Auschwitz vor Gericht

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Das Amtsgericht Stuttgart erließ auf Antrag der StA vom 1. Oktober 195850 am Tag darauf Haftbefehl51 gegen Boger. Den zeugenschaftlichen Angaben von Scheidel zufolge war Boger dringend verdächtig, in Auschwitz aus Mordlust einen Menschen getötet zu haben. Der Haftbefehl wurde am 8. Oktober 1958 an Bogers Arbeitsplatz (Ernst Heinkel AG, Zuffenhausen) vollstreckt.

In einem an Langbein persönlich gerichteten Schreiben52 informierte Schabel den Generalsekretär des IAK über die Verhaftung Bogers und bat darum, »die StA bei der Beschaffung von geeigneten Beweismitteln weiter zu unterstützen«. Insbesondere die »Benennung von weiteren Zeugen strafbarer Handlungen Bogers« erschien der Strafverfolgungsbehörde »zunächst [...] nützlich«. Der Behördenleiter schloss seinen Brief mit der Versicherung, »dass die Maßnahmen getroffen werden, die der Bedeutung des Verfahrens entsprechen«. Die »Genugtuung« des IAK über die Verhaftung Bogers brachte Langbein53 umgehend zum Ausdruck und teilte Schabel mit, am 4. November 1958 abermals in der Behörde vorsprechen zu wollen.

Die Unterredung zwischen Schabel, dem Ersten Staatsanwalt Johannes Ferber (Leiter der Abteilung 1 der StA b. LG Stuttgart) und Langbein fand an dem genannten Tag statt. Der von Ferber am Tag darauf angefertigte Vermerk über die eineinhalbstündige Besprechung gibt Auskunft über die Schwierigkeiten, vor die sich die bundesdeutsche Justiz bei der Ahndung der NS-Verbrechen gestellt sah. Um ausreichende Beweise gegen Boger erbringen zu können, erwies sich die Vernehmung von »im Auslande wohnhafter Zeugen« als notwendig. Die erforderliche »Inanspruchnahme des Rechtshilfeweges« erschien den Ermittlern jedoch sehr zeitaufwändig und schwierig, sofern Rechtshilfeersuchen in den Augen der Justiz mit Blick auf osteuropäische Staaten politisch »überhaupt gangbar«54 waren. Bemerkenswert ist die von der StA gegenüber Langbein aufgestellte Behauptung, der Fall Boger sei »seit der ersten Anzeigeerstattung [...] zügig« bearbeitet worden. Hervorzuheben ist die nunmehr ausdrücklich bekundete Absicht der Ermittler, das nunmehr eingeleitete »Verfahren nach Möglichkeit auch auf alle anderen Angehörigen des SS-Wachpersonals des Lagers Auschwitz auszudehnen«.55 Die Erfahrungen, die die Stuttgarter Strafverfolgungsbehörde im Rahmen des Ulmer Einsatzkommando-Prozesses gemacht hatte, kamen hier zum Tragen.

Zur Überraschung der Ermittlungsbehörde hielt Langbein am Tag nach dem ausführlichen Gespräch, in dem er u.a. darum gebeten worden war, »mit Bekanntgaben an die Presse in diesem Verfahren äußerst zurückhaltend zu sein«, in Stuttgart eine Pressekonferenz56 ab, auf der er Vorwürfe gegen die StA erhob. Die Strafverfolgungsbehörde, sekundiert von Generalstaatsanwalt Erich Nellmann, sah sich veranlasst, ihrerseits auf einer Pressekonferenz (6. November 1958) auf die von Langbein vorgebrachte Kritik zu reagieren. In der Pressemitteilung57 bleibt freilich unerwähnt, dass Adolf Rögner in seinem Schreiben vom 1. März 1958 die Ermittler auf das IAK und den Zentralrat der Juden verwiesen hatte und dass mit ihm erst zwei Monate nach Eingang seiner Anzeige eine Vernehmung durchgeführt worden war.

Boger wurde am 13. und 14. Oktober 195858 durch die StA Stuttgart vernommen. Aus der nur sechsseitigen Vernehmungsniederschrift ist nicht ersichtlich, inwieweit die Strafverfolgungsbehörde die bislang vorliegenden Ermittlungsergebnisse zum Gegenstand der Vernehmung gemacht hatte.

2. Intermezzo in Ludwigsburg

Das bei der StA Stuttgart anhängige Ermittlungsverfahren gegen Boger führte die gerade eingerichtete Zentrale Stelle ab Dezember 1958 parallel zu den Ermittlungen der Stuttgarter Strafverfolgungsbehörde weiter. Außer gegen Boger und die von Rögner genannten Stark, Broad und Dylewski wurde das Ludwigsburger Vorermittlungsverfahren (2 AR-Z 37/58) auf weitere 15 Angehörige der Politischen Abteilung von Auschwitz59 ausgedehnt. Ende April 1959 wurden Hans Stark, Pery Broad und Klaus Dylewski in Untersuchungshaft genommen. Das Amtsgericht Stuttgart hatte auf Antrag der Stuttgarter StA die Haftbefehle erlassen.

3. Fritz Bauer tritt auf den Plan

Thomas Gnielka (1928 – 1965), Korrespondent der Frankfurter Rundschau in Wiesbaden, übersandte mit Schreiben vom 15. Januar 195960 an den Leiter der StA bei dem Oberlandesgericht (fortan: OLG) Frankfurt am Main (fortan: FFM), Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, Dokumente, die für Hessens obersten Strafverfolger61 willkommener Anlass waren, beim BGH gemäß § 13a StPO die Frage der Zuständigkeit hinsichtlich des Komplexes Auschwitz entscheiden zu lassen. Gnielka hatte von dem Holocaust-Überlebenden Emil Wulkan (1900 – 1961) Unterlagen erhalten, die dieser nach eigenen Angaben62 im Mai 1945 in Breslau bekommen hatte. In den sieben Blatt umfassenden Dokumenten aus dem Jahre 194263 kamen die Namen von angeblich auf der Flucht erschossenen Häftlingen sowie 37 Namen von SS-Männern vor, die an den Erschießungen beteiligt waren. Unter anderem fand sich im Schreiben der Kommandantur vom 15. August 1942 der Name des späteren Angeklagten Stefan Baretzki. Gegen die SS-Leute waren pro forma Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, die sodann formularmäßig vom Breslauer SS- und Polizeigericht eingestellt wurden. In den Schreiben bat die Kommandantur von Auschwitz um die »Einstellung der Ermittlungsverfahren« gegen die SS-Schützen, »da die Posten gemäß ihren Dienstanweisungen und nicht rechtswidrig«64 gehandelt hätten sowie um die Freigabe der Leichen zur »Feuerbestattung«. Die Tötung der Häftlinge wurde mit dem Schein der Legalität versehen.

Bauers Mitarbeiter, Erster Staatsanwalt Wilhelm Metzner (*1909), reiste am 20. Januar 1959 nach Ludwigsburg und überbrachte der Zentralen Stelle Kopien des Schreibens Gnielkas und der »Breslauer Dokumente«. Mit Schreiben vom 29. Januar 1959 an Bauer bestätigte der Leiter der Ludwigsburger Einrichtung, OStA Erwin Schüle, die Übernahme des »Verfahrens wegen Erschießungen von Häftlingen ›auf der Flucht‹«65. Kopien der genannten Schriftstücke sowie ein »Verzeichnis vom 4.9.1958 betr. SS-Leute, die in Auschwitz Dienst gemacht hatten«66, leitete Bauer67 mit Schreiben vom 15. Februar 1959 auch dem Generalbundesanwalt »mit der Anregung« zu, »eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs nach § 13a StPO herbeizuführen«.

Der Umstand, dass Bauer die bereits laufenden Ermittlungen in Sachen Auschwitz der Zentralen Stelle nicht überließ, vielmehr ein Verfahren durch die StA beim Landgericht (fortan: LG) FFM anstrebte, ist bemerkenswert. Bauer wollte offensichtlich nicht abwarten, bis durch die Vorermittlungen in Ludwigsburg die Sache reif für die Abgabe an eine zuständige StA ist. Er strebte an, das Verfahren von Beginn an in Frankfurt am Main durchführen zu lassen. In einem Schreiben vom 27. August 1959 an Hermann Langbein führte er aus: »Ich kann Ihnen und dem Internationalen Auschwitz-Komitee nur nachdrücklich versichern, dass es der durch keinerlei Vorbehalte irgendwelcher Art eingeschränkte Wunsch der Frankfurter Staatsanwaltschaft ist, endlich den Komplex Auschwitz ohne Ansehen der von ihm betroffenen Personen aufzuklären und anzuklagen.«68

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (fortan: BGH) in Karlsruhe beschloss nach Anhörung des Generalbundesanwalts in der Sitzung vom 17. April 1959 die Untersuchung und Entscheidung in der Strafsache gegen Beyer69 u.a. wegen Mordes u.a. gemäß § 13a StPO (Gerichtsstandsbestimmung)70 dem LG FFM zu übertragen (2 ARs 60/59). Aufgeführt sind in dem Beschluss 94 »frühere Angehörige der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz«, darunter die späteren Angeklagten Richard Baer, Franz Hofmann, Klaus Dylewski, Pery Broad, Willy Frank, Victor Capesius, Josef Klehr, Emil Hantl, Gerhard Neubert, Herbert Scherpe, Hans Nierzwicki, Oswald Kaduk, Hans Stark und Stefan Baretzki. Neben den 37 in den »Breslauer Dokumenten« aufgeführten »SS-Schützen« werden in dem BGH-Beschluss weitere 57 SS-Angehörige genannt, die in dem Verzeichnis vom 4. September 1958 aufgezählt worden waren.71 Durch den Beschluss des BGH war der Gerichtsstand beim LG FFM begründet, das Verfahren somit bei der StA des Frankfurter Landgerichts anhängig.

Bei der ihm unterstellten Behörde stieß Bauers Vorhaben auf Ablehnung. Sowohl der Leiter der StA FFM, OStA Heinz Wolf (1908 – 1984), als auch der Leiter der Abt. Politische Strafsachen, Hanns Großmann (1912 – 1999), waren der Auffassung, dass das in Stuttgart anhängige Verfahren auf die hinzugekommenen Beschuldigten ausgedehnt und trotz des BGH-Beschlusses das Verfahren weiterhin in Stuttgart durchgeführt werden sollte.72

Die StA Stuttgart gab nach dem BGH-Beschluss ihr Verfahren gegen Boger u.a. mit Verfügung vom 26. Mai 195973 sowie die Zentrale Stelle ihre Vorermittlungsverfahren gegen Angehörige der Politischen Abteilung von Auschwitz und wegen Erschießungen von Häftlingen »auf der Flucht« mit Schreiben vom 30. Juni 195974 nach Frankfurt am Main ab. »Im Sommer«75 1959 rief Bauer Staatsanwalt Georg Friedrich (Fritz) Vogel (1926 – 2007) und Gerichtsassessor Joachim Kügler (1926 – 2012) zu sich und übertrug den jungen Juristen die Sachbearbeitung des Auschwitz-Komplexes. Das Ermittlungsverfahren gegen Beyer u.a. (4 Js 444/59) der StA b. LG FFM war somit eingeleitet. Kügler zufolge lag Bauer viel daran, Juristen mit der Aufgabe zu betrauen, die nicht in die Verbrechen des NS-Staates verstrickt waren. Obwohl für das nunmehr in Frankfurt am Main anhängige Ermittlungsverfahren gegen 94 Beschuldigte laut Generalakten76 drei Staatsanwälte und fünf Schreibkräfte hätten abgestellt werden sollen, mussten zwei Staatsanwälte und nur eine Schreibkraft das Ermittlungsverfahren durchführen.

 

Vogel und Kügler reisten Ende Juni 1959 nach Ludwigsburg und studierten in der Zentralen Stelle die ihnen vorgelegten Akten der von Ludwigsburg eingeleiteten Auschwitz-Verfahren. Bereits am 23. Juni 1959 hatte bei den Frankfurter Staatsanwälten Langbein vorgesprochen und seine Mitarbeit angeboten. Auch in Ludwigsburg traf er mit Vogel und Kügler zusammen. Obgleich sich die Ermittlungen äußerst schwierig gestalteten und Kügler zufolge auf die Polizei »kein Verlass«77 war, gelang es den beiden Staatsanwälten noch im Jahr 1959 Heinrich Bischoff (21.7.1959)78, Oswald Kaduk (21.7.1959) und Victor Capesius (4.12.1959) verhaften zu lassen. 1960 erfolgten die Verhaftungen von Stefan Baretzki (12.4.1960), Alois Staller (13.4.1960), Hans Nierzwicki (16.9.1960), Josef Klehr (17.9.1960), Robert Mulka (8.11.1960), Kurt Uhlenbroock (14.11.1960), Emil Bednarek (25.11.1960) und Richard Baer (20.12.1960), 1961 die Inhaftnahme von Emil Hantl (26.5.1961), Arthur Breitwieser (9.6.1961), Jakob Fries (12.6.1961) und Herbert Scherpe (15.8.1961).79

Eine von Kriminalbeamten des Landeskriminalamtes Hessen gebildete Sonderkommission, der Kriminalobermeister Heinrich Sauerwein und Kriminalmeister Ihring angehörten, unterstützten als »Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft«80 die Tätigkeit der Ermittler. Die Strafverfolgungsbehörde erstellte im Januar 1960 eine Beschuldigtenliste81, die im Februar 1960 von Langbein82 ergänzt wurde. Schwierig war nicht nur die Ermittlung des Aufenthalts der Beschuldigten, äußerst mühsam gestaltete sich auch die Herbeischaffung von Beweismitteln. Neben Langbein83 waren das Institute of Documentation in Israel for the Investigation of Nazi War Crimes/Haifa, Yad Vashem/Jerusalem, der World Jewish Congress/New York sowie Rechtsanwalt (fortan: RA) Henry Ormond (1901 – 1973)84 hilfreich bei der Suche nach Zeugen. Die StA erstellte einen Fragebogen85, den sie in der Erwartung an Überlebende von Auschwitz versandte, die zu Beginn des Verfahrens nicht eben einfache Beweissituation durch die Herbeischaffung von verwertbaren Zeugenaussagen zu verbessern.

Ungeachtet aller regierungsamtlichen Berührungsängste und aller ungeschriebenen Gesetze des Kalten Krieges knüpften die Frankfurter Staatsanwälte Kontakte nach Polen. Im August 1960 (12. – 29.8.1960) reisten sie nach Warschau und an den Tatort Auschwitz.86 Eine Dienstreise in die Volksrepublik Polen, mit der die Bundesrepublik Deutschland keine diplomatischen Beziehungen hatte, war ein ungewöhnliches Unterfangen. Allein die Unterstützung durch die hessische Landesregierung machten die Reise möglich. Als überaus wichtig und hilfsbereit erwies sich das Mitglied der Hauptkommission zur Untersuchung der Nazi-Verbrechen, Jan Sehn (1909 – 1965). Mit Hilfe von Sehn (Direktor des Instytutu Ekspertyz Sądowych w Krakowie)87 gelang es den Staatsanwälten, wichtige Urkunden aus den Archiven der Hauptkommission und des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau zu erhalten, die sowohl für die Bewertung der den Beschuldigten zur Last gelegten Tatbeiträge als auch für die Sachkenntnis der Ermittler grundlegend waren.

Wie schwierig es war, polnische Auschwitz-Überlebende zum Zweck der zeugenschaftlichen Einvernahme nach Frankfurt am Main einzuladen, veranschaulicht der bürokratische Weg, den die Ermittler zu gehen hatten. Das Bundesministerium des Innern bat das Auswärtige Amt, beim in Warschau ansässigen Travel Permit Office for Germany der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika einen Einreisesichtvermerk für einen Zeugen zu beantragen.

4. Ein engagierter Untersuchungsrichter

Nach zwei Jahren Ermittlungsarbeit stellte die Strafverfolgungsbehörde am 12. Juli 1961 beim LG FFM Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung.88 Der 168 Seiten umfassende Antrag enthält einen historischen Teil, in dem auf der Grundlage des damaligen Forschungsstands89 unter anderem die »Entwicklung der Judenverfolgung«, die »Organisation und Aufgabe der SS«, die »Konzentrationslager«, die »Durchführung des Vernichtungsprogramms« und die Geschichte des »Konzentrationslagers Auschwitz« dargelegt werden. In Übereinstimmung mit der herrschenden Rechtsprechung betrachtete die StA Hitler, Göring, Himmler und Heydrich als Haupttäter, die Beschuldigten als Mittäter oder Gehilfen, insofern sie sich »an der Vollstreckung eines einheitlichen Vernichtungsprogramms beteiligt« hätten, »Teil der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz«90 gewesen seien.

Angeschuldigt wurden: 1. Richard Baer, 2. Robert Mulka, 3. Victor Capesius, 4. Kurt Uhlenbroock, 5. Willy Frank, 6. Willi Schatz, 7. Franz Hofmann, 8. Oswald Kaduk, 9. Stefan Baretzki, 10. Johann Schoberth, 11. Bernhard Rakers, 12. Heinrich Bischoff, 13. Jakob Fries, 14. Wilhelm Boger, 15. Hans Stark, 16. Pery Broad, 17. Klaus Dylewski, 18. Max Lustig, 19. Josef Klehr, 20. Hans Nierzwicki, 21. Emil Hantl, 22. Arthur Breitwieser, 23. Emil Bednarek, 24. Alois Staller, »durch mehrere selbständige Handlungen, teils allein, teils gemeinschaftlich mit anderen, aus Mordlust und sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und grausam sowie teilweise mit gemeingefährlichen Mitteln – für die Zeit vor dem 4.9.1941 auch vorsätzlich und mit Überlegung – Menschen getötet zu haben oder dies versucht zu haben oder hierzu durch Rat und Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben«91, mithin Verbrechen nach §§ 211 aF u. nF92, 43 aF (Versuch), 47 aF (Mittäterschaft), 49 aF (Beihilfe), 74 aF (Realkonkurrenz, Tatmehrheit) StGB begangen zu haben.93 Der Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung führt dann die konkreten Tatvorwürfe gegen die Angeschuldigten im Einzelnen auf. Wichtig ist hervorzuheben, dass die Anklagebehörde sowohl von der Mitwirkung der Angeschuldigten an einem »einheitlichen Vernichtungsprogramm« und ihrer Beteiligung bzw. Mitwirkung an der in Auschwitz errichteten »Vernichtungsmaschinerie« spricht, als auch von dem Erfordernis ausgeht, den Angeschuldigten konkrete Einzeltaten zuzurechnen.

1. Richard Baer (*1911), SS-Sturmbannführer, Kommandant von Auschwitz I (Stammlager) in der Zeit von Mitte Mai 1944 bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945, hat Befehle zur Tötung einer Vielzahl von Menschen, insbesondere von Juden aus Ungarn, erteilt;

2. Robert Mulka (*1895), SS-Hauptsturmführer, Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß von Anfang 1942 bis März 1943, hat den Befehl zum Transport des Gases Zyklon B nach Auschwitz und zur Verbringung von Deportierten zu den Gaskammern gegeben, hat sich weiterhin bei der »Verwirklichung des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms [...] an den auf die Tötung von Häftlingen gerichteten Maßnahmen beteiligt«94;

3. Victor Capesius (*1907), SS-Sturmbannführer, Leiter der SS-Apotheke in der Zeit von Ende 1943 bis Ende 1944, hat Selektionen auf der Rampe durchgeführt und überwacht, zusammen mit dem SS-Arzt Josef Mengele Selektionen im Lager vorgenommen, die Tötungsmittel Zyklon B und Phenol angefordert, verwaltet und ausgefolgt;

4. Kurt Uhlenbroock (*1908), SS-Hauptsturmführer, Lager- und Standortarzt in der Zeit vom 17. August 1942 bis zum 2. Oktober 1942, hat SS-Ärzte zum Rampendienst eingeteilt und Selektionen angeordnet;

5. Willy Frank (*1903), SS-Hauptsturmführer, Leiter der SS-Zahnstation in der Zeit von März 1943 bis August 1944, hat sich während der Vernichtung der ungarischen Juden im Sommer 1944 gemäß Dienstplan auf der Rampe in Birkenau an Selektionen beteiligt;

6. Willi Schatz (*1905), SS-Untersturmführer, SS-Zahnarzt in der Zeit von Frühjahr bis Herbst 1944, hat ebenso wie Frank »Dienst auf der Rampe« verrichtet;

7. Franz Hofmann (*1906), SS-Hauptsturmführer, Schutzhaftlagerführer in Auschwitz I (Stammlager) in der Zeit von Dezember 1942 bis Mai 1944, hat Selektionen auf der Rampe überwacht, Lagerselektionen angeordnet, bei sog. Bunkerentleerungen im Block 11 des Stammlagers inhaftierte Häftlinge zur Erschießung an der »Schwarzen Wand« bestimmt, Einzeltötungen durchgeführt;

8. Oswald Kaduk (*1906), SS-Hauptscharführer, Block- und Rapportführer in der Zeit von 1942 bis Januar 1945, hat Selektionen im Lager durchgeführt und eine Vielzahl von Erhängungen, Erschießungen, Einzeltötungen begangen;

9. Stefan Baretzki (*1919), SS-Rottenführer, Blockführer in Birkenau, hat sich an Selektionen auf der Rampe, an Hinrichtungen und an der Liquidierung des Theresienstädter Familienlagers (BII b, März 1944) beteiligt sowie Einzeltötungen vollzogen;

10. Johann Schoberth (*1922), SS-Unterscharführer, Mitglied der Politischen Abteilung in der Zeit von Mitte 1943 bis Mitte 1944, hat mindestens einmal im Sommer 1944 an einer Selektion mitgewirkt, mindestens einmal sich an einer Vergasungsaktion beteiligt und gemeinschaftlich mit einem Angehörigen der Politischen Abteilung Erschießungen von Häftlingen im Krematorium I (Stammlager) durchgeführt;

11. Bernard Rakers95 (*1905), SS-Hauptscharführer, Kommando- und Rapportführer im Stammlager und in Buna/ Monowitz in der Zeit von Oktober 1942 bis Dezember 1944, hat zwei Häftlinge getötet;

12. Heinrich Bischoff (*1904), SS-Unterscharführer, Blockführer in der Zeit von 1942 bis 1945, hat eine Vielzahl von Einzeltötungen begangen;

13. Jakob Fries (*1913), SS-Oberscharführer, 1. Arbeitsdienstführer in der Zeit von Sommer 1942 bis Anfang 1943, hat sich an Selektionen auf der Rampe beteiligt und Er-schießungen an der »Schwarzen Wand« durchgeführt;

14. Wilhelm Boger (*1906), SS-Oberscharführer, Angehöriger der Politischen Abteilung in der Zeit von 1943 bis 1945, hat sich an Selektionen auf der Rampe und im Zigeunerlager (BIIe) beteiligt, an Aussonderungen von Häftlingen aus Block 11 (Stammlager) mitgewirkt, eine Vielzahl von Erschießungen an der sogenannten Schwarzen Wand durchgeführt, bei Verhören (»verschärfte Vernehmungen«) Häftlinge zu Tode gefoltert;

15. Hans Stark (*1921), SS-Oberscharführer, Mitglied der Politischen Abteilung in der Zeit von Juni bis Dezember 1941 und März bis November 1942, hat an Erschießungen von Häftlingen, an Selektionen auf der »Alten Rampe« und an einer Vergasung im Alten Krematorium (Stammlager) mitgewirkt;

16. Pery Broad (*1921), SS-Rottenführer, Angehöriger der Politischen Abteilung in der Zeit von 1942 bis Januar 1945, hat sich an Selektionen auf der Rampe beteiligt, Häftlinge bei Verhören getötet, Insassen von Block 11 (Stammlager) zur Erschießung an der »Schwarzen Wand« mit ausgewählt;

17. Klaus Dylewski (*1916), SS-Oberscharführer, Ermittlungsbeamter in der Politischen Abteilung in der Zeit von 1941 bis 1944, hat an Selektionen auf der Rampe teilgenommen, Häftlinge aus dem Arrestblock 11 von Auschwitz I zur Liquidation an der »Schwarzen Wand« ausgesondert, Erschießungen selbst durchgeführt;

18. Max Lustig (*1891), SS-Obersturmführer, Chef der Gestapo der Stadt Auschwitz in der Zeit von 1941 bis 1944, hat regelmäßig an »Standgerichtsverhandlungen« gegen sogenannte Polizeihäftlinge in Block 11 des Stammlagers teilgenommen;

19. Josef Klehr (*1904), SS-Oberscharführer, Sanitätsdienstgrad (SDG) und Leiter der sogenannten Desinfektoren in der Zeit von 1941 bis 1944, hat an Selektionen auf der Rampe mitgewirkt, Blockselektionen vorgenommen, als Leiter des Vergasungskommandos (Desinfektoren) Massentötungen in den Gaskammern durchgeführt, eine Vielzahl von Häftlingen durch Phenolinjektionen getötet;

20. Hans Nierzwicki (*1905), SS-Hauptscharführer, Sanitätsdienstgrad in der Zeit von 1942 bis 1944, hat an Selektionen im Häftlingskrankenbau (HKB) mitgewirkt, Häftlinge durch »Abspritzen«, d.h. Injektionen von Phenol ins Herz, getötet;

21. Emil Hantl (*1902), SS-Unterscharführer, Sanitätsdienstgrad in der Zeit von 1943 bis 1944, hat an Selektionen im Krankenbau mitgewirkt und durch Phenolinjektionen Häftlinge getötet;

22. Arthur Breitwieser (*1910), SS-Unterscharführer, Mitglied der Lagerverwaltung und Chef der Häftlingsbekleidungskammer von Mai 1940 bis Januar 1945, hat sich an der ersten Vergasung von Häftlingen Anfang September 194196 in Block 11 (Stammlager) beteiligt;

 

23. Emil Bednarek (*1907), Häftling in Auschwitz seit Juli 1940, Blockältester und Capo der Strafkompanie, hat eine Vielzahl von Häftlingen getötet;

24. Alois Staller (*1905), Häftling in Auschwitz seit August 1940, Blockältester und Capo der Strafkompanie, hat eine Vielzahl von Häftlingen getötet.

Die »Auswahl« der Beschuldigten geschah selbstverständlich nach dem Beweiswert der im Verlauf des Ermittlungsverfahrens erbrachten Zeugenvernehmungen, mithin der vorgebrachten und belegbaren Tatvorwürfe. Die StA verfolgte aber auch das Konzept, »einen Querschnitt durch das Konzentrationslager zu geben, vom Kommandanten bis zum Häftlingskapo«.97 Nur durch eine im Verfahren zu erbringende »Gesamtdarstellung« ließen sich nach Ansicht der Strafverfolgungsbehörde die »Funktion der einzelnen in der Lagerhierarchie«98 und somit das strafrechtliche Gewicht ihrer individuellen Tatbeiträge feststellen. Die Abbildung der gesamten Lagerstruktur durch eine gezielte Auswahl der Beschuldigten gelang der Staatsanwaltschaft freilich nicht. Von den sechs Abteilungen des Lagers war die Politische Abteilung mit vier Angeklagten gut, die Abteilungen Verwaltung und Fürsorge, Schulung und Truppenbetreuung gar nicht vertreten. Auch die wichtige Unterabteilung Arbeitseinsatz fehlte. Trivialerweise setzte sich die Anklagebank im Auschwitz-Prozess nach Maßgabe der Ermittlungsergebnisse, des Vorhandenseins eines hinreichenden Tatverdachts und nicht nach einem vorgegebenen Prozesskonzept zusammen.

Gegen die Einbeziehung von Funktionshäftlingen erhoben polnische Überlebende Einwände. Nach einem Gespräch mit Jan Sehn vermerkte Henry Ormond Anfang März 1962, Sehns »Freunde hätten erhebliche Bedenken«99 geäußert, neben SS-Personal auch Häftlinge anzuklagen.

Die StA übergab dem vom LG FFM beauftragten Untersuchungsrichter Heinz Düx (1924 – 2017) 52 Bände der Hauptakten mit Vernehmungsprotokollen (ca. 600 Vernehmungen), Fragebogen und sonstigen Schriftstücken von rund 800 Zeugen sowie Beiakten und Beweismittel. Mit Verfügung vom 9. August 1961100 eröffnete Landgerichtsrat Düx antragsgemäß die gerichtliche Voruntersuchung, die er am 19. Oktober 1962 (Schließungsverfügung)101 schloss. Die Auswertung der Akten zeigt, dass Düx ab Sommer 1961 bis Oktober 1962 neben den Beschuldigten rund 130 Zeugen, Überlebende und SS-Angehörige, vernahm. Weder Mittel noch Zeit sparte der engagierte Untersuchungsrichter, gegen die beschuldigten SS-Männer sowie gegen Häftlinge, die sich als Handlanger der SS schuldig gemacht hatten, Beweise zu ermitteln.

Die Zahl der Beschuldigten war durch die gerichtliche Voruntersuchung von ursprünglich 24 durch Verbindungs- bzw. Ausdehnungsanträge auf 28102, der Bestand der Hauptakten um 22 Bände angewachsen. Mit dem Verfahren verbunden wurde die Voruntersuchung gegen:

25. Herbert Scherpe103 (*1907), SS-Oberscharführer, Sanitätsdienstgrad in der Zeit von 1942 bis 1943, beschuldigt der Teilnahme an Selektionen und der Tötung von Häftlingen durch Phenoleinspritzungen;

26. Franz Lucas104 (*1911), SS-Obersturmführer, Lager- und Truppenarzt in der Zeit von Frühjahr bis Sommer 1944, beschuldigt der Beteiligung an Selektionen auf der Rampe in Birkenau während der Transporte aus Ungarn;

27. Karl Höcker105 (*1911), SS-Obersturmführer, Adjutant des Lagerkommandanten Richard Baer in der Zeit von Mai 1944 bis Januar 1945, beschuldigt der Mitwirkung am in Auschwitz durchgeführten Vernichtungsprogramm;

28. Bruno Schlage106 (*1903), SS-Oberscharführer, Arrestaufseher in Block 11 des Stammlagers in der Zeit von Ende 1941 bis zur Auflösung des Lagers, beschuldigt der Beteiligung an Aussonderungen und Erschießungen von Häftlingen von Block 11 (Stammlager);

29. Gerhard Neubert107 (*1909), SS-Unterscharführer, Sanitätsdienstgrad in der Zeit von 1943 bis Ende 1944, beschuldigt der Mitwirkung an Selektionen im Häftlingskrankenbau des Lagers Buna/Monowitz.

Hilfreich für den Untersuchungsrichter erwiesen sich neben Hermann Langbein108 die Untersuchungsstelle für NS-Gewaltverbrechen beim Landesstab der Polizei/Tel Aviv sowie das Landesgericht für Strafsachen/Wien, die im Rahmen von Rechtshilfeersuchen kommissarische Vernehmungen durchführten. Düx reiste auch in die DDR und erhielt vom dortigen Generalstaatsanwalt Josef Streit (1911 – 1987) durch die Übergabe von Beweismitteln wichtige Unterstützung.109

Am LG FFM stieß der Untersuchungsrichter auf »Widerstände«, das Verfahren in der Weise durchzuführen, wie es die StA beabsichtigte. Düx zufolge »war es [...] manchen Personen [...] ein Dorn im Auge, dass dieser Gesamtkomplex Auschwitz jetzt sozusagen im Rahmen einer Generalbereinigung vor die Justiz gebracht werden sollte. Ich entsinne mich noch, dass einige Personen aus der Justiz an mich herantraten, die an und für sich mit dem Komplex Auschwitz zuständigkeitshalber gar nichts zu tun hatten [...] und mich dazu zu bewegen versuchten, den Auschwitz-Prozess in viele kleine Prozesse zu zerlegen. Ich habe mich solchen Bestrebungen gegenüber aber ablehnend verhalten, denn das wäre praktisch mit einer Versandung des ganzen Komplexes gleichbedeutend gewesen. Also, es hatte nur Sinn, die Massentötungen während des NS-Regimes in dieser komplexen Form vor die Justiz zu bringen.«110 Und Düx weiter: »Es gab [...] relativ potente Kräfte, die danach trachteten, den Prozess zu verhindern oder zumindest in einer vereinfachenden Form stattfinden zu lassen, nämlich in der Form, dass jeweils nur ganz konkrete Dinge zur Sprache kommen sollten und mit möglichst wenig Angeklagten. Wenn man so verfahren wäre, hätte das bedeutet, dass der eigentliche Hintergrund der ganzen Sache gar nicht aufgehellt worden wäre.«111