutigen Blick auf sich gezogen hatte, stand jetzt auf, verbeugte sich vor dem Scheik und fing wohltönend also zu sprechen an:

Das Fest der Unterirdischen

Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Das Fest der Unterirdischen" von Wilhelm Grimm.

Schneeweißchen und Rosenrot

Im "Märchenalmanach auf das Jahr 1827" stand hier "Schneeweißchen und Rosenrot" von Wilhelm Grimm.