Mein Sonntag in Münster

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Simon sah, dass Eugen alles richtig eingeschätzt hatte. Jolanda war kein Kind mehr. Sie hatte Wünsche. Sie wollte einen Mann und nahm, wenn es nicht anders ging, sogar mit den Narren vorlieb. Sie konnten nur hoffen, dass sie bisher bei solchen Versuchen noch keinen Erfolg gehabt hatte. Eine weitere Missgeburt hätte die Versorgungslage der Gruppe verschlechtert. Es ging ihnen schon schlecht genug, auch wenn dieser Sommer gut war. Vielleicht war der Darauffolgende so, dass sie nur von Wurzeln leben mussten. Vielleicht verhungerten sie alle.

Eugen sprang vor, sein kräftiger rechter Arm wurde lebendig, packte Robert und warf ihn zwei, drei Meter durch die Luft. Der Narr rollte über den Boden, blieb ängstlich zusammengekauert liegen und schlang die Arme um seinen Kopf, als wollte er Schläge abwehren. Jolanda starrte Simon an und sagte nichts.

»Komm mit«, röhrte Simon.

Er zog Jolanda hoch, und sie machten sich zu dritt auf den Weg zur Höhle. Der Narr, der es gewohnt war, den anderen zu folgen, lief in einiger Entfernung hinter ihnen her.

In den folgenden Tagen sorgte Eugen dafür, dass immer eine der Frauen aus der Gruppe ein Auge auf Jolanda hatte. Nach einer weiteren Woche kam eine der Frauen und meldete, dass Jolanda Menstruationsbeschwerden habe. Eugen erzählte Simon davon. Sie waren erleichtert. Jolanda war nicht schwanger.

Als sie tags darauf den Rat einberiefen, an dem alle Mitglieder der Gruppe teilnahmen, konnten sie konkrete Vorschläge machen. Überall in der Gruppe ruckten die Köpfe in schweigender Zustimmung, als Eugen sprach. Er sagte zuerst, dass Jolanda – ›die schöne Jolanda‹, wie er sie nannte – wohl nach allgemeiner Auffassung nur an einen Mann gegeben werden dürfe, der in gleicher Weise vollkommen sei wie Jolanda selbst. Auch die jungen Männer widersprachen nicht. Unter ihnen war keiner, der sich jemals Aussichten gemacht hatte. Sie alle waren hässlich und in vielfältiger Weise verkrüppelt. Bei dem einen war das Gesicht eine grotesk verzerrte Maske, bei einem anderen waren die Beine so weit verkürzt, dass er nur mit lächerlichen Trippelschrittchen gehen konnte. Einige waren wahrscheinlich ohnehin zeugungsunfähig. Alle vertrauten sie ihren Philosophen, die schon das Richtige für Jolanda tun würden.

»Wir haben nun in der Nähe von Nürnberg einen jungen Mann gefunden. Er soll sehr schön sein. Aber nach Nürnberg sind es über fünfzig Kilometer. Das ist das Problem. Überall die Strahlung, wie ihr wisst. Simon und ich machen jetzt den Vorschlag, Jolanda dennoch zu dem jungen Mann zu bringen. Wir glauben, dass das möglich ist.«

Eugen erklärte weiter, wie der Plan aussah, den er zusammen mit Simon ausgedacht hatte. Es gab weit und breit keine Fahrzeuge. Aber in der Nähe, in einem der Dörfer, wo die Strahlung noch nicht tödlich war, da müsste es Fahrräder geben. Er erklärte der Gruppe, was man unter einem Fahrrad zu verstehen hatte. Es gelang ihm nur unvollkommen. Er hatte auf seiner Reise nach Bamberg zwar eine Vielzahl von Fahrrädern gesehen, aber er wusste nicht, wie man auf den schmalen Rädern fahren sollte. Wenn er auch nicht zweifelte, dass das möglich war.

Es musste ihnen gelingen, ein Fahrrad zu holen. Und sie brauchten Teile von anderen Fahrrädern für den Fall, dass etwas repariert werden musste. Und Werkzeug natürlich. Dann aber, und das sei die eigentlich wichtige Sache, müssten sie noch einen Karren herstellen, den man hinter dem Fahrrad befestigen und so ziehen konnte. Auf dem Karren würden sie eine Kiste befestigen, und in dieser Kiste würde sich Jolanda während der Reise aufhalten.

Natürlich konnte das keine Kiste aus Holz sein. Die würde ja keinen Schutz vor der Strahlung bieten. Nein, es gab andere Materialien. Blei sei am besten, Blei schütze gut. Man werde es sicherlich in den Batterien der Autos, die in den Dörfern herumstanden, finden. In den Büchern, die er gelesen habe, stünde jedenfalls, dass in den Batterien Blei sei. Daraus müssten sie eine Kiste bauen. Jetzt sei Juni. Zwei Monate Zeit, dann könnte alles fertig sein. Wenn die Gruppe gemeinsam ans Werk gehe. Gemeinsam könnten sie es schaffen.

Nachdem Eugen geendet hatte, nahm Simon all seine Kraft und all seinen Atem zusammen, und entwarf keuchend und manchmal brüllend ein Zukunftsbild, durch das er die Angehörigen der Gruppe zusätzlich zu motivieren hoffte.

»Später, vielleicht nach fünfzehn Jahren schon, da kommt vielleicht einer zu uns. Er ist groß und schön. Er ist ein Mensch, wie es ihn nur vor dem Krieg gab. Viele von uns können das noch erleben. Ein Sohn von Jolanda! Er wird eine schöne Frau mitbringen. Zusammen werden sie weitere Kinder haben. Sie werden unsere Gruppe führen. Wenn wir uns also anstrengen, dann tun wir es für uns. Und wir tun es, damit die Menschheit überlebt.«

Eugen grinste breit und mit zuckenden Lippen. Simon konnte von seinen Träumen nicht lassen. Das belustigte ihn. Er sah das Unternehmen für eine interessante Sache an und für nichts sonst. Das Überleben der Menschheit war ihm egal. Die Sache brachte Abwechslung. Besonders für ihn selbst. Das war Rechtfertigung genug.

Ob Simons Appell es war, der die Gruppenmitglieder für die Reisevorbereitungen einnahm, oder ob sie deshalb arbeiteten, weil sie gewohnt waren, den Ideen ihrer beiden Philosophen zu folgen, das war nicht zu entscheiden. Sicher war nur, dass die ganze Gruppe zusätzliche Arbeit leistete. Sie vernachlässigte die Vorratsbeschaffung nicht. Außerdem aber trugen sie aus dem in der Nähe gelegenen Dorf alle Fahrräder zusammen, die sie fanden. Dazu kam, dass jemand in einem Haus, das am Weg stand, der hinunter ins alte Dorf führte, Zementsäcke entdeckte. Simon hatte diesem Mann einmal erzählt, dass man früher mit Zement Beton gemischt und Häuser gebaut hatte. Weil ein Haus für die Höhlenbewohner ein Kasten war und sie ja doch auch einen Kasten bauen wollten, erzählte der Mann Simon von seinem Fund. Simon, der niedergeschlagen war, lebte wieder auf. So konnte es vielleicht auch gehen.

Die Idee mit den Autobatterien war kein Fehlschlag gewesen, aber die ganze Sache war schwieriger als erwartet. Zwar standen in dem Dorf und auch auf der Straße dorthin verrostete Autowracks in großer Zahl, aber das Blei in ihren Batterien war bis auf Reste von der Säure zerstört. Es war mühsam und langwierig, so viel Blei zu sammeln, dass ein geeigneter Kasten gebaut werden konnte. Da kam der Zement gerade recht.

Nachdem die Rohmaterialien zusammengetragen waren, teilten Simon und Eugen die Gruppe in zwei Abteilungen. Die eine Abteilung, für die Simon zuständig war, beschäftigte sich mit der Konstruktion des Fahrrads und des Anhängerkarrens, die andere machte sich unter der Leitung Eugens daran, den Kasten zu bauen. Beide Werke waren schwierig, aber sie kamen doch stetig voran. Am einfachsten war die Zusammenstellung des Fahrrads. Weil der Gummi der Reifen spröde und brüchig geworden war, mussten sie nicht nur die besten Reifen heraussuchen, sondern auch dafür sorgen, dass eine gewisse Zahl von Ersatzreifen fertig auf die Felgen montiert zur Verfügung stand. Simon meinte, dass vier Ersatzreifen, je zwei für das Vorder- und zwei für das Hinterrad, genügen müssten.

Den Karren bauten sie aus den Teilen der übrigen Fahrräder. Er war dreirädrig, und das Vorderrad ließ sich so bewegen, dass der Karren immer der Laufrichtung des ziehenden Fahrrads folgen würde. Auf diese Konstruktion war Simon besonders stolz, weil nur sie es möglich machte, dass der schwere Kasten mit Jolanda transportiert werden konnte.

Der Kasten, den Eugens Abteilung baute, wurde aus Beton gemacht. Aus Brettern hatte Eugen einen großen und einen kleineren Holzkasten anfertigen lassen, die dann ineinander gestellt wurden, sodass der Zwischenraum mit dem Beton ausgegossen werden konnte. Das Ergebnis war eine unförmige, steinerne Kiste, die man dann noch mit einem nicht sehr dicken Mantel aus Blei umgab. Am Ende war die Kiste so schwer, dass sie nur von mehreren Männern gehoben werden konnte.

Das Gewicht des Kastens machte Simon skeptisch. Er war nicht sicher, ob der Karren genügend stabil und der Fahrer genügend kräftig sein würde, um Jolanda zu transportieren. Als er seine Bedenken Eugen mitteilte, grinste der und meinte, Simon müsse sich ja zumindest um die Kraft des Fahrers nicht allzu große Sorgen machen.

Als Fahrer des Gefährts war von Anfang an Eugen ausersehen. Er hatte sich freiwillig zur Verfügung gestellt und argumentiert, er habe die größte Erfahrung, was Reisen anbeträfe. Außerdem werde er nicht mehr lange leben. Sein Nutzen für die Gruppe sei also geringer als der Simons, der wegen seines Asthmas ja ohnehin nicht infrage käme.

Als in der Mitte des August die Arbeiten wider alles Erwarten vorzeitig abgeschlossen waren, musste Eugen erst einmal lernen, Fahrrad zu fahren. Er übte lange Zeit unter der Anteilnahme der ganzen Gruppe, die am Rande seiner Versuchsstrecke aufgereiht war. Eine von Grasbüscheln übersäte Straße, rechts und links die Mitglieder der Gruppe, auf der Straße Eugen, der erste kleine Anläufe nahm. Er machte Fortschritte, wobei das größte Problem blieb, dass sein linker Arm viel zu schwach für diese Fahrt war. Simon fand die Lösung. Er brachte an dem Fahrradlenker eine Stange an, auf deren Ende sich Eugen wie auf eine Krücke stützen konnte. Von da an war vieles einfacher, und Eugen machte zusehends Fortschritte.

Anfang September beherrschte Eugen das Fahrrad vollkommen. Auch die Fahrversuche mit dem Karren waren gut verlaufen. Dem Transport stand nichts mehr im Wege.

Eugen, der die Nürnberger Gruppe bereits in den vergangenen zwei Monaten von dem Fortgang der Arbeiten über Funk informiert hatte, meldete jetzt, dass alle Vorbereitungen zu einem guten Ende gebracht seien. Die anderen funkten zurück, dass sie alle, vor allem aber der junge Mann, für den Jolanda bestimmt sei, mit großer Spannung auf den Transport warteten.

 

Die Gruppe in der Höhle lebte in den letzten Tagen vor der Abreise in fiebriger Spannung. Sogar die Narren, die den Sinn des Treibens nicht verstehen konnten, liefen aufgeregter als sonst umher. Vorräte für Eugen und Jolanda wurden zusammengestellt. Eugen arbeitete zusammen mit Simon die endgültige Route aus, die Simon fahren sollte. An mehreren Punkten der Strecke wurden Ausweichstraßen für den Fall festgelegt, dass das Gebiet zu stark strahlte.

Dann, am 9. September, war es soweit. Die letzten Vorbereitungen waren abgeschlossen. Die Sonne schien und machte die mit dem Staub des Krieges immer noch angereicherte Atmosphäre wieder rötlich dunstig. Es war warm. Die ganze Gruppe begleitete Eugen und Jolanda zur Straße. Dort stieg Jolanda in den Kasten, der bis auf winzige, mit einfachen Filtern versehene Öffnungen verschlossen wurde. Eugen winkte noch einmal allen zu und gab Simon die Hand. Dann stieg er auf das Fahrrad, und das Gespann rollte zuerst langsam, dann schneller werdend die mäßig geneigte Straße hinab. Noch einmal hob Eugen mit einer altertümlich wirkenden, sportlichen Geste den linken, dürren Arm, ehe er hinter der Kurve verschwand …

Simon und Eugen hatten ausgerechnet, dass die Reise, wenn keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten auftreten würden, ungefähr eine Woche dauern konnte. Dabei hatten sie berücksichtigt, dass Eugen häufig Straßen nehmen würde, die wie die blinden Gänge eines Labyrinths vor einer zerstörten Brücke oder einer zugeschütteten Stelle endeten. Obwohl also eine Woche vergehen musste, ging Simon doch am Abend zu dem Funkgerät und sprach mit der Nürnberger Gruppe in einer Weise, als könnte Eugen mit Jolanda schon eingetroffen sein. …

Ihm fehlte plötzlich die vertraute schrille Stimme. Wo war Eugen jetzt? Wo fand er eine ruhige Stelle für die Nacht? War er vielleicht trotz des bereitgehaltenen Geigerzählers schon in einen Bereich gekommen, in dem er vom Rad gestürzt war, weil sein Körper lautlos zerstört worden war?

In der Nacht träumte Simon, wie Eugen mit dem Fahrrad zwischen grünen Wiesen dahinfuhr. Die Sonne schien von einem blauen Himmel. Simon wunderte sich noch im Traum, denn in seinem ganzen Leben hatte er nie einen blauen Himmel gesehen. Der Himmel war rot. Wie oft hatte er mit Eugen darüber gesprochen, dass die Erde, wenn man sie von einem Satelliten aus noch einmal betrachten könnte, ein rötlich-gelber Planet wäre. Nicht mehr blau wie früher. Hier, in seinem Traum, fuhr Eugen in einen blauen Herbsttag. Und, was ebenso wunderlich war: Eugen, dessen Stimme doch in Wirklichkeit schrill und misstönend war, sang mit einer angenehmen Baritonstimme ein Lied, während er mit dem Fahrrad durch die Landschaft fuhr. Außerdem die Arme! Eugen hatte zwei gesunde Arme! Und ein Gesicht, das nicht mehr in spastische Zuckungen geriet, wenn er den Mund aufmachte. Ein ruhiges, schönes Gesicht hatte Eugen in dem Traum. …

Am Morgen, als Simon erwachte, sah er noch immer das Bild aus seinem Traum vor sich. Der Traum steigerte seine Unruhe, die ihn gleich nach dem Erwachen wieder befiel. Es war merkwürdig, an diesem zehnten September gab er den Sammlern, die am Morgen wie gewohnt in den Wald gingen, ganz allein die Anweisungen. Beim Frühstück konnte er sich mit Eugen nicht wie sonst über ein philosophisches oder historisches Thema streiten. Die Gruppe schien mit einem Male nur noch aus Narren zu bestehen.

Der erste Tag verging, und der zweite Tag verging. Simons Unruhe wuchs ebenso wie sein Gefühl der Einsamkeit. Wieder funkte er nach Nürnberg und ließ sich von Schilderungen der vorbereiteten Begrüßungsfeierlichkeiten ablenken. Und auch in den folgenden Nächten träumte er von Eugen.

Die Träume allerdings änderten sich. Einmal träumte er, dass Simon müde und unaufmerksam mitten hinein in ein Strahlenfeld gefahren war. Er hatte zu spät das Rattern des Geigerzählers bemerkt. Er stieg vom Rad. Schon wurde ihm übel. Nach einiger Zeit bildeten sich Blasen auf der Haut, und unter der Haut sammelte sich Wasser, das den Körper Eugens bald unförmig werden ließ. Am Ende platzten alle diese Blasen gleichzeitig auf, und Simon sah, wie Eugen, der tapfere Eugen, dampfend auf den Asphalt floss und in den Rissen der alten Fahrbahn versickerte.

Er erwachte darauf und spürte eine schreckliche Atemnot, röchelte, stöhnte, weckte damit einige der Schlafenden, die ihn stützten, sodass er aufstehen und ein paar Schritte gehen konnte. Auf diese Weise wurde zwar sein Atem rasch wieder ruhiger, aber die ganze Nacht über und auch am folgenden Morgen verließ ihn eine quälende, nervöse Angst nicht mehr. Sie nistete sich in seinem Kopf fest, bedrohte ihn mit neuen Träumen, denen er ganz und gar hilflos ausgeliefert war.

Noch mindestens drei Tage. Drei volle Tage – und Nächte! –, in denen die Ungewissheit schlimmer war als jede schlechte Nachricht. Unbemerkt wuchs der Hass auf Jolanda in Simon. Als er ihn plötzlich bemerkte, war es zu spät. Er giftete innerlich gegen ihre Schönheit, die ihn und Eugen zu dieser verrückten Unternehmung verleitet hatte, und sagte immer wieder zu sich, dass Eugen tausendmal mehr wert war als diese geile Jolanda. Eugen, ein philosophischer Mensch, dazu mutig, o ja, über alle Maßen mutig. Ein wenig exzentrisch, nun, das schon, aber auch ein anregender Gesprächspartner. Dagegen dieses Mädchen. Sie hatte alle körperlichen Vorzüge der Menschen vor dem Krieg, aber sie hatte keinen Verstand und, was noch viel schlimmer war, sie hatte kein Gefühl für das Denken. Für so ein Wesen, für solch eine leere Hülle riskierte Eugen sein Leben. Welch ein Wahnsinn!

Frühestens in zwei Tagen werden sie ankommen, sagt sich Simon und sucht sich selbst zu beruhigen. Frühestens in zwei Tagen. Doch dann, Simon ist an diesem Nachmittag zufällig in der Höhle, piepst das Funkgerät. Simon kann die Nachricht zuerst kaum glauben, und die anderen wiederholen sie daraufhin: Sie sind gerade angekommen. Alles ist in Ordnung. Eugen und Jolanda sind wohlauf.

Dann ist Eugen selbst am Mikrofon: »Hallo, Simon!« Das vertraute Kreischen, es ist kein Zweifel mehr möglich. »Es war alles ganz leicht. Ich habe fast keine Strahlung abbekommen. Vielleicht war es Glück. Jedenfalls führten alle Straßen durch schwach kontaminiertes Gebiet. Nur unwesentlich mehr als zu Hause in der Höhle.«

»Du bist ganz gesund?«, dröhnt Simons Stimme gerührt.

»Soweit man bei mir noch davon sprechen kann«, kreischt Eugen ironisch zurück. »Ich bin natürlich müde. Aber sonst fühle ich mich nicht schlechter als vor der Reise.«

Eugen muss aufhören zu sprechen, die Batterien sind sonst zu schnell erschöpft. Am Abend will er noch einmal anrufen und eingehender berichten. Außerdem – er deutet es geheimnisvoll an – hat er noch ›einen Plan‹.

Der Plan ist verrückt, aber beim zweiten Hinsehen kann Simon nichts mehr entdecken, was der Verwirklichung im Wege stünde. Eugen hat vorgeschlagen, die ganze Gruppe, soweit sie noch Rad fahren könne, solle die restlichen Räder, die bei der Reparaturaktion übrig geblieben sind, instand setzen. Der Weg sei erkundet. Alle könnten innerhalb von zwei Tagen nach Nürnberg fahren. Beide Gruppen zusammen könnten dann die Hochzeit von Jolanda feiern.

Es gibt da natürlich Bedenken, aber der Gedanke ist zu verlockend. Heraus aus dem engen Kreis der Höhle, andere Menschen sehen, eine Hochzeit zwischen zwei schönen jungen Menschen feiern. Lauter Neuigkeiten, die noch vor ein paar Tagen unerreichbar waren. Simon überlegt nur einen Tag, dann ruft er die Gruppe zusammen, um ihr Eugens Vorschlag zu unterbreiten.

Er selbst unterstütze diesen Vorschlag, sagt er noch.

Die meisten Mitglieder der Gruppe sind zuerst einmal erschrocken. Zu abenteuerlich ist diese Idee. Aber dann kommt die Neugierde auf, verbreitet sich in wenigen Minuten hektischen Palaverns. Als abgestimmt wird, sind alle dafür, zu fahren. Einige werden zurückbleiben müssen, weil sie mit Sicherheit unfähig sein werden, Rad fahren zu lernen.

Die ganze Gruppe geht mit großem Eifer ans Werk, denn in zwei Wochen soll die Hochzeit sein. Fahrräder sind in genügender Zahl vorhanden und werden hergerichtet. Simon hat nachgelesen und weiß jetzt sogar, wie man zerstörte Reifen flickt. Das Gummi wird elastisch gemacht, indem man es in warmes Öl legt, das jemand gefunden hat. Dann, als die Räder fertig sind, beginnt die ganze Gruppe das Fahren zu üben. Zu Simons Überraschung lernen alle Mitglieder, die an der Fahrt teilnehmen sollen, ziemlich schnell. Die Erwartung scheint sie anzuspornen.

Es gibt noch eine Überraschung. Robert, der Narr, der nicht sprechen konnte und dem die Koordination einfachster Bewegungen Schwierigkeiten machte, Robert lernt Rad fahren. An einem Spätnachmittag war es gewesen. Die, die geübt hatten, hatten ihre Fahrräder am Straßenrand abgestellt. Robert, der den Übenden vom Straßenrand aus zugesehen hatte, schlich sich an eines der Räder heran, stellte den Fuß auf das linke Pedal, schob hüpfend an und fuhr gleich darauf sicher und gewandt die Straße entlang. Simon wusste nicht, wie er sich die Sache erklären sollte. Er bestellte Robert zu sich. Der Narr grinste ihn aus seinem lippenlosen Gesicht an und schwieg. Erst als Simon ihn im Scherz fragte, ob er denn jetzt auch mit nach Nürnberg fahren wolle, hörte Robert auf zu grinsen und nickte heftig mit dem Kopf.

Simon war mehr als erstaunt. Robert verstand doch sonst nie. Er konnte einfache Arbeiten verrichten, ja, aber nur, wenn man sie ihm augenfällig demonstriert hatte. Vielleicht war das Kopfnicken nur Zufall gewesen?

Um das zu überprüfen, formulierte Simon die Frage um. »Du willst hierbleiben und nicht mit nach Nürnberg fahren?«, fragte er.

Sofort schüttelte Robert energisch den Kopf. Ganz offenbar wusste er wenigstens in diesem Fall ganz genau, was er wollte.

Simon sah keinen Grund, warum man Robert nicht mitnehmen sollte. Man baute noch ein weiteres Fahrrad für Robert. Stolz und sicher fuhr der Narr vor der erstaunten Gruppe die schwierigsten Kurven. Es war, als wollte er noch einmal beweisen, dass er sehr wohl imstande sein würde, die Fahrt zu den Hochzeitsfeierlichkeiten mitzumachen.

Es ist der 2. Oktober. Die Gruppe bricht auf. Simon, der wegen seines Asthmas nicht richtig in die Pedale treten kann, hat auf dem Rücksitz des einzigen Tandems der Gruppe Platz gefunden. Ein kräftiger Mann sitzt vor ihm und nimmt ihm die meiste Fahrarbeit ab. Die Zurückbleibenden, Narren, Kinder und fahruntaugliche Krüppel, haben zum Abschied gewunken. Genau nach Eugens Anweisungen sucht die seltsame Karawane ihren Weg.

Eugens Beschreibung ist gut. Ohne alle Probleme fährt die Gruppe an dem zu runden Klumpen zusammengeschmolzenen Nürnberg vorbei in den Süden. Am Mittag des 4. Oktober kommen sie, durch lautes Geschrei der fremden Gruppe willkommen geheißen, in deren Dorf an. Bewundernde Blicke folgen Eugen und Simon, als sie sich begrüßen. Das sind die beiden Männer, die dies möglich gemacht haben. Solche Männer werden es sein, die den Fortbestand der Menschheit ins Werk setzen. Tatkräftig, entschlossen, mutig.

Weil sie an dem Transport von Jolanda keine Verdienste haben erwerben können, haben es sich die Mitglieder der anderen Gruppe angelegen sein lassen, die Hochzeit so vorzubereiten, dass sie als ein unvergessliches, prachtvolles Ereignis gefeiert werden kann. Essen und Trinken, lange Tischreihen, feierliche Kleidung, alles ist vorhanden.

Am 7. Oktober, einem Samstag, findet die Hochzeit statt. Eugen, Simon und die besten Männer der anderen Gruppe haben sich zusammengesetzt, um eine Zeremonie auszuarbeiten, die dem Anlass entsprechen kann. Der Initiative Simons ist es zu verdanken, dass diese Hochzeit den Hochzeiten vor dem Krieg gleicht. Hier, mit zwei Menschen, die alle Eigenschaften, die die Menschen vor dem Krieg hatten, unverfälscht bewahrt haben, sollte die Vermählung möglichst so vor sich gehen, wie es vor dem Krieg üblich war. So hatte Simon argumentiert, und er hatte ›Vermählung‹ gesagt, ein Wort, das bis dahin nicht einmal Eugen gekannt hatte.

So hat man denn am Abend des 6. Oktober bereits gefeiert. Polterabend habe man diese Feier vor dem Krieg genannt, weiß Simon zu berichten. Am Morgen des 7. Oktober treffen sich alle im schönsten Haus des Dorfes. Vorne hat man einen großen Tisch aufgestellt. Das Brautpaar tritt durch die rückwärtige Tür des kleinen Saales und schreitet durch einen von allen Gruppenmitgliedern gebildeten Gang nach vorne. Aus einem Lautsprecher scheppert ein Marsch. Es ist die einzige Platte, die die Nürnberger Gruppe besitzt. Man ist stolz auf diese Musik, die sogleich eine gewisse Festlichkeit garantiert.

 

Jolanda hat ein weißes Kleid bekommen und dazu einen Schleier. Ihr Mann, der sie um mehr als zwei Köpfe überragt, trägt einen abgewetzten schwarzen Anzug und eine dunkelrote Schleife. Kaum jemand in dem Saal kann seine Rührung verbergen. Einige Frauen weinen.

Vorne, hinter dem Tisch und mit dem Gesicht zum Publikum, stehen Eugen, Simon und zwei Männer aus der Nürnberger Gruppe. Diese vier Männer haben in den Tagen zuvor die Einzelheiten der Zeremonie festgelegt. Ihre Kenntnisse der Geschichte haben ihnen dabei geholfen. Man war sich einig gewesen, dass es so, wie es bisher in den Gruppen üblich gewesen war, nicht zugehen durfte. Sonst waren die Mitglieder, die einen Geschlechtspartner gefunden hatten, zu den Anführern der Gruppen gegangen und hatten das einfach mitgeteilt. Die Anführer legten dann im Gespräch mit den zukünftigen Eheleuten fest, ob diese Kinder bekommen sollten. Wenn dies nicht geraten schien, wurde über mögliche Methoden der Empfängnisverhütung gesprochen. Das war alles.

Jetzt besann man sich in den Gruppen der Tradition. Wie war es früher gewesen? Da hatte man ein Fest veranstaltet. Freunde eingeladen. Nachdem sich die Frau und der Mann das sogenannte Jawort – was für ein schöner altertümlicher Ausdruck! – gegeben hatten, aß und trank man zusammen. So soll es dieses Mal wieder sein, denn die beiden, die da heiraten, sind neue Menschen, weil sie den alten Menschen so sehr ähnlich sind.

Jolanda und ihr zukünftiger Ehemann stehen jetzt vor dem Tisch. Simon ist zuerst an der Reihe. Er spricht von der Schönheit der beiden jungen Leute, er erinnert an die Zeit vor dem Krieg, deren Errungenschaften und Feste. Anschließend rühmt einer der Männer aus der Nürnberger Gruppe den Mut der Mitglieder der fremden Gruppe. Mehrmals spricht er von ›unseren Freunden aus den Bergen‹. Es hat den Anschein, dass er sich unter der Heimat der Höhlenbewohner ein furchtbares, hohes Gebirge vorstellt. Eugen erwähnt er gesondert und nennt ihn mutig und stark. Eugens Miene zeigt eine Mischung aus Ironie und Stolz.

Dann ist der Augenblick der eigentlichen Trauung gekommen. Zuerst tritt Jolanda einen Schritt vor, und Simon, der nun an der Reihe ist, bemüht sich, seiner Stimme Festigkeit zu geben und das Keuchen zu unterdrücken. Er hat sich feierliche Formeln ausgedacht. Jeder Zuhörer spürt die kleine Erhabenheit dieser Stunde.

»Ich also will dich, Jolanda, fragen, ob es dein Wille ist, dich dem neben dir stehenden jungen Mann zu vermählen. Ist es so, dann antworte mit einem vernehmlichen Ja.«

In der allgemeinen Rührung und weil niemand diese Sprache überhaupt noch kennt, ist untergegangen, dass Jolanda offensichtlich ein wenig konsterniert ist. Die geschwungenen Sätze Simons fliegen über das Maß des ihr gerade noch Verständlichen kühn hinweg, verbreiten eine wolkige Stimmung in dem Raum, ohne auf ihre Beklemmung Rücksicht zu nehmen. In der Aufregung der vergangenen Tage sind in Jolandas Gesicht drei große Pickel gewachsen, haben sich rötlich angefüllt und blühen jetzt, in der entscheidenden Stunde, auf das Heftigste. Auch die kleinen Ungereimtheiten des Protokolls fallen niemandem auf. Nun, da Jolanda vorgetreten ist, steht sie nicht mehr neben dem schwarzhaarigen jungen Mann. Aber soll eine solche Kleinigkeit überhaupt beachtet werden? Nein, das wäre schamlos.

Jolanda öffnet ihren kleinen Mund. Er bleibt für einen Moment offen stehen, dann sagt sie mit ihrer schönen, klaren Stimme: »Jaaa!«

Sie hat das Ja ein wenig hingezogen. Der hinter ihr stehende Mann ist, kaum dass sie dieses Wort gesprochen hat, mit einem eiligen Schritt neben sie getreten. Der Repräsentant der Nürnberger Gruppe, der bis dahin geschwiegen hat, spricht jetzt im Wortlaut Simons Formel nach. Nur dass er für Jolandas Namen den des Jungen einsetzt: Patrick. Auch der Junge antwortet mit einem lang gezogenen Ja.

Gleich darauf bricht im Saal Jubel aus. Simon, der Zeremonienmeister, hat es so einstudiert. Jolanda und Patrick rühren sich nicht von der Stelle. Die Verwirrung ist den beiden Jungvermählten ins Gesicht geschrieben. Simon deutet die Miene der beiden als Ausdruck des Glücks, Eugen empfindet im Anblick der ganzen Szene ein Gefühl erregender Sonderbarkeit.

»Nun wollen wir feiern!«, sagt Simon und gibt dem Brautpaar einen Wink. Beide wenden sich um und schreiten mit bewusst langsamen Schritten zur Tür.

Die Zuschauer folgen. Draußen im Freien sind Tische und Bänke aufgestellt, und es beginnt das Hochzeitsessen, ein Mahl mit ungeahnten Überraschungen in der Speisenfolge. Von allem ist genug da, Bohnen, Salat, verschiedene Soßen und vor allem: Fleisch. Genießbares, zartes Fleisch. Dazu serviert man Einheimischen wie Gästen Apfelwein. Es ist mit einem Wort ein wunderbares, unvergessliches Fest. Eugen und Simon gehen, nachdem sie gegessen haben, zwischen den Tischen umher. Überall sagt man ihnen, wie unvergleichlich schön die Trauung am Morgen gewesen sei, wirklich unvergleichlich schön.

Es ist Eugen, der am Mittag bemerkt, dass Robert nicht unter den Hochzeitsgästen sitzt. Er fragt zuerst Simon. Auch der weiß nicht zu sagen, wann Robert sich entfernt hat. War er überhaupt bei der Trauung anwesend? Sie wissen es nicht. Sollte man das ganze Fest zerstören, jetzt, da die Stimmung ihren ersten Höhepunkt erreicht hat? Simon und Eugen beschließen, erst einmal unauffällig zu suchen. Sie vergewissern sich, dass Robert wirklich nicht bei den anderen sitzt, dann gehen sie durchs Dorf. Als sie den Narren nach einer halben Stunde noch nicht gefunden haben, wird Simon unruhig, während Eugen meint, dass Robert schon in der Nähe sein werde. Er habe sich doch nie von der Gruppe entfernt.

Eugen behält recht. Nach ungefähr einer Stunde finden sie Robert hinter einem Haus am Rande des Dorfes. Er sitzt ruhig auf dem Boden und blinzelt in die Sonne.

»Möchtest du nicht mit uns feiern, Robert?«, fragt Eugen.

Robert scheint die Frage verstanden zu haben. Langsam, ohne Simon und Eugen anzublicken, schüttelt er den Kopf. Er ist – ja, er ist ohne Frage traurig, und Trauer hat man zu respektieren. Die Trauer der Narren ist in nichts geringer als die der Verständigen. Robert wird, wenn das Fest geendet hat, wieder mit zurückfahren, gewiss. Jetzt soll er, wenn er es so will, hier allein bleiben dürfen.

Als Eugen und Simon schweigend zum Festplatz zurückgehen, sind sie sich, ohne dass sie darüber ein Wort verlieren müssten, darin einig, dass Roberts Trauer dem Tag nichts von seiner Feierlichkeit nimmt. Der Kontrast erhöht das freudige Gefühl, gibt der Festlichkeit eine gewisse Randschärfe und verhindert so, dass der Tag ins diffuse Wohlgefühl abgleitet.

»Wir werden hoffen dürfen«, sagt Simon endlich. Er fügt nicht hinzu, worauf sie hoffen sollen. Aber das ist auch nicht notwendig. Eugen grinst ihn von der Seite her an. In spöttischer, herzlicher Freundschaft.

1980 Ein Mann für Jolanda. Aus: SF-International 1. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Goldmann. Goldmann TB 23345.