Die Ärzte der Charité

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Die Ärzte der Charité
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Walter Brendel

Die Ärzte der Charité

Die Ärzte der Charité

Walter Brendel

Impressum

Texte: © Copyright by Walter Brendel

Umschlag: © Copyright by Walter Brendel

Verlag: Das historische Buch, 2022

Mail: walterbrendel@mail.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Einleitung

Johann Theodor Eller (1689 – 1760)

Caspar Friedrich Wolff (1734 – 1794)

Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1836)

Carl August Wilhelm Behrends (1754-1826)

Johannes Peter Müller (1801 – 1858)

Rudolf Virchow (1821 – 1902)

Emil Heinrich Du Bois-Reymond (1818 – 1896)

Wilhelm Griesinger (1817-1868)

Albrecht von Graefe (1828 – 1870)

Ludwig Traube (1818 -1876)

Franziska Tiburtius (1843 – 1927)

Robert Koch (1843-1910)

Karl Bonhoeffer (1868 – 1948)

Emil Adolf von Behring (1854-1917)

Theodor Brugsch (1878-1963)

Georg Friedrich Nicolai (1874-1964)

Rahel Hirsch (1870 – 1953)

Walter Stoeckel (1871 – 1961)

Ferdinand Sauerbruch (1875 – 1951)

Epilog

Einleitung

Die Charité, aus dem frz.: Nächstenliebe/Barmherzigkeit, ist das berühmtes und traditionsreiches Krankenhaus in Deutschland. Seine Entstehung verdankt es eigentlich einer der Geißeln der Menschheit, der Pest. Am 14. November 1709 wurde durch eine Kabinettsorder des preußischen Königs Friedrich I. die Gründung von „Lazareth-Häusern“ außerhalb der Städte angeordnet, um „bei jetzigen gefährlichen Pest-Läufften“ entsprechend vorbereitet zu sein. Auslöser der königlichen Anordnung war eine Pestepidemie in Osteuropa, die schon die Provinz Preußen teilweise entvölkert hatte und nun auch die Mark Brandenburg und Berlin bedrohte. Am 13. Mai 1710 gründete man die Vorsorgeeinrichtung für Berlin, die Bauarbeiten für das Haus begannen. Tatsächlich trat der befürchtete Ernstfall aber nicht ein; die Pestepidemie in den Jahren 1709 bis 1711 streifte Brandenburg nur in der Uckermark und drang nicht bis Berlin vor. Das vor dem Spandowischen Tor außerhalb der Stadtmauern errichtete „Lazareth“ wurde nicht für Pestkranke benötigt und diente zunächst als Armen-und Arbeitshaus (‚Spinnhaus‘) für Arme, Bettler, unehelich Schwangere und Prostituierte, sowie als Garnisonslazarett. Das ursprüngliche Pesthaus war ein quadratisch angelegtes, zweistöckiges Gebäude mit einer Länge von 48 Metern, bei dem die Angestellten des Hospitals im Erdgeschoss wohnten und die Kranken, nach Männern und Frauen getrennt, im Obergeschoss. 1713 erfolgte zusätzlich die Eröffnung eines Theatrum anatomicum, sodass das Haus zusammen mit dem 1724 gegründeten Collegium medico-chirurgicum auch zur Ausbildungsstätte von Militärärzten avancierte. In den Jahren 1785 bis 1800 erfolgte in mehreren Abschnitten ein Erweiterungsbau der Charité und durch die veränderten Stadtmauern lag die Charité seit dem Jahr 1800 innerhalb des Berliner Stadtgebiets.

Am 9. Januar 1727 verfügte dann der königliche Nachfolger Friedrich Wilhelm I. (der Soldatenkönig) in einer weiteren Kabinettsorder die Umwandlung des Lazaretts in ein Bürgerhospital und ordnete in einer Randbemerkung an: „Es soll das Haus die Charité heißen.“ Erster Direktor wurde der Leibarzt des Königs, Johann Theodor Eller (1689–1760).

1795 wurde die Pépinière zur Aus-und Weiterbildung von Militärärzten gegründet, die 1809 die Bücherei des aufgelösten Collegium medico-chirurgicum übernahm. Rudolf Virchow und Hermann von Helmholtz waren Stipendiaten dieser Akademie. Im Jahr 1801 wurde Christoph Wilhelm Hufeland als königlicher Leibarzt und leitender Charité-Arzt berufen. 1810 wurde Hufeland auch Dekan der Medizinischen Fakultät der neu gegründeten Berliner Universität. An der Universität fand in den folgenden Jahren die Ausbildung von ‚zivilen‘ Medizinstudenten statt, während die Charité Militärärzte und Militärchirurgen ausbildete. Die Ausbildung an der Charité verlief dabei wesentlich praxisorientierter „am Krankenbett“, während die Ausbildung an der Universität sehr theoretisch-allgemeinbildend war, entsprechend dem Bildungsideal Wilhelm von Humboldts. Hufeland sah dagegen die Vorteile der praxisorientierten Ausbildung und erstrebte eine engere Verbindung von Charité und Universität. Die Trennung beider Institutionen bestand zunächst fort, wurde jedoch nach und nach durchbrochen, nachdem die Universität immer mehr eigene Kliniken auf dem Charité-Gelände errichten ließ. 1828 wurde ein Teil der Medizinischen Klinik von der Ziegelstraße in die Charité verlegt. Es folgten mehr und mehr Kliniken bis 1927 die chirurgische Universitätsklinik als letzte Klinik in die Charité verlagert wurde.

1815 wurde Carl August Wilhelm Berends Leiter der Charité. Rudolf Virchow wurde 1856 zum Direktor des pathologischen Instituts berufen und konnte damit seiner Zellularpathologie zum wissenschaftlichen Durchbruch verhelfen. Der Grundsatz seiner Lehre omnis cellula e cellula revolutionierte die medizinische Wissenschaft. Am Gesundheitsamt, das 1876 gegründet wurde, arbeiteten Emil Adolf von Behring und Paul Ehrlich. Robert Koch war seit 1880 am Kaiserlichen Gesundheitsamt in Berlin tätig. In direkter Nähe zur Charité steht ein Denkmal für Robert Koch, der in dieser Zeit dort arbeitete und die Erreger von Milzbrand, Tuberkulose und Cholera (unbeachteter Erstbeschreiber der Cholera war 30 Jahre früher Filippo Pacini) entdeckte.

Die Charité um 1850

Von 1896 bis 1917 erfolgten großzügige Um-und Neubauten im Bereich der Charité. Deren Genehmigung ist ganz wesentlich Friedrich Althoff, Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium, zu verdanken. Damit wurden die baulichen Voraussetzungen für die erfolgreiche Weiterentwicklung der Medizinischen Fakultät geschaffen. Ein Denkmal im Klinikgelände ehrt den verdienstvollen preußischen Wissenschaftspolitiker Althoff. Die in rotem Backstein ausgeführten Bauten stehen heute unter Denkmalschutz. Es gibt heute noch ein ‚Althoff-Gebäude‘ mit einem ‚Althoff-Saal‘ an der Charité. Ihr höchstes Ansehen genoss die Charité zwischen 1870 und 1918. Die Berufungspolitik, nur noch verdiente Ordinarien zu berufen, führte zu weniger jüngeren und wissenschaftlich noch kreativen Ordinarien. So hatte beispielsweise Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) den Zenit seiner Karriere schon überschritten, als er 1927 an die Charité kam.

In der folgenden Zeit wurde der Name Charité durch zahlreiche herausragende Ärzte und Wissenschaftler international bekannt, so etwa durch Rudolf Virchow, Hermann von Helmholtz, Robert Koch, Paul Langerhans, Paul Ehrlich und Emil Adolf von Behring. Aber auch die Begründer medizinischer Spezialgebiete und weitere namhafte Experten wie Ferdinand Sauerbruch, Ernst von Bergmann, Wilhelm Griesinger, Albrecht von Graefe, Heinrich Schulte, Otto Heubner, Caspar Friedrich Wolff, Karl Bonhoeffer, Heinrich Adolf von Bardeleben, Hans Erhard Bock, August Bier, Friedrich Kraus, Walter Stoeckel, Johann Friedrich Dieffenbach, Theodor Schwann, Friedrich Gustav Jakob Henle, Johann Lukas Schönlein, Ludwig Traube, Bernhard von Langenbeck, Theodor Billroth, Curt Schimmelbusch, Leonor Michaelis, August von Wassermann, Emil Fischer, Rahel Hirsch, Selmar Aschheim, Bernhard Zondek, Rudolf Nissen, Hermann Oppenheim, Herbert Herxheimer, Samuel Mitja Rapoport, Traube und Gutzmann wirkten hier. Acht spätere Nobelpreisträger begannen ihren wissenschaftlichen Weg an der Charité, wie zum Beispiel Werner Forßmann und Albrecht Kossel.

Einige der berühmten Ärzte wollen wir nachfolgend vorstellen:

Johann Theodor Eller (1689 – 1760)

Johann Theodor Eller wurde am 29. November 1689 in Plötzkau geboren. Eller studierte zunächst in Quedlinburg und Jena Rechtswissenschaften, später in Halle, Leiden, Amsterdam und Paris Medizin und Naturwissenschaften. Louis Lemery und Wilhelm Homberg weckten sein Interesse für Chemie. Ein Aufenthalt in London brachte ihm weitere gute Beziehungen ein.

Chirurgen gelten im 18. Jahrhundert nicht als echte Mediziner. Das menschliche Leben gründet, so die damals gängige Vorstellung, auf einem Geheimnis, das nicht dadurch zu lüften ist, dass man seinen Träger aufschneidet. Akademische Ärzte sind vor allem Gelehrte, die den „inneren Krankheiten“ mit Säfteausgleich, Aderlass und Schwitzkuren zu Leibe rücken wollen. Wenn es blutig wird, kommt eine andere Sorte Arzt zum Einsatz: die oft eher bildungsfernen Wundärzte. In Berlin haben sie zur Jahrhundertwende ihre ungeliebte Berufsbezeichnung Barbier gegen den weniger bekannten Begriff Chirurg eingetauscht. Im Berliner Bürgerbuch heißt es über einen Chirurgen: „ … kann wegen Blödigkeit des Verstandes nur mit Bartschere etwas verdienen“.

 

Johann Theodor Eller

Nach seiner Rückkehr 1721 wurde er Leibarzt und Physikus des Fürsten von Anhalt-Bernburg, wo er als erster in Deutschland die Pockenimpfung durchführte.

Johann Theodor Eller ist eigentlich Gelehrtenarzt. Nach ein paar Semestern Jura in Jena hat er Medizin und Naturwissenschaften studiert, sein Interesse gilt Mineralien und Metallen. Doch er ist praktisch veranlagt und verfügt über ein außergewöhnliches anatomisches Wissen. In Magdeburg soll er Militärchirurgen die menschliche Anatomie näherbringen, bevor sie die im Lazarett kennenlernen. Friedrich Wilhelm I. ist begeistert und will dasselbe für die Chirurgen in Berlin. Deshalb wird Eller 1724 ans Collegium medico-chirurgicum berufen. 1725 war er zusammen mit Georg Ernst Stahl, dem Leibarzt des Königs, Urheber eines „Medizinaledikts“, das den Grundstein legte für eine fundiertere, anatomische und chirurgische Ausbildung, staatliche Prüfung und Zulassung der Ärzte sowie anderer Medizinalberufe: Jeder Chirurg in Preußen muss einen Lehrbrief vorlegen, eine Prüfung bestehen und sieben Jahre bei einem Meister und als Truppenarzt gearbeitet haben. Vor allem dieser letzte Punkt ist ganz im Sinne des Soldatenkönigs. Als der drei Jahre später die Gründung der Charité beschließt, macht er Eller zum ersten Dirigierenden Arzt. Das Gebäude steht schon. Zusammen mit dem Chirurgen und Militärarzt Gabriel Senff leitete er acht Jahre lang die 1727 eröffnet Charité in Berlin.

Weil die Pest ausgeblieben ist, kommen Arme, Bettler, Prostituierte und verwundete Soldaten. Durch den neuen Namen ändert sich aber nicht viel: Die Patienten sind allesamt Bedürftige, die Charité ist chronisch pleite, das Pflegepersonal – genannt Wärter – besteht auch aus genesenen Patienten, die ihren Aufenthalt abarbeiten müssen. Prügel ist an der Tagesordnung. Oft warten Patienten tagelang auf den Besuch des Arztes. Nach acht Jahren gibt Eller auf und wird Leibarzt unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II.

Eller, einer der bedeutendsten Mediziner des 18. Jahrhunderts verstarb am 13. September 1760 in Berlin.

Caspar Friedrich Wolff (1734 – 1794)

Caspar Friedrich Wolff wurde am 18. Januar 1734 als Sohn des Schneidermeisters Johann Wolff und dessen Frau Anna Sophie Wolff geb. Stiebeler in Berlin geboren. Er hatte mit Christian Friedrich (geboren 1728), Anna Sophia (geboren 1732) und Maria Elisabeth (geboren 1732) drei ältere Geschwister. Sein Vater stammte aus Prenzlau und hatte sich in Berlin niedergelassen und die Bürgerrechte erworben.

Über seine Jugend ist so gut wie gar nichts bekannt, man weiß nur, dass er 1753 mit 19 Jahren das Berliner Collegium medico-chirurgicum, die militärärztliche Ausbildungsstelle der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin besuchte. Hier unterrichteten verschiedene ordentliche Mitglieder der Akademie die Studenten und boten Kurse in Chirurgie, Anatomie, Mikroskopie, Chemie und Botanik an. Unter ihnen befanden sich einige der bekanntesten Forscher der Zeit, etwa Peter Simon Pallas, Johann Friedrich Meckel, Johann Gottlieb Gleditsch, Johann Nathanael Lieberkühn und Johann Heinrich Pott. Vor Wolffs Studienzeit war Pierre-Louis Moreau de Maupertuis der Leiter der Akademie, der außer für eine Expedition nach Lappland zur Gradmessung am Nordpol auch für seine Schriften über die Keimesentwicklung der Tiere bekannt wurde. Er sprach sich gegen die Theorien aus, nach denen der Embryo und damit der Nachwuchs vorgebildet (präformiert) im Ei der Mutter (entsprechend der Theorie der Ovisten) oder im Spermium des Vaters (entsprechend der Theorie der Animalculisten) enthalten sei. Er selbst forschte an der Vererbung von Missbildungen, vor allem von Zehenanomalien bei Hühnern und Hunden und der Sechsfingerigkeit bei einer Berliner Familie, sowie über Bastarde im Tierreich. Die Urzeugungstheorien, die durch Georges-Louis Leclerc de Buffon sowie John Turberville Needham aufgestellt wurde, konnte für ihn die Zeugung nicht erklären und er regte eine intensive mikroskopische Forschung zur Klärung dieser Frage an. Maupertuis verließ Berlin 1752, seine Schriften waren jedoch weiterhin populär und inspirierten auch Caspar Friedrich Wolff bei seinen Studien.

Im Jahr 1755 ging Wolff an die medizinische Fakultät nach Halle und arbeitete dort unter Andreas Elian Büchner, dem Dekan der Universität und Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, an seiner Dissertation mit dem Titel Theoria generationis, die er am 28. November 1759 abschloss. Ob Büchner ihn bei seiner Arbeit tatsächlich unterstützte oder diese unter einem Berliner Doktorvater entstand, ist nicht bekannt, da in der Dissertationsschrift kein Name genannt wird. Beeinflusst wurde er auf jeden Fall durch den Mediziner Philipp Adolf Böhmer, der wie Wolff die Keimesentwicklung aus einfachen Geweben (Epigenese) befürwortete, sowie durch Heinrich Christian Alberti, der regelmäßig botanische Vorlesungen und Exkursionen durchführte. In seiner Arbeit stellte Wolff die Embryonalentwicklung der Pflanzen und die der Tiere anhand von mikroskopischen Untersuchungen dar, außerdem formulierte er eine Theorie, nach der die Entwicklung neuer Organe während der Embryogenese durch eine „wesentliche Kraft“ geschieht, die er nicht genauer benennt, jedoch auch für die Ernährungsprozesse der Organismen zuständig macht. Damit stellt er seine Theorie der Entwicklung des Embryos aus relativ undifferenziertem Gewebe der Theorie der Präformation gegenüber, nach der bereits im Keim sämtliche Strukturen enthalten sein sollten. Seine Arbeit fand sowohl bei Anhängern einer ähnlichen Auffassung als auch bei einer Reihe von Kritikern der Epigenese Anerkennung.

Die Dissertation Theoria generationis in lateinischer Sprache geschriebenen, erfolgte 1759. Während er selbst vor allem auf seine Schlussfolgerungen und Erklärungen für die beschriebenen Entwicklungsvorgänge der Pflanzen und Tiere Wert legte, wurde die Arbeit von der Wissenschaft vor allem aufgrund der sehr guten mikroskopischen Arbeiten und der sorgfältigen Darstellungen des Gesehenen zu Kenntnis genommen.

Caspar Friedrich Wolff (Scherenschnitt, nach 1770)

Wolff beschreibt im ersten Teil dieser Arbeit detailliert die Entwicklung von Pflanzenkeimlingen aus einfachen Keimgeweben und „Bläschen“ (Zellen) zu komplexeren Pflanzen. Dabei entwickeln sich nach seiner Beschreibung durch die Aufnahme von Flüssigkeiten („Ernährungskräfte“) größere Strukturen, Kanälchen und Gefäße, nachfolgend durch Verdunstung feste Strukturen wie Wände, Stängel und Blattrippen. Er beschreibt weiterhin detailliert die Entstehung und Ausbildung von Blütenteilen und Blättern sowie die Bildung von Früchten und Samen. Als Objekte dienten ihm die Stängel der Ackerbohne (Vicia faba) sowie das Fruchtfleisch vonÄpfeln und Birnen, in denen er sowohl saftgefüllte Zellen als auch Kanäle ausmachen konnte. Das Wachstum beschrieb er an Stängeln, Blättern und Blüten von Kohl und Kastanie und er konnte bei seinen Untersuchungen keinerlei vorgefertigte und eingerollte Strukturen entdecken, wie sie die Präformisten forderten. Stattdessen fand er Vegetationspunkte, die er als punctum sive superficies vegetationis beschrieb, und aus denen sich die neu wachsenden Strukturen entwickelten. Auch die Befruchtung durch den Pollen konnte er beobachten und beschrieb diese als „Lieferung eines vollkommenen Nahrungsmittels“, welches neues Wachstum und die Bildung eines Embryos bewirkt. Im zweiten Teil dieser Arbeit beschreibt er ebenso detailliert die Embryonalentwicklung des Hühnerembryos, der sich aus einer einfachen Keimscheibe auf dem Dotter zu einem voll ausgebildeten Küken entwickelt. Dabei entstehen nach seiner Beobachtung alle sichtbaren Organe von den Blutgefäßen über das Herz und die Nieren bis zum Darm, dem er später noch eine weitere, detailliertere Arbeit widmete. In seinen Beobachtungen erkannte er Parallelen zwischen der Entwicklung der Pflanze und des Tieres, die er über seine Prinzipien der „Zeugung“ zu erklären versuchte. Er formulierte entsprechend im dritten Teil der Arbeit die allgemeinen Bildungsgesetze für die Entwicklung der Organismen durch die „Ernährungskraft“ („wesentliche Kraft“) für das Wachstum und die „Erstarrungsfähigkeit“ für die Organbildung, durch die auch Missbildungen entstehen können. Besonders Albrecht von Haller bezeichnete die Theoria generationis als ein wichtiges Werk, obwohl er die in ihr dargelegte Epigenesis-Theorie ablehnte, und es wird davon ausgegangen, dass sich bereits zu Lebzeiten Wolffs viele Wissenschaftler mit ihm auseinandersetzten. 1774 ließ der Berliner Mediziner Philipp Friedrich Theodor Meckel das Werk nachdrucken und auch Johann Friedrich Blumenbach zitierte es in seinen Werken.

Im Jahr 1764 folgte mit Die Theorie von der Generation eine Erweiterung der Dissertation in deutscher Sprache, in der er vor allem die Fragen seiner Bekannten und Freunde aufgriff und seine Theorien nochmals verständlich und mit Beispielen belegt darstellte. Die erste Fassung erschien nur in handschriftlicher Form für seine Bekannten, nach dem Beginn seiner Lehrtätigkeit in Berlin veröffentlichte er das Werk auch, um es seinen Studenten zugänglich zu machen.

In einem einführenden Teil erklärte Wolff die Begriffe „Anatomie“, „Physiologie“ sowie insbesondere sein Verständnis von dem Begriff „Generation“, wobei er einen geschichtlichen Abriss von Aristoteles bis in seine eigene Zeit vorlegte. Den wichtigsten Abschnitt des Werkes bildet allerdings eine Rechtfertigung seiner Epigenesis-Theorie gegenüber den Vertretern der Präformationslehre, und er antwortete detailliert, teilweise deutlich polemisch, auf die Kritikpunkte, die Albrecht von Haller und Charles Bonnet an der Epigenesis äußerten. Im Zentrum dieser Abhandlung steht der Gedanke, dass die Natur aus sich heraus in der Lage ist, eine Fülle von Veränderungen zu bewirken. Im zweiten Teil der Theorie von der Generation wiederholt er die Ergebnisse seiner Dissertation, wobei er an den hinterfragten Stellen deutlicher wurde und vor allem bei der Entwicklung der tierlichen Organe sowie bei dem, was er als „Conception“ benennt, deutlicher und klarer wurde. Er stellte in diesem Teil regelmäßig Parallelen zwischen der Entwicklung der Pflanzen und der Tiere dar und stellte deren Gemeinsamkeiten heraus. Außerdem beschrieb er den Aufbau sowohl der Pflanzen als auch der Tiere auf der Basis von drei Organisationsstufen: den „Bläschen“ oder Zellen, die die einfachen Teile bilden, den aus Geweben zusammengesetzten Strukturen wie das Mark der Pflanzen oder die Muskulatur der Tiere, sowie die komplexeren Organe. Nach Wolffs Theorie entstehen die Strukturen auseinander, entweder durch „Excernierung“ (Strukturen werden von anderen Strukturen gebildet) oder durch „Deponierung“ (Strukturen werden mit anderen Strukturen zu neuen verbunden). Dabei glaubte er (im Gegensatz zu der im 19. Jahrhundert aufkommenden Theorie der Vermehrung von Zellen), dass sich alle Strukturen aus einer bis dahin unorganisierten Keimmasse entwickeln, in der noch keine Strukturen vorhanden sind. Die „Conception“, also der Plan für die Differenzierung der Lebewesen, entsteht nach seiner Ansicht durch die Zuführung einer neuen Nährsubstanz, dem Pollen bei der Pflanze oder dem Spermium beim Tier.

Nachdem Wolff promoviert wurde, bemühte er sich um eine Anstellung als akademischer Lehrer und bewarb sich bei verschiedenen Universitäten, darunter etwa diejenige in Bützow und die in Rinteln. Gegen Ende des Jahres empfahl der Mathematiker Leonhard Euler, der ein guter Freund Maupertuis' und stellvertretender Direktor der Berliner Akademie der Wissenschaften war, Wolff für eine Professur an die Universität in Sankt Petersburg. Er beschrieb Wolff als einen jungen Mann:

„welcher ganz vorzüglich sich zur Kaiserl. Academie schicken würde. Derselbe hat ernstlich gar keine Neigung zur Praxis Medica, sondern legt sich einzig und allein auf das Studieren und Experimentieren.“ (nach Jahn 2001, S. 102)

Da seinerzeit allerdings Preußen und Russland im Krieg standen, wurde Wolff zu diesem Zeitpunkt noch nicht nach Sankt Petersburg berufen. Stattdessen diente er von 1761 bis 1763, bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges, als Militärarzt im Feldlazarett in Breslau für das Preußische Heer. Hier wurde er vom obersten Feldarzt Christian Andreas Cothenius aufgrund seiner Kenntnisse vom Felddienst befreit und sollte den Feldwundärzten Vorlesungen über Anatomie geben. 1763 wurde das Feldlazarett aufgelöst. Aus dieser Zeit stammt die erste biographische Darstellung seiner Arbeit durch Christian Ludwig Mursinna, den er hier ausbildete und der später sein Assistent wurde. Mursinna, der ab 1787 Professor am Collegium medico-chirurgicum und Chirurg an der Charité wurde, stellte Wolff als sehr guten Lehrer dar:

 

„Daher alle Wundärzte den fruchtbarsten Unterricht genießen konnten, daran auch bald alle Feld-und Stadtärzte teilnahmen. Wolff hatte einen so ordentlich deutlichen, logischen Vortrag, daß jeder ihn leicht verstand und sich mehr oder weniger gründlich belehren konnte, wie dies die monatlichen Examina bezeugten.“ (nach Jahn 2001, S. 103) Wolff hatte sich bereits 1762 am Collegium medico-chirurgicum in Berlin darum beworben, Vorlesungen geben zu dürfen. Das Collegium lehnte den Antrag ab, da es eine Sonderregelung gegen die Prämisse dargestellt hätte, dass nur ordentliche Mitglieder der Akademie Vorträge halten durften. Cothenius, der zu diesem Zeitpunkt Dekan am Obercollegium medicum war, erteilte Wolff in der Folge die Erlaubnis, private Vorlesungen zu halten. Dies tat Wolff für vier Jahre sehr erfolgreich, obwohl er anders als die Professoren des Collegium die Kosten für seine Demonstrationsobjekte sowie die Raummieten selbst tragen musste. Dieser Erfolg war einigen Professoren ein Dorn im Auge, sie und ihre Studenten wurden zu scharfen Kritikern der Lehrmethoden Wolffs.

Die Forschungsarbeit Wolffs konzentrierte sich auch während dieser Zeit sehr stark auf die Beobachtung der Embryonalentwicklung, die er an Hühnerembryonen durchführte. Dabei gelang es ihm immer besser, die Prozesse darzustellen, diespäter in seiner Veröffentlichung „Über die Bildung des Darmkanals in bebrüteten Hühnchen“ führte. Er stand für diese Arbeiten in ständigem Kontakt mit Albrecht von Haller, der die Epigenesis-Theorie zwar ablehnte, jedoch großes Interesse an Wolffs Arbeiten zeigte. Das Wohlwollen änderte sich nach einer Publikation Wolffs 1766, die sich sehr polemisch gegen die Präformationslehre und vor allem gegen eine Veröffentlichung von Charles Bonnet gegen die Epigenesis richtete. Albrecht von Haller stellte seine Meinung zu Wolffs Theorien mit einem deutlichen Satz in seinem Lehrbuch „Elementa physiologiae corporis humani“ dar: „nulla est epigenesis“ (auf Deutsch: „Es gibt keine Epigenese“). Er begründete diese Festlegung damit, dass nichts aus der Natur heraus, also durch Epigenese, entstehen könne, da es doch von Gott geschaffen werde. Wolff reagierte darauf mit Verwirrung, da er auf der einen Seite seine Epigenesis-Theorie für richtig hielt, auf der anderen die Argumente der Worte von Hallers als gewichtig ansah. Er schrieb:

„daß ich beinahe nicht weiß, was ich in Zukunft hinsichtlich der Entwicklung der Generationentheorie machen soll.“ (nach Jahn 2001, S. 106)

Zur gleichen Zeit erhielt Wolff den Ruf auf einen Lehrstuhl als Professor für Anatomie und Physiologie nach Sankt Petersburg sowie die Einladung, zum Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften zu werden. Wolff nahm dieses Angebot an und traf am 15. Mai 1767 in Sankt Petersburg ein. Seine embryologischen Arbeiten führte er in Sankt Petersburg nicht weiter, veröffentlichte dort allerdings seine Ergebnisse zur Entstehung des Darmkanals 1769 erstmals.

In Sankt Petersburg lagen seine Arbeits-und Aufgabenbereiche vor allem in der Verwaltung des Anatomischen Kabinetts, des Anatomischen Theaters sowie des Botanischen Gartens der Akademie der Wissenschaften. Über sein Berufs-und Familienleben ist aus dieser Zeit allerdings nur sehr wenig bekannt, da es weder autobiographische Notizen noch Beschreibungen von Kollegen oder Freunden gibt. Nach Mursinna heiratete er kurz vor seiner Abreise nach Sankt Petersburg eine gutaussehende Frau, deren Name unbekannt ist. Mit dieser und den gemeinsamen drei Kindern Louisa, Maria und Karl, lebte Wolff auf der Vasilevsker Insel relativ zurückgezogen und widmete sich fast ausschließlich der Arbeit.

Caspar Friedrich Wolff hatte als Anatom unter anderem die Aufgabe, Leichen zu sezieren, die von der Polizei aufgefunden wurden, und sollte die Todesumstände aufzeigen. Er nutzte diese Arbeiten für anatomische Studien und verglich die Ergebnisse mit denen, die er beim Sezieren von gestorbenen Löwen und Tigern des höfischen Tiergartens machte. Des Weiteren untersuchte er anatomische Fehlbildungen (Missgeburten, zu seiner Zeit „Monstra“), die in der anatomischen Sammlung als Alkoholpräparate vorhanden waren und die ihm außerdem als Frischpräparate auf kaiserliche Weisung von den Ärzten des Landes für die Sammlung zur Verfügung gestellt wurden. Wolff arbeitete nicht nur wissenschaftlichan den Präparaten, er versuchte auch, die Ästhetik der Anatomie zu erfassen. Er schrieb:

„Zweifellos besitzen auch die Eingeweide eine eigene wahrhaftige und nicht scheinbare Schönheit. Ich sah bei einigen Monstra das Innere von so erstaunlicher Anmut und Eleganz, daß ich keinen Zweifel daran hege, daß die Natur, die diese Körper schuf, sich auch die Schönheit der Struktur als Ziel gesetzt haben mußte. Ja selbst in den allgemeinsten inneren Organen unseres Körpers herrscht eine bemerkenswerte Schönheit, die leichter aufzuspüren als mit Worten wiederzugeben ist.“ (nach Jahn 2001, S. 107)

Über die Forschung an den Missbildungen wurde auch wieder ein bereits von Maupertuis angesprochener Konflikt zwischen den Präformisten und den Vertretern der Epigenese angeschnitten, den auch Wolff bereits in seiner Dissertation erwähnt hatte: Die Ausbildungen der Monstra konnten nicht dem Willen des Schöpfergottes entsprechen. Wolff hatte in St. Petersburg die einmalige Gelegenheit, eine Sammlung von 42 Monstra zu untersuchen und schrieb dazu umfassende Manuskripte. In seinem Nachlass fand man etwa 1.000 handgeschriebene Seiten zu diesem Thema, gemeinsam mit 52 von ihm gezeichneten Tafeln. Auf etwa 100 Seiten stellte Wolff seine Theorien zur Bildung der Monstra dar:

„Die Monstra stammen nicht von Gott, sondern sind eine Sache der Natur, der der Erfolg versagt geblieben ist.“ (Wolff 1773, nach Jahn 2001, S. 108)

Die Arbeiten von Caspar Friedrich Wolff in Sankt Petersburg wurden in Europa kaum wahrgenommen, andererseits verfolgte Wolff mit Interesse die Diskussion um die Epigenese und vor allem die Arbeiten von Johann Friedrich Blumenbach, der als Nachfolger von Albrecht von Haller ab 1777 in Göttingen wirkte. Blumenbach war ebenso wie Wolff von der Epigenesis überzeugt und gilt heute als derjenige, der den Durchbruch der Epigenesis gegenüber der Präformationslehre in der Forschung bewirkte.

Caspar Friedrich Wolff starb am 22. Februar 1794 an einem Schlaganfall in Sankt Petersburg.

Caspar Friedrich Wolff galt während seiner Wirkungszeit zwar als sehr guter Beobachter, seine Ansätze, die Beobachtungen durch die Theorie der Epigenese zu erklären, wurden allerdings weitestgehend abgelehnt. Sie widersprachen der im 18. Jahrhundert verbreiteten und anerkannten Theorie der Präformation und wurden sogar als unvereinbar mit dem Glauben an die göttliche Schöpfung angesehen. Wolff war zwar nicht der erste Wissenschaftler, der die Präformation verneinte, er war jedoch der erste, der ihr mit seiner ausformulierten Theorie der Epigenesis eine ernsthafte Alternative gegenüberstellte, die auf direkte Beobachtung aufbaute.

Als Hauptwerk Wolffs wird bis heute seine Abhandlung über die Bildung des Darmkanals im bebrüteten Hühnchen angesehen, die in lateinischer Sprache unter dem Titel De formatione intestinorum in seinem ersten Jahr in Sankt Petersburg, 1769, erschien. Diese Darstellung war so detailliert, dass sie lange Zeit als eine der wichtigsten Arbeiten im Bereich der Naturbeobachtungen galt.

Zur Untermauerung seiner Epigenesis-Theorien beobachtete er genauestens die Entwicklung des Hühnchens, indem er in regelmäßigen Abständen Eier mit einer genau bekannten Bebrütungszeit nahm und diese unter dem Mikroskop analysierte. Das Ergebnis war eine Serie von Bildern und Beschreibungen, die erstmals ein Organ in seiner Entstehung von der ersten Anlage bis zur vollständigen Ausbildung beschrieb und auf eine blattartige Keimmasse zurückführen konnte, die 1817 in die Keimblattlehre von Christian Heinrich Pander sowie deren Verfeinerung durch Karl Ernst von Baer 1828 mündete. In seiner Darstellung Über die Entwicklungsgeschichte der Thiere aus dem Jahr 1828 heißt es:

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