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Ängste

Wer verzichtet schon gerne auf das, was er hat? Eigentlich ist sich die Gesellschaft darin einig, dass Leben, Eigentum und Würde des Menschen unantastbar sind. So steht es auch in den Artikeln 1 und 14 des Grundgesetzes. Trotzdem sind in einer Diskussion über Armut und Würde nicht alle Ängste gleichwertig.

Es kann hier nicht um die Ängste von Millionären, Steuerhinterziehern und Schwarzarbeitern gehen. Nicht einmal nur um materielle Ängste, sondern vor allem um die Angst der Menschen vor Degradierung und um einen grassierenden Verlust an Würde und Respekt vor den Mitmenschen.

Was die Nation erregt, ist ja nicht so sehr, dass finanzielle Einschnitte notwendig sind, sondern wie sie gegenwärtig geplant und begründet – oder eben nicht begründet werden. Und dass es gleichzeitig immer noch möglich ist, dass Manager Zig-Tausende entlassen und doch exorbitante Gehälter oder Millionen-Abfindungen bekommen. Der Hinweis auf die Mündigkeit und Eigenverantwortung der Bürger wird zynisch, wenn er nur noch ein Gefühl der Ohnmacht hervorruft. Viele Menschen sind zum Beispiel vollkommen machtlos gegen regelmäßige, teils massive Preiserhöhungen bei Krankenversicherung, Medikamenten, Miete, Heizung, Strom, Telefon, Gebühren oder Fahrkarten für den Nahverkehr.

Wer gut verdient, kann 300 oder 400 € weniger im Monat verschmerzen. Aber für Millionen bedeutet dieser Unterschied den Absturz. Sie können nicht mehr ruhig schlafen, müssen täglich ums Allernötigste kämpfen und sehen kaum noch ein Entkommen aus einem ewigen Kreislauf von Verzicht und Demütigungen. Plötzlich gelten sie etwa bei Banken als unsichere Kantonisten, im besten Fall als geizig und als schlechte Kunden. Sehr schnell nennt man sie dann Spielverderber oder Versager, im schlimmsten Fall unzuverlässige Mieter und Ratenzahler. Diese Demütigungen sind besonders schmerzhaft. Und sie treffen Menschen, die schon viel geleistet haben und vielleicht immer noch leisten, besonders hart.

Wie die Dinge stehen, ist die Angst vieler Menschen berechtigt, dass mit ihnen rücksichtslos und würdelos verfahren wird, weil sie zu einer Risikogruppe gehören – was immer das heißen mag: Arbeitslose, ältere Menschen, Alleinerziehende, Teilzeitbeschäftigte. Sie stehen unter einem ebenso pauschalen wie perfiden Verdacht, sie seien an ihrer Lage selbst schuld. So werden Millionen ausgegrenzt.

Besonders betroffen von Armut und einem drohenden Verlust ihrer Würde sind Arbeitslose über 40 ohne nennenswertes Vermögen. Was steckt dahinter? Die falsche Vermutung, sie hätten sich längst absichern müssen? Kann man sich überhaupt privat absichern gegen ein Risiko, das selbst Versicherungen zu groß wird? Ich kenne einen ehemaligen Unternehmer, der mit Ende 40 einen schweren Schlaganfall hatte und mit bleibenden geistigen und körperlichen Behinderungen leben muss. Er bekommt 280 EURO für seine Pflegestufe 1, 650 EURO Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und noch einmal 750 EURO aus einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung – aber nur bis zum Erreichen der Altersgrenze. Dann werden ihm 750 EURO fehlen und er steckt in der Armutsfalle.

Auch Senioren in Pflegeheimen werden immer häufiger behandelt, als wären sie unmündig. Bekommen sie davon nichts mehr mit? Und darf das überhaupt eine Rolle spielen?

Von den so genannten Hartz-IV-Reformen sind 6,3 Millionen Menschen betroffen, 3,5 Millionen Langzeitarbeitslose und 2,8 Millionen Sozialhilfeempfänger. Natürlich haben sie alle Angst, nie wieder eine echte Chance zu bekommen. Doch es gibt auch hoffnungsvolle Modelle und Zeichen dafür, dass sich etwas bewegt. Öffentliche Demonstrationen gegen soziale Missstände wurden zwar schon politisch missbraucht, sind aber aus berechtigten Ängsten entstanden und haben die Aufmerksamkeit auf eben diese Ängste gelenkt. Von Arbeitgeberseite missbraucht wurden die Ängste der Mitarbeiter bei den Sanierungsplänen für Karstadt-Quelle, Opel und Schlecker. Doch die Einsicht wächst, dass Massenentlassungen keine Fehlentwicklungen korrigieren. Sie sind in aller Regel psychologisch verheerend und verantwortungslos.

Jeder siebte der acht Millionen Teilzeitbeschäftigten hätte gern eine volle Stelle. Das sagt eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes von 2000. Inzwischen dürften die Zahlen sich eher verschlechtert als verbessert haben. Auch dadurch wächst das Bewusstsein für verdeckte Armut; je schlimmer die Verhältnisse auch zahlenmäßig werden, desto weniger lassen sie sich noch verstecken und wegdiskutieren.

Langsam produzieren zudem wieder mehr Firmen in Deutschland, um Arbeitsplätze zu sichern. Sie stellen gezielt Mitarbeiter über 50 ein, weil sie deren Erfahrung brauchen. Andere kehren zurück, weil in China eben nicht nach deutschen Wertmaßstäben gearbeitet wird. Selbst Konzerne merken manchmal schon, dass es nicht gut ist, wenn zu wenige Menschen gut verdienen, denn dann fehlen irgendwann die Kunden für die eigenen Produkte.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sie ist wichtig für die Würde der Menschen. Aber man kann sie nicht einfach herbeireden, man muss sie herbei-arbeiten.

Öffentliches Lügen
Wörter verbieten

Im Winter 2006/2007 gab es mächtig Streit im deutschen Blätterwald. Eine Studie hatte den Zusammenhang von fehlender Bildung und Armut untersucht. Schnell bestimmte der Begriff „neue Unterschicht“ die Diskussionen. Das Wort diskriminiere die Betroffenen, meinten die einen. Eine Unterschicht gebe es bei uns nicht mehr, meinten andere. Es dürfe keine geben, meinten wieder andere. Aber was diskriminiert eigentlich? Dass jemand zur Unterschicht gehört, oder dass man diese Tatsache beim Namen nennt? Die christliche Leitkultur des Westens, wenn es denn so etwas außerhalb politischer Kampfbegrifflichkeit überhaupt gibt, ignoriert aber munter das Bibelwort „Eure Rede sei Ja, aa oder nein, nein“ (Matthäus 5, 37).

Ich erinnere mich noch gut an die ziemlich hilflosen Versuche meiner Eltern, uns Kindern „schmutzige Wörter“ zu verbieten. Aber trotzdem haben ordinäre Ausdrücke aus der Fäkal- und Sexualsprache über den Jargon der Jugendlichen und die Medien schon längst den Weg bis in die so genannte „hohe Literatur“ geschafft. Dass sich dabei Bedeutungen grotesk verschieben können, zeigt zum Beispiel der umstrittene Werbespruch „Geiz ist geil“: Bisher musste ich bei dem Wort „Geiz“ eher an etwas Verkümmertes, Verschrumpeltes denken. Und das Wort „geil“ hatte als Bezeichnung für akute sexuelle Begierde etwas Unanständiges, aber dennoch Pralles an sich. In konservativen Kreisen war der Vorwurf, „geil“ zu sein, etwas Schlimmes. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

Wer dem Bedeutungspfad folgt, den der Werbespruch „Geiz ist geil“ durch unsere Sprachkultur trampelt, findet Geiz einfach nur schön. Dabei gilt er in christlichen, 2000 Jahre lang gewachsenen Moralvorstellungen als krasse Untugend bzw. als eine der sieben Todsünden. Und wie man sieht, hat es nicht viel genutzt, den Geiz oder das Wort „geil“ zu verbieten. Auch wenn es für mich nach wie vor in Kindermund abartig klingt.

Ich erinnere mich auch noch gut an eine Betriebsversammlung der Rentenversicherungsanstalt Baden-Württemberg vor vielen Jahren. Damals wurde die Verschwendung von Beitragsgeldern öffentlich diskutiert. Da ergriff die Betriebsratsvorsitzende das Wort. Die gestandene Gewerkschafterin forderte, man müsse jetzt erst einmal die Presse an die Kandare nehmen. Anwesende Journalisten, so hieß das, sollten in dieser peinlichen Angelegenheit schweigen, wenn sie es sich mit den Gewerkschaften nicht verderben wollten: ein übler Erpressungsversuch.

Auch wenn ich so etwas seit damals nicht mehr erlebt habe: Öffentliche Redeverbote sind nicht nur in Diktaturen ein beliebtes Mittel der Einschüchterung. Einschüchterung aber löst keine Probleme, sondern schafft höchstens neue, zum Beispiel Tabus. Wenn in Kirchen und Internaten, also durchweg Einrichtungen, die mit einem großen Vertrauensvorschuss arbeiten, massenhafte, auch sexuelle Misshandlung von schutzbefohlenen aufgedeckt wird, gibt es nur einen Weg, das verlorene Vertrauen – vielleicht – wieder zurückzugewinnen: schonungslose Ehrlichkeit und öffentliche Kontrolle bei der juristischen Aufarbeitung des Problems. Trotzdem gibt es immer wieder Bischöfe, die den Zugang zu Akten verweigern und fürchten, ihre Kirche nähme Schaden durch öffentliche Debatten über Fehltritte von Geistlichen. Sie prügeln den Sack und meinen den Esel. Aber so funktioniert Ehrlichkeit nicht. Vertuschungsversuche machen alles nur noch schlimmer; sie kosten noch mehr Vertrauen als zuvor der Missbrauch selbst.

Wir betrachten das Tabu als Merkmal primitiver Gesellschaften, als unzulässige Vermengung von Aberglaube und Moral. Das polynesische Wort „Tabu“ bezeichnet dagegen etwas Heiliges, Unantastbares, das man oft nicht einmal aussprechen darf. Es zu verletzen, gilt als Frevel und wird streng bestraft, um durch übernatürliche Mächte bewirktes Unheil abzuwenden. Und obwohl jeder weiß, dass in modernen Gesellschaften sehr natürliche Mächte am Werk sind, hätten diese oft gern Verhaltensnormen, die funktionieren wie Tabus. Denn dann muss man Verbote nicht in lästigen Diskussionen begründen und kann Andersdenkende mundtot machen.

Verbote sind nicht nur in primitiven Gesellschaften oder Diktaturen sehr verlockend. Allein mit Appellen bekommen wir ein Problem oft nicht in den Griff: Also gibt es Emissionsverbote gegen Ozonloch und Klimawandel, Fahrverbote gegen die krankmachende Luftverschmutzung in den Städten, Rauchverbote zum Schutz der Nichtraucher, Alkoholverbote gegen das schlimme „Flatrate-Trinken“ bei Jugendlichen, Prostitutionsverbote gegen die Ausbeutung von Frauen. Aber so funktioniert das nicht. Kurz, wer Verbote fordert, will den Eindruck erwecken, er kümmere sich um das Problem. Dabei suchen viele oft nur hilflos einen Sündenbock, dem dann alle die Schuld in die Schuhe schieben.

 

Ich plädiere für mehr Ehrlichkeit in der Sprache, vor allem in der öffentlichen Sprache. So genannte „Sprachregelungen“ sind nichts anderes als die organisierte Aufforderung zur Unredlichkeit. Gerade unangenehme Tatsachen müssen benannt werden. Denn, so heißt es in einem schönen Sprichwort: „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“. Wörter verbieten zu wollen oder überhaupt Verbote zu fordern, ist keine Lösung für ein Problem. So lange es in Deutschland eine Unterschicht gibt, wird man wohl oder übel auch darüber reden müssen. Alles andere wäre unehrlich. Die Dinge nicht beim Namen zu nennen, hilft keinem der Betroffenen.

Anmaßende Sprechregelungen

Vor ein paar Jahren verkündete die Bundesagentur für Arbeit eine kleine Sensation: Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie wieder fast eine Million offener Stellen melden. Eine magische Zahl. Aber was der Minister unter einem Stellenangebot versteht, ist nicht auch für alle Arbeitsuchenden ein Stellenangebot. Nur zwei Drittel der Angebote waren tatsächlich zur Vermittlung gemeldet. Und wiederum die Hälfte davon waren keine normalen Vollzeitstellen, sondern wurden zusätzlich vom Staat gefördert. Kurz: Aushilfen, 400-EURO-Jobs, 1-EURO-Jobs und dergleichen. Das war eine Erfolgsmeldung, die zu zwei Dritteln aus PR besteht.

Was ein Stellenangebot ist, bestimmt im öffentlichen Sprachgebrauch der Arbeitsminister. Er beansprucht die Deutungshoheit für den Begriff und kratzt dabei alles zusammen, was statistisch den Erfolg seiner Arbeit untermauert. Ein Angebot ist nicht dasselbe wie ein faires oder gar ein gutes Angebot. Was aus der Sicht dessen, der eine Arbeit sucht, von der man leben kann, ein Stellenangebot ist, spielt keine Rolle. Der öffentliche Raum ist voll von solchen Sprachregelungen. Und die lassen es meines Erachtens sehr an Ehrlichkeit fehlen. So schön es ist, wenn wieder mehr Menschen in Deutschland erwerbstätig sind, so hässlich finde ich die maßlose Übertreibung, als die sich das Ganze bei näherem Hinsehen entpuppt. Sie ist im Kern unehrlich.

Ein Beispiel aus der Landespolitik Baden-Württemberg: Im April 2007 hielt Günther Oettinger, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg und bekanntlich Christdemokrat, eine Rede am Sarg seines verstorbenen Vor-Vor-Vorgängers Hans Filbinger in Freiburg. Filbinger hatte 1978 zurücktreten müssen, weil seine Mitwirkung an Todesurteilen gegen Deserteure im Zweiten Weltkrieg bekannt geworden war. Statt etwas zu bedauern, hatte Filbinger uneinsichtig erklärt: „Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein“. Dieser Landespolitiker war Oettingers parteipolitischer Ziehvater gewesen, und den wollte er nun mit guten Gefühlen verabschieden. Also nannte er ihn einen „Gegner des Nationalsozialismus“. Nach heftiger Kritik auch in der eigenen Partei musste sich Oettinger von diesen umstrittenen Aussagen distanzieren. Er rettete seinen Kopf, aber er tat nichts gegen die „guten Gefühle“, die er anscheinend immer noch mit seinem historischen Vorbild verbindet.

Viel schlimmer aber ist aus meiner Sicht, dass hier ein mächtiger Politiker versucht hat, mit Halbwahrheiten das Bild der Geschichte zu verändern. Er wollte Macht auch über die Köpfe und das Denken seiner Mitbürger. Deshalb haben sie ihm den Kopf zurechtgerückt. Das hat dieses Mal sogar funktioniert. Aber solche Versuche der Geschichtsfälschung gibt es immer wieder – von allen Seiten. Dass Gerhard Schröder in seinen letzten Monaten als Bundeskanzler noch den ehemaligen KGB-Chef Wladimir Putin als einen „lupenreinen Demokraten“ bezeichnet hat, war ein ähnlicher Fall. Sprachregelungen dieser Art werden entweder übernommen oder nicht. Manchmal lässt sie auch jemand wie einen Versuchsballon steigen und wartet ab, ob sie sich mehr oder weniger geräuschlos durchsetzen.

Mit das Schlimmste, was einem sprachlich und philosophisch sensiblen Menschen passieren kann, der auch noch großen Respekt vor Religionen hat, ist eine Sprachregelung aus der Welt des Islam: Der so genannte „Heilige Krieg“ ist nicht nur ein unerträglicher Euphemismus und eine problematische Übersetzung aus dem Arabischen. Ein „heiliger Krieg“ ist auch ein Widerspruch in sich selbst – sozusagen eine Kriegserklärung an alles, was uns oder den Muslimen heilig ist. Es ist eine Sprachregelung, die ins Klischee vom „Krieg der Kulturen“ passt. Sie macht die Verständigung schwer, wenn nicht gar unmöglich. Der Verdacht liegt auf der Hand, dass dies beabsichtigt ist.

Im öffentlichen Sprachgebrauch hat diese schlimme Sprachregelung sich bereits durchgesetzt. Ein echter sprachlicher Supergau! Dabei bedeutet das Wort „Dschihad“ zunächst einmal "Anstrengung", und die Definition dieses aktiven "Kampfes" gegen das Böse ist auch unter Muslimen absolut umstritten. Die Unehrlichkeit im Sprachgebrauch liegt darin, mit Floskeln wie "heiliger Krieg" Klarheit vorzutäuschen, wo es keine gibt. Angesichts dieser unheiligen Allianz der Worte sollten Christen und Muslime gemeinsam protestieren.

Schönreden

In Stellenanzeigen wird eine Putzfrau inzwischen meistens „Raumpflegerin“ oder „Hygienetechnikerin“ genannt, aber das ändert nichts an der traurigen Tatsache: Ihr Job bleibt schmutzig und ist mit 8,50 EURO die Stunde schlecht bezahlt. „Putzfrau“ ist kein Beruf mit einem tollen Image. Aber auch wenn das Schönreden etwas daran ändern könnte, würde sich doch dadurch nur das Image ändern, nicht die Arbeit dieser Frau und nicht die Geringschätzung ihrer Dienste.

Schönschwätzer aus Politik und Interessenvertretungen gibt es schon lange, aber seit einiger Zeit scheinen sie Hochkonjunktur zu haben. Immer wieder setzen Lobbyisten, PR-Manager und Medienberater Begriffe in die Welt, die hässliche Tatsachen in einem schöneren Licht erscheinen lassen: „Nullwachstum“ statt Stillstand, „Freisetzung“ statt Entlassung, „Agentur für Arbeit“ statt des frust- und angstbesetzten Wortes „Arbeitsamt“, „Flexibilität“ für das freizeitfressende, kräftezehrende und beziehungsfeindliche Leben unfreiwilliger Jobnomaden oder Pendler: alles bloß verbale Kosmetik an einer unguten Realität.

Auch „Preissteigerung“ klingt wesentlich besser als die gute alte Inflation oder Geldentwertung. Da ist doch immerhin der Begriff „Steigerung“ drin, und das klingt positiv – auch wenn Flutopfer einen steigenden Wasserspiegel gar nicht gut finden. Für mich sind das sprachliche Sünden gegen die Ehrlichkeit, und damit eigentlich Lügen.

Aber Vorsicht, Glatteis: Sünde ist ja nicht gleich Sünde. Früher war diese Bezeichnung allein den Verstößen gegen göttliche Gebote vorbehalten. Aber längst sind auch „Verkehrssünder“ gang und gäbe für Leute wie Sie und mich, die schon mal einen Strafzettel wegen Falschparkens bekommen. Oder wie sang schon der Kölner Volksschauspieler Willy Millowitsch: „Wir sind alle kleine Sünderlein“. Der Karnevals-Schlager meint: Wir sind alle Sünder, aber nur ein bisschen. Im Grunde sind wir ja ganz o.k., Vollkommenheit wäre übermenschlich. Da hat er Recht.

Mit Karneval hatte die Islamkonferenz bei Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in Berlin allerdings gar nichts zu tun. Doch warum berichtet der Minister dann, man habe da „ein bisschen Tacheles geredet“? Was ist das, „ein bisschen Tacheles“? Bestenfalls doch zum Schmunzeln, wie seinerzeit der Refrain des Schlagers „Ein bisschen Frieden, ein bisschen Liebe“. Freundliche Augenwischerei eben.

Aber die ist oft weder lustig noch augenzwinkernd freundlich. Verstehen manche Zeitgenossen derzeit unter „Nichtraucherschutz“ nicht eher eine handfeste Diskriminierung der Raucher? Man verbannt sie nicht nur aus Restaurants, sondern auch aus Kneipen und selbst bei Kälte und Nässe auf die Straße. Raucherzimmer? – Fehlanzeige. Rauchende Abgeordnete sollen sich im Parlament in einem Glaskasten mit Dunstabzug vorführen lassen, wie einer auch im Flughafen von Madrid steht. Raucherabteile in Zügen werden auf Befehl von oben abgeschafft, ohne die zahlende Kundschaft zu fragen. So geht das. An dieser Stelle schlägt die Schönrednerei schnell in offene Diffamierung um. Was da mit dem Schlagwort „Nichtraucherschutz“ schöngeredet wird, grenzt schon an eine regelrechte Hexenjagd. Geht man so mit zahlender Kundschaft um, mit steuerzahlenden wahlberechtigten Bürgern? Sicher schädigt Rauchen die Gesundheit, aber Arbeitslosigkeit ist noch viel schädlicher.

Ernst Elitz, der Intendant des Deutschlandfunks, schrieb einmal in einer Sonntagszeitung: „Wenn jede Banalität zur Kultur erklärt wird, kann Kultur nichts mehr wert sein“. Abschreckende Beispiele fand er in verbreiteten Wörtern wie „Gewalt-Kultur“, „Esskultur“, „Körperkultur“, „Haftkultur“ (ja, so nennen manche Leute unseren humanen Strafvollzug) oder „Verwaltungskultur“. Und da Kultur bekanntlich etwas Schönes ist, fallen die Strahlen ihrer Sonne auch auf höchst fragwürdige Dinge, die man mit dem Begriff Kultur eben verbindet. Ich finde diese Unsitte aus der Werbesprache grauenhaft.

Auf Schönfärberei zu verzichten, würde bedeuten, unangenehme Dinge auszuhalten und offen auszusprechen. Ich meine, damit käme man der Wahrheit und der ehrlichen Lösung echter Probleme ein wenig näher. Es ist nicht gerade ein Zeichen von Respekt vor den Mitmenschen, wenn man sie manipuliert und dumm schwätzt.

„Vermittlungsprobleme“

Als der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den ersten wissenschaftlichen Analysen seiner Reform des Sozialsystems konfrontiert wurde, reagierte er auf die Kritik der Fachleute mit der Bemerkung, da gebe es ein „Vermittlungsproblem“. Dabei hatten viele eher ein Problem mit den Fakten: Von einem Tag auf den anderen waren auf Betriebsrenten die vollen Beiträge zur Krankenversicherung aus eigener Tasche zu zahlen. Viele Leistungen der Krankenversicherungen wurden gestrichen. Die Zuzahlungen für Medikamente stiegen immer weiter.

Langzeitarbeitslose bekamen wie Sozialhilfeempfänger „Hartz vier“ und fühlten sich fortan wie Bittsteller. Die Arbeitsämter nannten sich „Agenturen für Arbeit“, die aber auch nicht mehr Arbeit zu vermitteln hatten als vorher. Stattdessen gab das neue Gesetz den Behörden erheblich mehr Möglichkeiten für Zwangsmaßnahmen als bis dahin. Um den Missbrauch des Systems durch wenige zu unterbinden, wurden viele drangsaliert – und werden es noch heute. Das war für Gerhard Schröder aber nur ein PR-Defizit, also ein Problem der Überzeugungsarbeit.

Es folgten ein Wahlkampf und ein Regierungswechsel. Jetzt wurden „handwerkliche Fehler“ eingeräumt, und viele kluge Köpfe arbeiten seitdem an der Ausbesserung dieser Fehler. Trotzdem ist seit damals das an sich gute Wort „Reform“ gleichbedeutend geworden mit „Verschlechterung“. Und wenn das Wort „Eigenverantwortung“ fällt, denken viele Menschen leider inzwischen nicht mehr an all das Gute, das zu diesem Begriff gehört – hier schwingt ja auch so etwas wie „Selbstbestimmung“ mit – sondern sie hören nur noch: „Ich soll jetzt alles selber zahlen“. Leider war es ja auch genau so gemeint. Das ist fatal – auch unter dem Gesichtspunkt von PR- und Überzeugungsarbeit. Da ist etwas gründlich schief gelaufen.

Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt, Autor eines viel diskutierten Buches mit dem Titel „Bullshit“, beschrieb in seinem Essay „Über die Wahrheit“ jene Schwindler und Blender, die versuchen, mit dem, was sie sagen, die Meinungen und Einstellungen ihrer Mitmenschen zu manipulieren. „In erster Linie“, so Frankfurt, „interessiert sie daher die Frage, ob das, was sie sagen, die Wirkung hat, diese Manipulation herbeizuführen. Dementsprechend ist es ihnen mehr oder weniger gleichgültig, ob das, was sie sagen, wahr oder falsch ist.“

Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit ist für ein zivilisiertes Leben heimtückischer und gefährlicher als das direkte Lügen. Denn Leute mit dieser Einstellung bestreiten grundsätzlich, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt geben kann. Sie haben ein Problem mit der objektiven Realität, mit der Anerkennung von Tatsachen, mit der sinnvollen Unterscheidung von Wahr und Falsch ganz allgemein. Ihnen fehlt eine wesentliche Orientierung fürs Leben. Und je größer der Einfluss solcher öffentlichen Redner ist, desto mehr Menschen ziehen sie mit in den Strudel ihrer ganz persönlichen Unsicherheit.

Ich weiß nicht, ob Musiker dafür eine besondere Antenne haben. Aber ich finde es schon interessant, dass sich 1977 eine österreichische Rockband „Erste allgemeine Verunsicherung“ nannte. Könnte es sein, dass diese Band bis heute zu den Erfolgreichsten im deutschen Sprachraum gehört, weil sie sich mit Millionen von Verunsicherten solidarisiert hat? Weil sie das verbreitete Gefühl aufgreift, die Menschen würden ganz allgemein immer mehr belogen, getäuscht, verunsichert und abgezockt?

 

Dabei gibt es unbestrittene Wahrheiten, auch wenn man an keine göttliche Offenbarung glaubt und der Wissenschaft misstraut. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass sein Name und seine Adresse richtig sind und dass er die Wahrheit sagt, wenn er sie nennt. Falschaussagen bei so simplen Dingen vor Gericht oder vor der Polizei sind sogar strafbar. Selbst diejenigen, die eine objektive Wirklichkeit oder Wahrheit leugnen und bestreiten, man könne gültig zwischen Wahr und Falsch unterscheiden, beteuern, dies sei die Wahrheit. Sie behaupten, sie sagen die Wahrheit, wenn sie sagen, es gebe keine.

Es liegt im Trend, Wünsche als Tatsachen zu verkaufen und Vermutungen als wissenschaftliche Erkenntnis. Aber ohne Glaubwürdigkeit bleibt auch die beste Darstellung und Selbstdarstellung ein „Vermittlungsproblem“. Wer so redet, darf sich aber über die Folgen nicht wundern: Die Bürger sind nicht dumm und werden eben bockig, wenn man ihnen Ungerechtigkeiten als Reformen verkaufen will.