Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten

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Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten
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Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten

Walter Kranz

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Walter Kranz

ISBN 978-3-8442-5759-5

Über Brüche dachte Bernard noch nie nach. Schon gar nicht, wenn sie sich zwischen zwei Schnitten befinden sollen. Auch heute morgendenkt er nicht darüber nach. Noch nicht! Er sitzt am Frühstückstisch, blättert in der Tageszeitung und hört nebenbei Informationen, die schon am Morgen aus dem Fernsehgerät purzeln. Gelegentlich schaut er gelangweilt auf die Uhr, die die Zeit mehr verhindert, denn verstreichen lässt. Er ist müde und es dauert noch bis zum ersten Termin. Fast bedauert er, den Auftrag angenommen zu haben, Paul Schweyers Biografie zu verfassen.

Wer ist Paul Schweyer? – Wüsste Bernard, was ihn erwartet, Bernard käme nicht auf den Gedanken, die Annahme des Auftrags zu bedauern. Überhaupt nicht, wenn er wüsste, dass er bald mitten drin und von der Vergangenheit überholt sein wird. Dass Brüche in seinem Leben, in Paul Schweyers Leben und im Leben anderer, mehr oder weniger deutlich, sichtbar werden.

Während Bernard die Zeitung zusammenfaltet, berichtet ein TV-Kommentator, dass aktionistische Regierungskritiker gegen das „globale Gipfeltreffen“, scharfe Aktionen angedroht hätten. Die Polizei sei mit Hundertschaften zur Stelle, um die zu erwartenden Randalierer in Schach halten zu können. Es herrsche gegenwärtig gespannte Ruhe. Zwar seien Menschenansammlungen zu sehen, doch deute nichts darauf hin, wo genau sich der „Mob“ zusammenrotten werde, um der Lust an der Randale freien Lauf zu lassen.

Bernard weiss, dass globale Treffen auch mit Paul Schweyer zu tun haben können. Er erinnert sich auch an einen Globalisierungsgegner, der gesagt haben soll, Globalisierung sei ein kapitalistisches Vehikel zur Unterdrückung der Arbeitnehmerschaft. Niemand solle aber glauben, dass sich diese auf lange Sicht unterdrücken lassen werde. Irgendwann werde sich aufgestaute Wut und Aggression explosionsartig entladen und dann werde das schlimmer enden als die Französische Revolution. Das hat was für sich, denkt Bernard.

Hätte Paul Schweyer, Globalisierungsberater der Regierung, Bernards Gedanken geahnt, hätte er ihm dann denSchreibauftrag erteilt? Würde er dann die Abmachung brechen und den Auftrag wieder entziehen?

Bernards Nachdenken wird durch Lärm unterbrochen.

Der erste Schnitt! Dieser Lärm! Das ewig gleichbleibende monotone Geplärr eines Rasenmähers, mit dem die Menschen den Feierabend oder das Wochenende belästigen. Weil sie ihrem Garten einen Bürstenschnitt verpassen wollen. Verpassen müssen, weil die Nachbarn auch mähen, und andere Leute über einen reden könnten, hätte man den eigenen Garten nicht frisiert! Dieser Lärm. Dieser Lärm lähmt Bernard beinahe.

Dabei sollte Bernard sich doch konzentrieren, einarbeiten, vorbereiten, weil er in Kürze im Betrieb sein muss, zum ersten Mal Herrn Direktor Schweyer gegenüber, der irgendwo der Globalisierung, dem Wachstum und den Finanzmärkten das Wort redet.

Jetzt rattert der Mäher an Bernards geöffnetem Fenster vorbei. Der Mähende ist ergriffen von seiner Arbeit. Seine einzige Abwechslung im ruhigen, ruhelosen Auf und Ab ist, sich bücken und einen Stein, einen unscheinbaren, fingerhutgroßen Stein, aufzuheben und in den Kieselsteinweg zu werfen.

Dann geschieht es: der Motor stottert, würgt, stirbt ab.

Es ist wohltuend. Der Lärm ist weg. Bernard könnte sich jetzt konzentrieren, einarbeiten, vorbereiten. Aber irgendetwas lässt ihn nicht konzentrieren. Nicht einarbeiten. Nicht vorbereiten. Irgendetwas zwingt Bernard, dem Mähenden zuzusehen. Ihm zuzuhören. Bernard sieht, wie der Mähenwollende an der Leine zieht. Sieht, wie er in den Motor hinein flucht, weil der nicht anspringen will. Sieht, wie er abermals und wiederholte Male versucht, den Motor anzureißen. Es gelingt ihm nicht.

Irgendetwas zwingt Bernard zu ihm hinaus.

„Geht er nicht mehr?“

„Nein, geht nicht mehr. Bis hierher und nicht weiter. Geht einfach nicht weiter. Warum sollte er auch? Ist bislang Jahre gegangen. Problemlos. Störungsfrei und ohne Wartung! Benzin hinein und ab ging's! Gemäht hat der, sag ich Ihnen! Schauen Sie, schauen Sie genau hin und besehen sie den feinen gleichmäßigen Schnitt. Doch, doch, Sie dürfen ihn befühlen, Ihnen erlaube ich das.“

Wie von Zwang bedrängt, bückt Bernard sich und befühlt mit flacher Hand den als solchen beschriebenen, feinen gleichmäßigen Schnitt.

„Stimmt“, sagt Bernard, wirklich fein und ebenmäßig. - Was fehlt ihm denn?“

Der Mähende weiß keine Antwort. Er hebt die Achseln und schweigt weiter in den Motor. Bernard benimmt sich so, als verstünde er etwas von Rasenmähern. Er kniet nieder, horcht auf Geräusche, die etwas, er weiß selbst nicht was, ausdrücken sollen. Dann hat Bernard es entdeckt:

„Sehen Sie“, sagt er mit triumphierender Stimme, „das Gaskabel. Es ist gebrochen. Sie können den Motor anwerfen, so viel und so lange Sie wollen. Er wird Ihnen absterben. Immer wieder absterben.“

Der Mähende fragt, wie das geschehen konnte. Antwort weiß Bernard ehrlicherweise keine: „Sagten Sie nicht, störungsfrei und ohne Wartung?“

Ein Wort gibt Anlass zum nächsten. So unterhalten sie sich über Rost an Gaskabeln und Rost im Allgemeinen und über die Zerrostung der Welt. Sie reden über gebrochene Gaskabel und wie Brüche überhaupt entstehen. Sie reden über verschiedene Arten von Brüchen. Dabei übertreffen sie sich gegenseitig. Sie starten beim Gaskabelbruch, kommen über Beinbruch, Eingeweidebruch, Schädelbruch, zur geologischen Verwerfung als Bruch, zum Bruch in der Jagd, zu mathematischen Brüchen, bevor sie über Stilbrüche bei Brüchen in der Biografie von Menschen landen. Dabei listen sie nur auf. Ins Detail gehen sie nicht.

Weil sie sich verplaudern, muss Bernard sich beeilen. Noch schnell einen Blick auf Notizblock und Kugelschreiber, Bernard schreibt konsequent nur mit Kugelschreiber, Bleistift oder Filzstift. Ein Notebook mag er nicht mit sich schleppen. Da ist er bereits altmodisch. Dann setzt er sich in den Bus und ab geht's. Hin zu Paul Schweyer.

Auf der Fahrt regt sich etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil Bernard die letzte Gelegenheit zur Konzentration und Einarbeitung vertan hat. Weil er sich mit Rasenmähern und gebrochenen Gaskabeln und unterschiedlichen Brüchen beschäftigt hat, anstatt sich mit der Person Paul Schweyer zu befassen.

Bei Paul Schweyers Betrieb angekommen, bleiben Bernard nur noch zehn Minuten! Zehn Minuten, eine lange und kurze Zeit. Jenachdem. Jetzt sind es nur noch neun Minuten. Für Bernard sind jetzt neun Minuten unendlich kurz. Die angebrochenen zehn Minuten scheinen keine Zeit mehr zu sein.

Der Portier ist auch nicht bestrebt, Bernard die Zeit zu verlängern:

„Ja, Sie werden erwartet, gehen Sie in das Foyer. Herr Schweyers Sekretärin wird Sie dort in Empfang nehmen.“

Bernard geht in das Foyer und sieht sich dort um. Er kann nichts Erinnerungswürdiges entdecken. Oder ist vielleicht jenes Bild würdig in Bernards Erinnerung einen Platz zu finden? Möglich!

Bernard hat sich das Betriebsfoyer anders vorgestellt.

Bernard hat sich auch Chefsekretärinnen anders vorgestellt. Jedenfalls nicht so, wie diese Dame, die der Herr Portier ihm freundlicherweise als „des Direktors Sekretärin“ vorstellt. Sie geht konsequent an Bernards Vorstellungen vorbei.

„Kommen Sie,“ sagt die Sekretärin, „der Herr Direktor ist noch nicht da, ich werde die Angelegenheit mit Ihnen vorbesprechen.“

Ihre Stimme passt auch nicht in Bernards Klischeevorstellung. Sie ist nicht sekretärinnenhaft, wobei er nicht definieren kann, was und wie sekretärinnenhaft denn sein soll. Diese Sekretärin macht Bernard ratlos.

Er ertappt sich, wie er seine Eigenart Menschen anzustarren an ihr wieder einmal erprobt.

Weil Bernard glaubt, ihren Augen ausweichen zu müssen, lenkt er die Augen auf seine Knie. Dort entdeckt er die grünen Flecken, die vom Grasknien beim Rasenmäher herrühren. Bernard schämt sich ihretwegen und er ist sich sicher, dass sein Gesicht rot anläuft. Das ist immer so bei ihm.

„Kommen Sie“, wiederholt die Sekretärin, weil Bernard auf ihre erste Aufforderung nicht reagiert. Er erschrickt und eilt ihr nach. Sie ist schon fast oben, setzt ihren Fuß bereits auf die zweite Treppe. Während sie hinaufgehen, stellt die Sekretärin sich Bernard vor. Ungezwungen. Unprotokollarisch:

„Nennen Sie mich Elisabeth“, sagt sie. Ihren Nachnamen verschweigt sie. - Noch!

Bernard bemerkt, dass die Teppiche auf dem Boden gar nicht teuer und exklusiv sind. Man hört halt so viel davon!

Auch Elisabeths Büro ist schlicht gehalten. Mit demselben Teppich wie der Gang ausgelegt: graublauer Nadelfilz. Die Wände sind ab halber Höhe gläsern. War vermutlich früher einmal ein Großraumbüro. Eine Weltkarte, auf der Fähnchen in verschiedenen Farben das Globalisierungsbestreben manifestieren, verhindert den Blick in das Nachbarbüro, woher Schreibmaschinengeklapper und eine lispelnde Mädchenstimme erkennbar sind.

„Setzen Sie sich“, sagt Elisabeth und Bernard gehorcht.

„Der Herr Direktor ist leider schon wieder unterwegs. Er musste zu einem wichtigen Arbeitsessen mit der Delegation für den Globalisierungsgipfel. Aber er hat angerufen und gesagt, dass er sich freut, Sie baldmöglichst zu begrüßen. Seine Biografie, seine Memoiren seien ihm wichtig. Sehr wichtig.“

Aus einem der Stahlschränke kramt Elisabeth einen Akt hervor, den sie Bernard hinlegt und dabei bedeutungsvoll mit dem Kopf nickt. Bernard wird schon wieder bang.

„Das sind seine Personalien. Seine Aufzeichnungen. Seine Notizen. Er hat mich gebeten, sie Ihnen auszuhändigen, damit Sie sich ein grobes Raster zurechtlegen können bis er kommt.“

 

Bernard öffnet den Akt und schlägt den Deckel um. Aber er seine Gedanken schweifen ab. Bernard ist gleich konzentrationslos wie zu Hause, als der Rasenmäher seine Gedanken störte. Bernard überlegt, wie er in kurzer Zeit die ihm fremde Personalie studieren, wie er sich ein Bild machen, ein Raster zurechtlegen soll.

Elisabeth muss Bernards Gedanken lesen können. Jedenfalls sagt sie: „Es gäbe da noch ein anderes Informationssystem, aber ohne Erlaubnis des Herrn Direktors darf da niemand ran. Wir werden warten müssen bis er kommt.“

Bernard schöpft Hoffnung. Wenn es je etwas gegeben hat, das ihm Mut machte, dann war es die Aussicht auf einfachem Weg ans Ziel zu kommen. Auf geraden Weg. Auf direktem Weg.

Anstatt sich die Mühe zu machen und in den Papieren zu wühlen und zu grübeln schielt Bernard nach Elisabeth. Ihr modisches Kleid scheint mit der Weltkarte abgestimmt zu sein. Die halblangen Haare trägt sie offen, nur mit einem, zum Blau der Jacke passenden Band leicht nach hinten gezwungen. Man kann nicht sagen, dass sie schmal oder schmächtig sei. Nein, kann man nicht sagen. Sie ist wohlproportioniert. Aber auf keinen Fall dick. Auch nicht dicklich.

Das Telefon surrt. Elisabeth hebt ab, wartet einen Augenblick, neigt ihren Kopf zur Seite, so dass ihr braunes Haar nach vorne fällt, greift nach einem Zettel, biegt dann mit schlanker Hand ab, fährt zum Telefon und drückt einen der vielen Knöpfe, deren Handhabung Bernard ein Tohuwabohu ist. Plötzlich weicht die Röte aus ihren Wangen. Blaue Äderchen werden sichtbar. Heben sich auf weißer Haut deutlich ab. Bernhard sieht ihre Stirn Schweißperlen gebären.

„Er wird nicht kommen“, sagt Elisabeth, nachdem sie den Hörer aufgelegt hat.

„Wird lange Zeit nicht kommen.“ Das zweite Mal sagt sie es tonlos und abgehackt.

„Hat einen Unfall gehabt. - Kommen Sie. Kommen Sie.“

Weil Bernard nicht reagiert, fasst Elisabeth seinen Unterarm und zieht ihn mit sich: „Kommen Sie schnell. Wir müssen sofort hin.“

Sie zieht Bernard wie ein kleines Kind hinter sich her. Vorbei an den ockerfarbenen Bildern. Vorbei an dem Portier, der ihnen etwas Unverständliches nachruft. Aber Elisabeth hört nicht hin, hört einfach nicht hin, will nur noch weg vom Betrieb, hin zur Unfallstelle.

Weil Elisabeth aufgeregt ist, schlägt Bernard vor, dass er fahre. Elisabeth winkt ab, kaum sichtbar, aber sie winkt ab, setzt sich hinter das Lenkrad ihres Autos, bittet Bernard sich anzuschnallen und fährt dann los. Bernard spürt, die Fahrerin möchte am Ziel sein, bevor sie gestartet ist.

Elisabeths Fahrweise wirkt verkrampft. Bernard hört nicht gerade das Knirschen, aber er spürt, dass sie die Zähne aufeinander beißt, wenn ihr rechter Fuß aufs Gaspedal drückt.

Elisabeth fährt riskant. Bernard ist sich nicht sicher, dass es ihr bewusst ist. Sie überholt einen Lastwagen und bremst ihn brüsk ab, um nicht auf den davor fahrenden Personenwagen zu knallen. Nach links ausweichen wäre nicht möglich. Auch dort wäre eine Kollision unvermeidlich.

Elisabeth murmelt während des Überholmanövers: „Hat einen Unfall gehabt, Paul. - Und Andreas ist gefahren. - Das wird Schwierigkeiten geben.“

„Ist Paul Ihr Direktor, dessen Biografie ich verfassen soll?“

Elisabeth nickt.

„Und Andreas? Wer ist Andreas?“

„Sein Chauffeur!“

Blaulicht und Martinshorn heulen ihnen entgegen. Elisabeth tritt brüsk aufs Bremspedal. Das Auto kommt quer zur Fahrbahn zum Stehen und lässt dem Krankenwagen fast keine Fahrt.

„Das wird er sein. Da drinnen werden sie liegen, “ murmelt Elisabeth.

Sie lenkt ihren Wagen an den Straßenrand.

„Fahren Sie weiter“, sagt sie und deutet mit dem Zeigefinger auf das Lenkrad. Es ist ausgeschlossen eine Türe zu öffnen. Rechts eine Bruchsteinmauer und links vorfahrende Autos. Eines nach dem andern. Elisabeth und Bernard wechseln die Sitzplätze im Wageninnern. Während Elisabeth über Bernard kriecht, fühlt er ihre Rundungen. Riecht er ihr unaufdringliches Parfum. Wehen ihre Haare in sein Gesicht. Es ist eng in dem Wagen, aber sie schaffen es, die Plätze zu tauschen.

Vorne ist eine Menschenansammlung zu erkennen. Leute lungern herum oder hängen wie Trauben an der rechtsseitigen Böschung. So, als würden Schausteller sich dahinter produzieren. Wäre da nicht die polizeiliche Unfallsicherung, eine nicht zu übersehende, signalrote Unfallvorschau, man könnte tatsächlich vermuten, dass sich hinter dem Menschenauflauf Komödianten darböten.

Es stehen viele Autos am Straßenrand, darum können Elisabeth und Bernard nur weit weg vom Geschehen anhalten. Ein Polizist winkt und deutet, sie sollen weiterfahren. Nach seinen heftigen Bewegungen zu urteilen, ist er ärgerlich. Elisabeth sieht nicht hin. Sieht einfach nicht hin.

Sie nimmt Bernard bei der Hand und zieht ihn weiter. Ein anderer Polizist hält sie auf. Sagt, sie sollen wieder gehen. Zurück. Da gäbe es nichts zu gaffen. Auch da hört Elisabeth nicht hin. Sie geht mit Bernard um den Polizisten herum auf das Wrack des Direktionswagens zu. Bernard spürt wie ihre Hand zu zittern beginnt. Auch ihr Griff wird fester. Er merkt, dass sie Halt sucht.

Elisabeth zieht Bernard langsam, immer einen halben Schritt vor ihm, auf die zerbrochene, zerstückelte Windschutzscheibe zu. Mit der Hand fährt sie über die Metallteile des Wagens und versucht angestrengt, im Wageninnern etwas oder jemand zu erkennen.

Ein verbogenes Lenkrad. Ein aufgesprungenes Handschuhfach. Ein Scheibenwischer auf dem Armaturenumbau. Eine Uhr hängt am violetten Draht auf die Kupplung und baumelt leise hin und her. Dazwischen Glas. Halbauseinandergefaltete Straßenkarten. Löchrige Handschuhe. Bunte Rachenbonbons verstreuten sich über das ganze heillose kaputte Durcheinander.

Elisabeth drückt Bernards Handgelenk noch fester.

„Da klebt Blut. Sehen Sie, da klebt Blut. Ach Gott, ich kann kein Blut sehen. Konnte es nie. Schon als Kind nicht. Mein Gott, da klebt da Blut?“

Elisabeth richtet sich auf und erbleicht. Ihr Mund setzt zu einem Schrei an, der aber nicht heraus will und in den Ansätzen erstarrt. Sie steht da. Die Beine gespreizt. Die Arme gespreizt. Die Finger gespreizt. Den Mund gespreizt. Selbst einige Haare spreizen sich. Alles ist gespreizt und erstarrt. Auch der Schrei will nicht heraus aus ihr. Dieser Schrei, der entkrampfen wollte, verkrampft sich selbst. Er wird zum Kloß, der für einen Menschenhals zu dick ist und nicht durch den Schlund will. Ihr bleiches Gesicht wird rot, dann blau. Wahrscheinlich vergisst sie bald das Atmen. Einer der Umstehenden beobachtet es und ruft nach einem Arzt.

Es ist gut für Elisabeth, dass noch ein Arzt auf der Unfallstelle ist, obwohl der Krankenwagen bereits weggefahren ist.

Elisabeth wird von dem Arzt zum polizeilichen Vernehmungswagen geführt. Es ist ein sonderbares Zusehen wie Elisabeth an der Doktorhand zum Wagen geht. Breitbeinig. Im Spreizschritt. Sich ruckartig bewegend. Nach Art von Marionetten oder Robotern. Hätte sie nicht dieses modischfarbene Kleid an, sondern einen silbern glänzenden Overall, man könnte meinen, Außerirdische seien an dieser Stelle gelandet und wüssten nicht, wie man sich auf Erden bewegt.

Derjenige, der vorhin nach dem Arzt gerufen hat, ist auch Polizist. Polizist in Zivil. Bernard muss ihm glauben, da er sich als solcher ausweist. Er muss ihm glauben, obwohl Bernard sich nicht vorstellen kann, was der zivile Fahnder auf der Unfallstelle soll.

Der Polizist fragt Bernard wer die Frau sei und was sie auf der Unfallstelle wolle. Bernard gibt Auskunft so gut er kann. Dann fragt der Polizist: „Und Sie? Gehören Sie zu ihr?“

Bernard winkt ab: „Nein! Wir gehören nicht zusammen. Nicht so, was man landläufig darunter versteht.“

„Was soll das? Gehören Sie zu ihr oder nicht? Ja oder Nein?“

„Das kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Da gibt es nur ein sowohl als auch. Sie verstehen?“

Bernard merkt, dass der Polizist nicht versteht. Dass es für ihn nur die Kategorie Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß gibt. Jede für sich. Niemals in Kombination. Keine Grautöne.

„Ihren Namen?“ fragt der Polizist und zückt sein Notizblöcklein, um Bernard wie einen Verbrecher oder Verkehrssünder in seine Brustdatei aufzunehmen. Zunächst gedenktt Bernard sich zu verweigern. Da er aber keine Zeit vergeuden will, gibt er die gewünschte Auskunft und ist erstaunt, dass er danach in Ruhe gelassen wird.

Im Unfallauto entdeckt Bernard eine Taschenagenda, die von der Polizei noch nicht beschlagnahmt worden ist. Bernard öffnet das kleine Büchlein, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden. Was, ist eigentlich egal. Nur etwas. Das kleine lederige Buch gehört nicht Paul Schweyer, sondern offensichtlich dessen Frau oder Tochter. Eigentlich, denkt Bernard, hätte ich es wissen müssen, dass diese Art von Taschenagenden von Frauen benützt wird. Oder von Mädchen. Nicht aber von Männern. Das hätte ich eigentlich wissen müssen.

Bernard blättert Seite für Seite um. Er sucht nach Hinweisen. Doch die Blätter nach der ersten Seite, auf welcher die Eigentümerin eingetragen ist, sind keusch. Unbeschrieben. Vermutlich deswegen von der Polizei nicht beschlagnahmt.

Bernard schließt die Agenda und streichelt das weiche Leder. Es scheint echtes Leder zu sein. Jedenfalls riecht Bernard Ledergeruch. Jawohl, frischen Ledergeruch. Obwohl man sagt, es gebe entsprechenden Spray. Dann öffnet er wieder die erste Seite und vergewissert sich. Dort steht: Angelika Schweyer, Froschgrabenstrasse 5.

Bernard stellt weiters fest, dass Flüssigkeit über den Boden des Unfallwagens kriecht und sich langsam durch Schmutz und Bonbons ihren Weg bahnt. Wenn das Benzin ist, besteht Brandgefahr. Bernard wundert sich, dass der zivile Polizist raucht

Als Elisabeth das Polizeifahrzeug verlässt, scheint sie sich erholt zu haben.

„Kommen Sie“, sagt sie und nimmt Bernard wieder am Handgelenk, „gehen wir, hier haben wir nichts mehr zu suchen.“

Ohne ein Wort des Dankes an den Arzt zieht Elisabeth Bernard hinter sich her zu ihrem Auto.

„Wir müssen zum Krankenhaus“, sagt sie und reicht ihm mit auffordernder Geste die Wagenschlüssel.

Der Menschenauflauf ist kleiner geworden. Der Abtransport der Verunfallten lässt die Sensationshungrigen weitergehen. Am Straßenrand steht eine kleine Gruppe von Menschen. Aus deren Gestikulieren Bernard unschwer erkennen kann, dass sie den Verlauf des Unfalls kommentieren.

„Wer ist Angelika Schweyer“, fragt Bernard unvermittelt.

Elisabeth schweigt.

„Wer ist Angelika Schweyer“, lässt Bernard nicht locker.

„Sie ist seine Frau“, sagt Elisabeth. „Eigentlich habe ich ihr meine Anstellung als Sekretärin zu verdanken, obwohl sie Paul keine Sekretärin gönnt. Obwohl sie Pauls Sekretärinnen hasst. Jawohl hasst. Richtiggehend hasst. Mit jeder Faser ihres Körpers. Mit jedem Hauch ihres Daseins hasst sie seine Sekretärinnen. Natürlich auch mich.“