Mörderisches Bayreuth

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Finanzielle Schieflage
26. Juli

Manfred, Günther und Karl waren ein eingeschworenes Team. Die einzige Person, die sie mit uneingeschränktem Vertrauen in ihre kleine Gruppe aufnahmen, war Dieter Kowalski. Ihr Halbbruder stand ihnen sehr nahe und wurde trotz seines jüngeren Alters von Anbeginn in alle wichtigen unternehmerischen Entscheidungen rund um das „Richard Wagner“ miteinbezogen.

Dieter war das Produkt eines Seitensprungs ihres längst verstorbenen Vaters Friedrich mit einer recht bekannten Opernsängerin am Festspielhaus. Die beiden waren sich nach einer erfolgreichen Inszenierung von „Rheingold“ vor knapp 30 Jahren zum ersten Mal nähergekommen. Das Ergebnis dieser Liaison – und der Grund, warum sich Ute und Friedrich Kolb schließlich trennten – war Dieter, der im selben Jahr wie Laila geboren wurde. Rein äußerlich geriet er ganz nach seiner Mutter, einer grazilen Person mit einer kräftigen Sopranstimme. Leider hatte diese bei aller Ähnlichkeit nicht das geringste Interesse an ihrem Kind, ebenso wie der Vater.

Während Friedrich Kolb seine Frau verließ, mit seiner Liebschaft um die Welt tingelte und das Leben genoss, bis ihn der Lungenkrebs ereilte, überließ er, herzlos wie er nun einmal war, seinen unehelichen Sohn den allgemeinen sozialen Diensten der Stadt Bayreuth. So verbrachte der Halbbruder von Manfred, Günther, Karl und Laila einen kläglichen Teil seiner Kindheit in den dafür vorgesehenen städtischen Einrichtungen. Dieter litt von Anbeginn unter der Einsamkeit, dem Ausgestoßensein. Oft kränkelte er.

Irgendwann konnte Ute Kolb nicht mehr mitansehen, wie der Junge litt. Die Jahre hatten den Schmerz über Friedrichs Betrug gemildert, Gras über die tiefe Kränkung wachsen lassen, also holte sie den außerehelichen Sohn ihres Mannes aus Mitleid aus dem Heim und plötzlich waren es fünf Kinder, die im Wohnhaus Kolb herumtobten.

Dieter blühte auf und dennoch hatte Ute das Gefühl, dass ihm etwas in seiner Entwicklung fehlte. Körperlich war er deutlich kleiner und schmächtiger als seine Halbbrüder, aber das war es nicht: Er war allzu sehr in sich gekehrt, strotzte nicht gerade vor Selbstwertgefühl. Um seine neu gefundene Familie baute er eine regelrechte Mauer, sprach von Dritten außerhalb dieses Kreises oft negativ und eine gehörige Portion Neid spielte in vielem, was Dieter tat, eine Rolle. Trotzdem war Ute beseelt davon, Dieter zu helfen und ihm den Weg in eine erfolgreiche Zukunft zu ebnen. Nach seinem Schulabschluss ermunterte sie ihn, eine solide Ausbildung zum Bankkaufmann anzugehen, während der er selbstverständlich sein Zimmer im ersten Stock behalten konnte und weiter am Familientisch willkommen war. Eine tolle Frau. Noch heute war Dieter seiner Ziehmutter und auch seinen Halbgeschwistern unendlich dankbar, dass sie ihn so unproblematisch aufgenommen hatten. Mit zunehmendem Alter hatte er sich geschworen, ihnen die große Unterstützung zurückzuzahlen. Loyalität seiner Familie gegenüber war für ihn deshalb kein Fremdwort, sondern eine Selbstverständlichkeit, ja geradezu ein Mantra – vor allem nachdem ihm Manfred, Günther und Karl auch noch den Posten als Finanzdirektor ihres Hotels anvertraut hatten.

Als er sich mit ihnen das erste Mal über die Finanzierung der anstehenden Renovierungskosten beriet, schlug er vor, die Auszahlungsverpflichtung, die sie ihrer Schwester gegenüber hatten, in die Bilanz der Kommanditgesellschaft einzustellen. „Wir könnten die Schuldverhältnisse aktivieren. Das wäre nach den Prinzipien der kaufmännischen Vorsicht korrekt“, waren seine Worte.

„Was bedeutet das genau?“, wollte Manfred wissen.

„Nun, nach den Paragrafen 268, Absatz 5, Satz 1, und 285, Nummer 1, des Handelsgesetzbuches müsstet ihr eine Verbindlichkeit einstellen. Die schmälert natürlich eure Vermögensposition.“

„Ich versteh nur Bahnhof“, meinte Günther und Karl nickte dazu energisch.

„Könnte das negative Auswirkungen auf die Beschaffung des Kredits haben, den wir für die Renovierung brauchen?“ Es war Manfred, der den Braten roch.

Dieter zog die Stirn in Falten. „Könnte durchaus sein“, antwortete er. „Es wird jedenfalls nicht einfacher. Aber im Rahmen einer Kommanditgesellschaft seid ihr neben eurer Kapitaleinlage sowieso auch mit eurem gesamten Privatvermögen gesamtschuldnerisch haftbar.“

Dann erklärte er ihnen, was es bedeutete, Komplementär und Kommanditist zu sein, und dass die Haftung von Gesellschaftsverbindlichkeiten im Außenverhältnis durch den Gesellschaftsvertrag sowieso nicht begrenzt werden konnte.

„Dann ist es doch Wurst, ob wir mit der Verbindlichkeit an Laila die Bilanz belasten und damit – wenn ich es richtig verstanden habe – auch die Finanz-, Vermögens- und Ertragssituation unserer Kommanditgesellschaft oder ob wir die 250.000 Euro als private Schuld außerhalb der Geschäftsbücher betrachten. Das heißt“, korrigierte sich Manfred selbst und hob einen Zeigefinger, „es ist doch nicht Wurst. Wenn ich so drüber nachdenke, wäre es mir doch lieber, wenn unsere Bilanz nicht damit belastet wird, auch wenn die Zahlung an Laila der Höhe und dem Grund nach feststeht.“

Manfred war schon immer der Zampano der Familie, vor allem seit ihrer aller Mutter verstorben war. Immer gab er den Ton an und seine Geschwister kuschten, weil sie wussten, dass Diskussionen keine Aussicht auf Erfolg hatten.

*

Am Tag nach der Festspielpremiere saßen die Brüder mit Dieter einmal wieder in Manfreds Büro zusammen. Routinemäßige Besprechung der Hotelleitung. Durch die offenen Fenster kam laue Sommermorgenluft herein, aber die vier waren mittlerweile bei einem schweren Thema angelangt: die Sache mit Lailas Erbteil.

„Als euer Finanzchef muss ich euch darauf hinweisen – ja, Manfred, ständig darauf hinweisen –, dass hier noch eine enorme Verpflichtung ansteht, die einer Lösung zugeführt werden muss. Ansonsten schaut es mau aus mit unserer Finanzlage.“

„Ja, ja … wissen wir“, nahm Manfred das Thema auf, „an der Zahlungsverpflichtung gegenüber unserer Schwester gibt es nichts zu rütteln und zu deuten. Eine unschöne Sache, der Termin rückt immer näher. Momentan hätten wir die 250.000 Euro jedenfalls nicht zur Verfügung – und unter uns gesagt, fällt mir auch nichts ein, wie wir das im nächsten Jahr hinkriegen sollen. Wir haben uns seinerzeit bei der Kalkulation unserer Fixkosten ganz schön vertan und müssen froh sein, dass wir die fälligen Tilgungsraten aus der Finanzierung bedienen können.“

„Aber auch nur, weil wir die Aktien von Mama zu Geld gemacht und die Erlöse in die Gesellschaft eingebracht haben“, merkte Karl an.

„Ja, ja, ich weiß. Das musst du mir nicht auch noch sagen, Karl!“, reagierte Manfred laut und schroff. „Wir müssen uns etwas einfallen lassen!“

Karl zuckte zurück, als er von Manfred halb gescholten wurde; er und Günther standen immer in zweiter Reihe, auch wenn sie gleichberechtigte Gesellschafter waren.

Wieder hatte sich Manfred in den Vordergrund geschoben. Allmählich ging den Zwillingen sein Verhalten aber gehörig gegen den Strich. Es brodelte unter der Decke der brüderlichen Harmonie. Was bildete Manfred sich eigentlich ein? Er hatte auch keine bessere Ausbildung genossen als sie. Großhandelskaufmann – das machte aus ihm nicht automatisch den perfekten Hotelmanager, genauso wenig wie sein beruflicher Einstieg als Sachbearbeiter im Vertrieb und Innendienst der Brauerei Gebrüder Maisel. Na und? Das einzige, was für seinen Job als Direktor des „Richard Wagner“ sprach, war die Tatsache, dass er von Küchen- und Hotelbetriebsabläufen keinen Schimmer hatte, da blieb nur noch der Posten des Chefs, der Verantwortung trägt, aber sonst nichts. Die wahren Gründe, warum man ihm den Job anvertraut hatte, waren seine imposante Erscheinung und sein weltmännisches Auftreten. Kamen die Gäste mit Beschwerden zu Punkten, die nicht so liefen, wie sie sollten, vermittelten schon seine an den Seiten leicht ergrauten Haare diesen gewissen Hauch von Seriosität. Seine Art zu sprechen und die positive Aura eines in sich ruhenden Menschen sorgten für den Rest: Manfred stand für Verlässlichkeit, für gewissenhaftes Handeln, für das Einleiten von Verbesserungen. Er war ganz groß in der Theorie.

Gott sei Dank hatte Günther souverän die Gastronomie des Hotels übernommen. Mehrere Jahre lang war er stellvertretender Chefkoch in Laudensacks Parkhotel, dem Sternerestaurant in Bad Kissingen, gewesen; noch heute schwärmten seine ehemaligen Gäste von seiner Rinderroulade „Oma Herta“. Vom Empfang bis zu den Zimmern, vom Personal und der Verwaltung bis zum Einkauf oblagen Karl die vielen Aufgaben des Alltagsgeschäfts. Er war der eigentliche Experte in der Familie, der sich dafür im „Bayerischen Hof“ in München zum Hotelkaufmann hatte ausbilden lassen. Karl und Günther waren sich einig, dass ihr älterer Bruder die überflüssigste der Leitungspositionen übernommen hatte. Hier ein bisschen repräsentieren, dort ein wenig den Gästen um den Bart gehen. Also brauchte er sich nicht immer wie ein Tyrann aufzuführen. Außerdem: Das Geld zusammenzuhalten, schien ihm nicht so zu liegen. Manfred gab es viel zu leichtsinnig aus.

Sie erinnerten sich nur zu gut an die Gespräche, die sie mit Laila nach der Beerdigung ihrer Mutter geführt hatten. 250.000 Euro hatte Manfred ihr auf Anhieb für ihren Anteil am Hotel angeboten. Völlig überflüssig. 150.000 bis 200.000 hätten es sicher auch getan. Andererseits – die Erbmasse mit Hotelgebäude und Grund war mehr als eine Million wert, auch unrenoviert. Das besagte jedenfalls das Gutachten, das sie wenig später hatten anfertigen lassen. Ein Hotel in bester Lage. Laila hatte sich sehr konziliant gezeigt. Allen war klar gewesen, was es bedeuten würde, den alten Kasten modernisieren zu lassen, und auch die Zwillinge waren ihrer Schwester durchaus dankbar, dass sie ihnen nicht durch übertriebene Geldforderungen noch mehr Steine in den Weg gelegt hatte. Aber jetzt? Jetzt ragte Lailas Erbteil als schlimmster und größter Brocken vor ihnen auf.

 

Schon klar, dass sie nicht mehr davon abging, nachdem die Zahl einmal auf dem Tisch lag – aber noch lange kein Grund für Manfred, seine Brüder ständig zusammenzustauchen. Den Zwillingen schwoll der Kamm. Dieser selbstgerechte Sack stellte sich hin und sprach davon, dass man sich „etwas einfallen lassen müsse“, ohne selbst eine Idee zu haben.

Karl hingegen hatte sehr wohl einen Vorschlag. „Gestern hat ein gewisser Heiko Springer mit seiner Freundin eingecheckt“, wusste er zu berichten. „Ich war gerade am Empfang. Finanzberater hat er ins Anmeldeformular eingetragen. Der stinkt nach Geld. Goldene Rolex, Anzug von Armani, einen 350er Mercedes SL auf dem Parkplatz. Seine Freundin trägt Goldgeklimper vom Hals bis zum Knöchel, Klamotten von Edelmarken und irgendeine sauteure Ledertasche hatte sie auch noch über der Schulter hängen.“

„Was willst du uns damit sagen?“, fragte Dieter über seine verschränkten Arme hinweg. „Sollen wir ihn um finanzielle Unterstützung angehen, vielleicht nach einem Privatkredit fragen?“

„Wie – Privatkredit?“, wurde Manfred hellhörig.

„Davon würde ich abraten“, sagte Dieter streng. „Finanzberater … solche Leute sind doch die reinsten Halsabschneider.“

„Nein, nein, das meine ich nicht“, fuhr Karl schnell fort, „aber so ein Finanzberater spekuliert doch an der Börse, legt das Geld seiner Kunden möglichst gewinnbringend an. Offenbar hat der Springer ein Händchen dafür, wenn er sich von der Provision so einen Lebensstil leisten kann.“ Karl sah seine Brüder einen nach dem anderen an. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir auch auf die Dienste eines Finanzdienstleisters zurückgreifen.“

„Du willst diesen Springer engagieren?“, fragte Günther skeptisch. „Nur weil dem eine Rolex am Handgelenk baumelt?“

„Nein, ich weiß nicht, vielleicht. Ich hab das noch nicht zu Ende gedacht“, entgegnete Karl mit bemühtem Lächeln. „Wir können uns auch schlau machen, wer hier in Bayreuth so eine Finanzberatung betreibt?“

„Pfft“, machte Günther.

„Bin ich der einzige, der sich fragt, mit welchem Geld unser potenzieller Finanzberater denn an der Börse für uns spekulieren soll?“, warf Dieter ein. „Ihr kennt unsere Lage. Da ist für solche Spielchen nichts übrig …“

„Hhm.“ Manfred wog den Kopf hin und her. „Vielleicht sollten wir den Burschen mal kennenlernen … Heiko Springer … Am besten laden wir ihn und seine Freundin mal zum Abendessen ein. Quasi als Aufmerksamkeit des Hauses gegenüber seinen VIP-Gästen. Je nachdem, wann es bei denen geht“, fügte er hinzu, „sie bleiben ja ein paar Tage, wenn ich es richtig verstanden habe. Vielleicht kann der Mann uns wirklich helfen.“

*

Der Bursche, der nach Geld stank und dessen Dienste möglicherweise gefragt waren, war an diesem Morgen schon allein zum Frühstück vorausgegangen. Ein Streit mit Annalena. Es ging um Nichtigkeiten. Nur weil er, wie immer, früher wach war als sie und dieses eine Mal – im Urlaub, im Hotel – nicht auf sie warten wollte.

Mit einem „Ich bin noch soooo müde“ hatte sie sich einfach auf die andere Seite gedreht und weitergeschlafen. Dabei war es schon halb neun! Gestern Abend hatten sie extra noch vereinbart, dass sie um diese Zeit ihren ersten Kaffee gemeinsam genießen wollten. Langsam ging sie ihm auf die Nerven mit ihrer Unzuverlässigkeit.

Während Heiko Annalena dabei zugesehen hatte, wie sie ihre Nase immer tiefer ins Kissen drückte, hatte er geahnt, wie das enden würde: Mindestens eine Stunde müsste er totschlagen – mucksmäuschenstill, versteht sich –, bevor sie sich dazu herablassen würde, endlich aufzustehen. Nein, irgendetwas hatte ihn heute dazu bewogen, nicht nachzugeben. Er wusste nicht, welcher Impuls genau diesen Trotz angestachelt hatte, aber er hatte sich kurz unter die Dusche gestellt, war, nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, in seine Jeans und ein weißes T-Shirt von Hilfiger geschlüpft und hatte sich die leichten Lederslipper übergezogen. Fast hätte er es auch aus dem Bad und zur Tür hinaus geschafft, aber da hatte Annalena nun doch schon wach im Bett gesessen und gemeint, dass sie in einer halben Stunde fertig sei und er auf sie zu warten habe. Wie gesagt, heute nicht.

Es folgte ein unfreundliches Wortgefecht. Wutentbrannt verließ er die gemeinsame Suite. Seine lockigen Haare glänzten noch feucht vor sich hin.

Als er das reichhaltige Angebot in der Frühstückskuppel des „Richard Wagner“ entdeckte, das als Selbstbedienungsofferte aufgebaut war, besserte sich Heikos schlechte Laune schlagartig. An der Eierstation stand ein Hotelangestellter und nahm die Wünsche der Gäste entgegen. Die Wahl bestand aus Omelette, Rühr- und Spiegelei mit diversen Zutaten. Er entschied sich für Rührei mit Speck. An der Saftbar gab es frisch gepressten O-Saft. Für seinen Toast wählte er die Einstellung „knusprig braun“ und als er endlich einen Platz mit Blick auf das Bayreuther Festspielhaus gefunden hatte, stand plötzlich ein atemberaubendes blondes Wesen neben ihm und fragte nach seinen Tee- oder Kaffeewünschen.

Er war erst so perplex, dass er das Wort „Cappuccino“ kaum herausbrachte. „Trottel!“, schimpfte er sich in Gedanken selbst, er musste ja den Eindruck hinterlassen, als ob er stottern würde.

Kaum hatte er sich wieder einigermaßen sortiert, rauschte die blonde Bedienung mit einem vollen Haferl in der Hand wieder heran. „Wohl bekomm’s“, wünschte sie mit einer Stimme, die süßer nicht klingen konnte, stellte das Haferl auf die Tischplatte und schwebte davon.

Heiko Springer war platt. So eine Frau hatte er noch nicht erlebt. Sie war schlank, nicht zu groß und nicht zu klein geraten, blond, hatte grüne wache Augen und wenn sie lächelte, bildeten sich links und rechts auf ihren Wangen zwei entzückende Grübchen. Ihr Alter schätzte er auf Mitte, vielleicht auch Ende 20.

„Kein Vergleich zu Annalena“, war das erste, was er logischerweise feststellte, als er sich genug gesammelt hatte, um eine Gabel mit Rührei zu beladen. Er musste sie ansprechen, sie kennenlernen. Sicher kam sie noch einmal an seinen Tisch, wenn er seinen Cappuccino geleert hatte. Er nahm einen großen Schluck … Es war einfach die Weiblichkeit, die seiner derzeitigen Freundin fehlte, trotz ihres übermächtigen Busens. Irgendwie war er ihrer überdrüssig geworden. Er wollte – oder konnte – es sich nur noch nicht völlig eingestehen.

*

Rund 40 Minuten nach Heiko verließ auch Annalena die Suite. Die Zeit, die Heiko morgens mit Duschen, Zähneputzen und Ankleiden zubrachte, benötigte sie allein für ihr Make-up. Heute hatte sie es richtig krachen lassen: Ihr schwarzer Lidschatten stand im krassen Gegensatz zum bonbonrosa Lippenstift, den sie dick aufgetragen hatte. Schwer klimperten ihre getuschten Wimpern. Ihre Wangen wurden von Rouge betont, farblich passend zur Lippenfarbe. Mit dieser Kriegsbemalung und einem kleinen Schwarzen von Dolce und Gabbana, eingehüllt in eine Wolke von Dior, betrat sie mit gereckter Brust den Aufzug, in dem gerade auch Manfred und seine beiden Brüder dem Frühstücksraum entgegenschwebten; nach ihrer Morgenbesprechung mit Dieter hatten sie sich einen Kaffee mehr als verdient.

Karl konnte es nicht lassen, Manfred mit einem leichten Rempler und einem Zucken der linken Augenbraue auf die Erscheinung namens Annalena Sturm aufmerksam zu machen. Sie hatten ja gerade über das Finanzberaterpaar gesprochen. Doch zum einen verstand Manfred den finanziellen Hintergrund des Ellbogenstoßes nicht und zum anderen brauchte er keine besonderen Hinweise: Die Frau war der Hammer. Fand jedenfalls Manfred. Ein Sinnbild der Stärke. Die konnte zupacken, das sah man. Und die feminine Seite kam in seinen Augen auch nicht zu kurz. Diese Lippen …

Die Türen schlossen sich und die Aufzugskabine verwandelte sich in ein Meer von Parfüm.

Alle drei Männer, besonders Manfred, mussten einfach auf den dominanten Busen starren, der das Zentrum des engen Raums zu sein schien. Keiner sagte ein Wort.

Endlich, bevor der Aufzug im obersten Stockwerk ankam, nahm Manfred seinen ganz Mut zusammen und sprach die Frau an: „Ähem … Sie sind Gast in unserem Haus, Frau …?“

„Sturm“, wurde er von Annalena nicht gerade freundlich belehrt. Sie besah ihn sich flüchtig. „Und das geht Sie etwas an, weil …?“

Der Aufzug hielt.

„Entschuldigung, Frau Sturm. Ich bin Manfred Kolb, der Mitinhaber und General Manager des Hotels. Meine Brüder Karl und Günther“, stellte er die beiden anderen vor, während sie aus dem Aufzug traten. „Ich hoffe, Ihnen gefällt Ihr Aufenthalt bei uns?“

„Oh!“ Bei den Worten „Inhaber“ und „General Manager“ horchte Annalena auf. „Ja, danke, die Siegfried-Suite gefällt mir recht gut. Auch wenn die Badewanne etwas größer sein könnte.“

„Manfred – wir gehen dann schon mal. Bis später“, unterbrach Günther grinsend das Geplänkel und die Zwillinge verdünnisierten sich.

„Sagen Sie, Frau Sturm“, nahm Manfred den Faden wieder auf und führte Annalena zu einer kleinen Nische vor dem Frühstückssaal, „hatten Sie schon die Gelegenheit, unseren Wellnessbereich auszuprobieren? Ganz neu gestaltet, mit Zirbensauna, ein Traum.“

Annalena musterte ihr Gegenüber noch einmal genauer: Der Hotelmanager war ein großer, stattlicher Mann, gut gekleidet, ganz Geschäftsmann. Ein komplett anderer Typ als Heiko, der im Anzug immer aussah, als freue er sich schon darauf, wieder in die bequeme Jeans schlüpfen zu können. Gute Manieren hatte dieser Manfred Kolb auch. Nicht unsympathisch. Eher das Gegenteil, mit seinen leicht angegrauten Schläfen. „Zirbensauna, soso …“

Manfred zwinkerte. „Ich könnte für Sie auch einen privaten Besuch arrangieren …“

Annalena spähte in den Frühstücksraum hinüber. Ah ja, da hinten saß Heiko und schob sich gerade den letzten Bissen Toastbrot in den Mund. „Herr Kolb –“

„Manfred, bitte.“

„Manfred“, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Hotelchef zu, „wenn dieser private Saunabesuch auch Ihre Gesellschaft miteinschließt, muss ich Ihnen sagen, dass ich nicht allein in der Siegfried-Suite wohne.“

Manfreds Lächeln fror ein.

„Wenn Sie Ihr Anmeldeformular checken, werden Sie feststellen, dass die Suite auf den Namen Heiko Springer läuft. Mein Partner.“

Auf Manfreds Gesicht spiegelten sich zwei gegensätzliche Emotionen: vage Enttäuschung und ein freudiger Aha-Moment. „Entschuldigen Sie, Frau Sturm … ich wollte nicht … Ihnen nicht zu nahe treten. Hoffentlich habe ich Sie nicht beleidigt? – Aber sagen Sie, Ihr Begleiter, Heiko Springer … wenn ich mich richtig erinnere, hat er sich mit Finanzberater bei uns angemeldet.“

Annalena nickte knapp.

„Dann nutze ich vielleicht die Chance … Frau Sturm, da möchte ich ganz unverblümt nachfragen … wie soll ich mich ausdrücken … ob wir vom Hotel Richard Wagner vielleicht auch seine Dienste in Anspruch nehmen könnten? Unverbindlich natürlich. Ich meine, wenn es sich lohnt. Für beide Seiten natürlich. Ich meine, es soll sein Schaden nicht sein.“

Manfred fiel auf, dass er faselte, und er riss sich zusammen. „Bislang haben wir uns mit dem Thema Investment noch nicht auseinandergesetzt und wenn man schon einmal einen Experten im Haus hat, dachte ich, könnte man die Gelegenheit beim Schopfe packen. Für eine erste Beratung, gern in ungezwungenem Rahmen. Sie sind natürlich auch herzlich dazu eingeladen: Was würden Sie von einem gemeinsamen Abendessen halten? Zum Kennenlernen und Erläutern der Situation? Wann immer Sie und Herr Springer Zeit haben.“

Annalena hatte kaum zugehört, ihr Blick war auf den Frühstückssaal fixiert. Denn Heiko, der sein Frühstück beendet hatte, schäkerte inzwischen mit einer ihr unbekannten jungen, äußerst attraktiven Blondine. Die beiden standen mitten im Raum und waren nicht zu übersehen. Heiko widmete ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Beide lachten herzlich und sie berührte ihn sanft am Arm.

„Frau Sturm?“, fragte Manfred ungeduldig.

„Ja?“ Annalena fuhr herum. „Wann Heiko Zeit hat? Das können Sie ihn gleich selber fragen. Er steht dort drüben – mit der hübschen, jungen Frau. Die mit den blonden Haaren.“ Sie deutete mit einem manikürten Finger hinüber.

„Ach, die? Laila. Das ist unsere jüngere Schwester. Sie hilft hier ab und zu aus.“ Manfred lachte. „Das trifft sich gut. Die beiden scheinen sich ja gut zu verstehen.“

Annalena warf noch einen giftigen Blick in Richtung des fröhlichen Heikos mit seiner neuen blonden Bekanntschaft, dann nahm sie Manfred ins Visier. Ihre Augen blitzten. „Herr Kolb – Manfred, ich glaube, ich möchte doch auf Ihr Angebot des privaten Saunabesuchs zurückkommen … und bitte, nennen Sie mich Annalena.“