Veza Canetti zwischen Leben und Werk

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A2.3.2 Die Schwestern Calderon

Elias Canetti schreibt im Jahr 1990 in den Aufzeichnungen zu Veza Canetti: „Sie wuchs auf unter den vielen Schwestern ihrer Mutter, von denen einige berückende Schönheiten waren. Sie wurde von ihnen verwöhnt.“68

Von den mindestens sieben Schwestern Rahel Calderons – wie auf der Todesanzeige69 des Grossvaters verzeichnet – werden von Veza Canetti selbst sowie von Elias Canetti nur zwei explizit erwähnt, Camilla Spitz und Olga Hirsch, obwohl die restlichen Schwestern gemäss den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ebenfalls in Wien gelebt haben müssen.

A2.3.2.1 Olga Hirsch

Olga Hirsch, die um zwei Jahre ältere Schwester von Rahel Calderon, wird in den Entwürfen zu den Lebenserinnerungen von Elias Canetti folgendermassen beschrieben.

„Ihre Tante war eine feurige, schöne Frau, mit dem kühnen Gesicht einer Römerin, stattlich und stolz, die älteste (glaube ich) der sechs Calderon-Töchter, in Wien aufgewachsen, nach Zemlin (?) zuständig (?) (gegenüber von Belgrad), das noch zur alten Monarchie gehörte.“70 Sie ist die einzige Schwester Rahel Calderons, die von Elias Canetti näher beschrieben wird. Wie ihre Schwester Rahel hat Olga Calderon früh geheiratet und sich bald wieder scheiden lassen. Im Jahr 1893 – nur vier Jahre vor der Schwester Rahel – heiratet sie den Ungaren Max/Moritz Hirsch, einen Kaufmann. Rahel und Olga wohnen bereits in den 1880er Jahren während ihrer beiden ersten Ehen, die dann beide fast gleichzeitig geschieden wurden, in unmittelbarer Nähe an der Schmelzgasse 6 und 9 in der Leopoldstadt. Nach dem Tod von Hermann Taubner und vor der Heirat mit Menachem Alkaley – somit bis ins 14. Lebensjahr von Veza Taubner – wohnen die beiden Schwestern Calderon wiederum in grosser Nähe zueinander – nämlich am Radetzkyplatz (Radetzkyplatz 3 und Matthäusgasse 5). Zufall oder nicht, die neuen Ehemänner der beiden Calderon-Schwestern sind Ungarn und im Handel tätig, der eine als Reisender und der andere als Kaufmann. Auch sind die Kinder von Rahel und Olga im gleichen Alter. Der fast schon legendäre71 Sohn von Tante Olga, Charlie Hirsch, ist nur vier Jahre älter als Veza und Olgas Tochter Katharina, genannt Kitty (in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde so eingetragen), zwei Jahre älter. Auf einem Foto von 1915 ist Veza mit ihrer Tante Olga und deren Mann Max Hirsch im Eingang zu einer Alphütte in Alt-Aussee zu sehen.72 Ob Veza Taubner regelmässig mit der Familie Hirsch Ferien in Alt-Aussee verbracht hat, kann vorerst nicht mit weiteren Quellen belegt werden. Einen interessanten Einblick in die wienerisch geprägte Kulturszene am Ferienort Alt-Aussee, betreffend den Sommer 1916, gibt Auguste Mayer (geboren 1892), eine Bankierstochter aus Wien, in ihren unter dem Pseudonym Gusti Stridsberg verfassten Lebenserinnerungen Menschen, Mächte und ich. „Ende Mai verliessen wir Wien. Mama hatte eine Villa in Alt-Aussee gemietet, das allmählich ein Sammelpunkt vieler Wiener wurde, die das schwerkranke Österreich nicht verlassen wollten (…) Hans von Kaltenegger (…) Hermynia von zur Mühlen (…). Im Parkhotel wohnte Arthur Schnitzler mit Frau Olga. Fast täglich traf ich die beiden auf den Waldwegen, die an unserem Hause vorbeiführten, zumeist in Gesellschaft von Jakob Wassermann.“73

Falls Veza Taubner tatsächlich mit ihren Verwandten regelmässig Ferien in Alt-Aussee verbracht hat, würde das viele sehr frühe Bekanntschaften der Autorin in die Dichter- und Künstlerszene Wiens – möglicherweise schon vor dem Ersten Weltkrieg – erklären und akzentuieren, wie zum Exempel eine Bekanntschaft mit Jakob Wassermann und Marta Karlweis, die in Alt-Aussee lebten, oder mit Hugo von Hofmannsthal, Hermann Broch, Robert Neumann und Friedrich Thorberg, die alle oft ihren Sommer da verbrachten.74

Zur Bedeutung der Familie von Olga Hirsch für Veza Canetti gibt es aus dem Jahr 1946 in einem Brief an Georges Canetti eine sehr eindrückliche Passage. „Immer wenn ich lese, wie sie hungern (die Österreicher nach dem Zweiten Weltkrieg, Anm. va), geh ich in die Küche und esse ein Ei, manchmal geh ich in unser vornehmes Restaurant und denk daran, wie sie hungern, und esse Brathuhn. Ja, es schaudert einen, aber meine liebe Tante Olga wurde in die Gaskammer gebracht mit ihren Kindern und Enkeln, acht an der Zahl, sie wurden vor ihren Augen ermordet, und damit ist die Sache klar … gibt es in Châteaubriant übrigens Kinos, denn ich muss jeden zweiten Tag einen Film sehen, sonst werd ich verrückt.“ (BaG 211)

Charlie Hirsch, der Cousin von Veza Canetti, wird von Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen als Barpianist bezeichnet; seine Familie hätte ihn für einen Schubert gehalten, dabei sei er ein abgefeimter Schmeichler gewesen, er sei für eine Frau gehalten worden und mit Geld habe er gar nicht umgehen können. Deshalb habe Veza bei ihnen die Miete für Olga einziehen müssen. Charles Hirsch ist gemäss Wiens historischem Adressbuch Adolph Lehmann’s nur ein einziges Mal, im Jahr 1923, an der linken Wienzeile 14 mit einem Theatergeschichtlichen Büro eingetragen. Ob dies möglicherweise wegen des temporären Charakters in Zusammenhang mit dem Musik- und Theaterfest von 1924 in Wien75 steht, ist nicht bekannt. Zu seiner Tätigkeit als Pianist schreibt Elias Canetti: „Es war, als habe die alte Monarchie noch bestanden, besonders der ungarische Teil war in der Bar, wo Charlie Hirsch spielte, gut vertreten.“76 In mehreren Durchgängen versucht Elias Canetti 1977 der Figur von Karl Hirsch oder eben Charlie gerecht zu werden. Einerseits entwirft er ihn als erfolglosen, alten, dicken und verfetteten Schwulen – Hirsch war da Ende 20 –, andererseits wird Charlies Interesse für die Lektüre des Studenten Elias Canetti dargestellt. Die Verachtung von Elias’ Mutter gegenüber dessen homosexuellen Kontakten habe ins Gegenteil umschlagen können, wenn es sich bei dessen Geliebten um einen Grafen, wie zum Beispiel den Ungarn Graf Tisza, gehandelt habe.

„Wenn er sie auf den häufigen Gängen von seinem Kabinett in die Toilette und zurück traf, grüsste er nicht nur, sondern pflegte gleich etwas anzufügen, was sich auf einen Grafen bezog. ‚Ein nobler Mensch, der junge Tisza‘, sagte er dann, ‚ich war gestern wieder mit ihm zusammen. Der lässt gerne was springen. Sparen ist ein Wort, das es in seiner Sprache nicht gibt. Er kommt mich bald besuchen. Er würde Sie interessieren, gnädige Frau, darf ich ihn vorstellen, wenn er kommt?‘ Eine boshafte Frage. Sie hätte es gewiss nicht verabscheut, einen Grafen Tisza kennen zu lernen, aber durch den Charlie Hirsch, nein, das schien ihr dann doch zu verächtlich. ‚Wenn ich gerade da bin, vielleicht‘, sagte sie. ‚Aber Sie können ihn doch schwer im Kabinett empfangen!‘ ‚Warum nicht? Das ist er gewohnt. Er macht keine Umstände. Die feinsten Herren sind immer am nettesten. Er pflegt nur ganz überraschend zu kommen, ohne sich anzusagen. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn er plötzlich da ist.‘

Die Mutter blieb unschlüssig und versprach nichts, aber der Gedanke beschäftigte sie, dass Graf Tisza plötzlich vor der Türe stehen und – was noch viel schlimmer wäre – sich zu erkennen geben könnte, wenn er läutete und sie ihm öffnete, könnte sie nicht mehr ausweichen. Dann hätte sie ihn kennengelernt, und zwar durch den Charlie Hirsch (als seinen Freund). Sie sprach oft davon, die Vorstellung quälte sie. Trotzdem war es ihr lieber, sie erlitt diese Demütigung, – denn als suche sie eine Bekanntschaft über Charlie Hirsch. Was auf jeden Fall zu vermeiden war, war dass ich in die Sache hineingezogen wurde, das fand sie viel schlimmer. Ich war schon von der allgemeinen Verachtung angesteckt, mit der man über den Adel sprach und kam ihren Wünschen mehr als ihr lieb war entgegen. In meinen Augen gehörte es zu den bedenklichsten Punkten des Ch. H., dass er soviel von Aristokraten sprach und sie als seine Freunde bezeichnete. Mir schien jede Gesellschaft besser als seine.“77

Zu Karl Hirsch schreibt Veza Canetti in einem Brief von 1946, indem sie den Heiratswunsch von Maud Arditti ironisiert: „Ein Gentleman und das Muster der guten Kinderstube, feine Manieren – ist der Karl Hirsch … “ (BaG 224)

Zu Vezas Cousine Kitty/Katharina Hirsch gibt es noch weniger Informationen. Laut den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien muss sie 1920 einen Bernhard Reich geheiratet haben. Ob es sich dabei um den später in der Sowjetunion berühmt gewordenen Dramaturgen Bernhard Reich (den späteren Ehemann von Asja Lacis) handelt, der tatsächlich 1915 in Wien zum Dr. iur. promoviert wurde und sich bis anfangs der 20er Jahre in Wien als Regisseur betätigt hat, ist unsicher.78

Veza Taubner selbst verwendet in der Erzählung Der Kanal den Namen Kitty als Chiffre für eine Prostituierte. Ein Mädchen namens Emma wird von der Schwester der Dienstbotenvermittlerin, der Bordellbesitzerin Vass, gegen ihren Willen mit ein paar äusserlichen Kunstgriffen zur Prostituierten zurechtgestutzt: „Wie heisst Du mein Kind?“ „Emma Adenberger.“ „Das geht hier nicht. Hier wirst du Kitty heissen. Zieh das an!“ (GSt 109)

 

A2.3.2.2 Camilla Spitz

Die zweite Calderon-Schwester, die nachweislich eine Rolle im Leben von Veza Canetti gespielt hat, ist die jüngste Schwester der Mutter mit dem Namen Camilla. Mit Jahrgang 1884 ist sie nur um 13 Jahre älter als Veza. Aus den Unpublizierten Lebenserinnerungen von Elias Canetti geht hervor, dass sie eine Art Salon in der Seilerstätte, gerade gegenüber dem Ronacher-Theater, geführt haben muss. Sie war verheiratet mit dem um 20 Jahre älteren Alfred Spitz, einem Juwelier. Er war Teilhaber der Firma Alfred und Hugo Spitz, Kammerjuweliere. Bei der 1907 geborenen Tochter von Camilla Spitz mit dem Namen Veneziana (!) handelt es sich nicht um die spätere Veneziana Cansino, die 1946 in einem Brief von Veza Canetti an Georges Canetti als „am liebsten“ (BaG 207) bezeichnet wird; diese sogenannte Lieblingscousine Veza Canettis ist eine Tochter von Morris J. Calderon, Veza Canettis Onkel mütterlicherseits, und lebt – was die 20er Jahre betrifft – in England. Über eine Beziehung Veza Canettis zu Veneziana Spitz hingegen ist nichts bekannt. Mit Elise (genannt Lily) Spitz, der zweiten Tochter von Camilla Spitz, geboren 1911, bleibt hingegen eine Freundschaft über das Exil hinaus bestehen. Lily Spitz ist Tänzerin und Assistentin von Grete Wiesenthal. Von 1929 bis 1933 veranstaltet Lily Spitz als Lily Calderon, wie sie sich als Künstlerin nennt, vier Tanzabende in der Volkshochschule Urania, im Winter 1932/33 drei Tanzspiele im Volksheim Ottakring: Haltet den Dieb, Der Reiter von Flandern und Die kleine Dreigroschenmusik (Musik von Kurt Weill).79 Lily Spitz startet Ende der 20er Jahre eine internationale Karriere als Tänzerin und geht 1940 nach Amerika ins Exil. In einer Kurzbiografie notiert ihr späterer Ehemann Ted Stone: „She was born 22 March 1911 in Wien as Elise Spitz. But as a dancer, she was known as Lily Calderon which was her parent’s family name.“80 Lily Stone starb 1990 in New York. Grete Wiesenthal schreibt an ihre ehemalige Assistentin und Schülerin Lily Spitz nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1947, wie sie beim Vorübergehen am Haus an der Seilerstätte hinaufschaue zum Balkon und sich der Besuche bei ihnen erinnere.81 Lily Spitz hatte ihr ein Paket mit Kaffee, Kleidern und Weiterem geschickt. Ted Stone schreibt: „In Vienna she was Erste Assistentin bei der Tanzschule Grete Wiesenthal. (…) She danced with many other groups in Europe, including Italy, Spain and England. (…) She never lost touch with Frau Wiesenthal and they constantly wrote each other.“82 Diese Erklärung Ted Stones wird gut dokumentiert durch den regen Briefwechsel zwischen Grete Wiesenthal und Lily Spitz nach dem Zweiten Weltkrieg, das ehemalige Arbeitsverhältnis der beiden Frauen mündete in eine lebenslange Freundschaft über die Kontinente hinweg.83 Eine undatierte, bestimmt aber vor dem Zweiten Weltkrieg geschriebene Karte der Grete Wiesenthal aus Stockholm an Camilla Spitz an der Seilerstätte in Wien offenbart nachdrückliches Interesse an Veza Canettis Tante Camilla und dem gemeinsamen Freundeskreis in Wien: „Liebe Frau Spitz! Wie geht es Ihnen denn? Schreiben Sie mir doch einmal ich würde mich sehr darüber freuen. Ich denke oft an die guten Freunde in Wien.“84

Elias Canetti schreibt nach dem Tod von Veza Canetti am 20. Mai 1963 an Lily Spitz: „Wir dachten daran, im kommenden Jahr nach U.S.A zu gehen, und da hoffte sie (Veza, Anm. va) sehr, Dich zu besuchen.“85 Von Lily Spitz ist bekannt, dass sie die Schwarzwaldschule86 besuchte. Ob sie durch diese Schule ein erstes Mal in Kontakt mit den Schwestern Wiesenthal, die am dortigen Mädchen-Realgymnasium Tanz unterrichteten, kam oder ob es genau umgekehrt war, dass Grete Wiesenthal zuvor schon im Salon Spitz verkehrt hat, ist nach heutiger Quellenlage nicht definitiv zu entscheiden.87 Veza Canetti selbst hat nach Auskunft Elias Canettis in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen ebenfalls Tanzkurse bei Grete Wiesenthal besucht: „Veza, die immer schon für ihre Lehrerinnen geschwärmt hatte, liebte und verehrte die Wiesental, ihren Namen sprach sie auf unnachahmlich gehobene Weise, er blieb ihr sozusagen in der Nase stecken, die lang und gebogen zu einer Hülse wurde, solche Kostbarkeiten barg sie gern und gab sie nicht leicht her.“88 Nach Auskunft des Stadt- und Landesarchivs Wien war Veza Taubner hingegen nicht Schülerin der Schwarzwaldschule gewesen.89 Da Grete Wiesenthal nicht nur an der Schwarzwaldschule unterrichtet hat und 1917 ausserdem eine eigene Tanzschule gründete, ist der Tanzunterricht von Veza Taubner bei ihr durchaus plausibel.

Ein weiterer Grund für die grosse Verehrung der Grete Wiesenthal durch Veza Taubner könnte überdies im zeittypischen Paradigmenwechsel im künstlerischen Tanz gesucht werden, der von einem Feuilletonisten noch vor dem Ersten Weltkrieg folgendermassen zusammengefasst wurde: „Ich könnte mir eine moderne Tänzerin denken, die auf Krücken tanzt.“90 Veza Taubner fehlte der linke Unterarm.

Ob Veza Taubner an der Schwarzwaldschule als Lehrerin tätig gewesen war, kann ebenfalls nicht belegt werden, gehört aber in den Bereich des Möglichen.91 Zu ihrer Unterrichtstätigkeit schreibt Veza Taubner unter dem Pseudonym Veza Magd im Band Dreissig neue Erzähler des neuen Deutschland 1932 in den Notizen über Leben und Werk: „(…) an einem Privatuntergymnasium fand ich Anstellung als Lehrerin“92.

Interessanterweise gibt es mit Lily Spitz auch später noch Gemeinsamkeiten, hatte die Tänzerin doch schon anfangs der 30er Jahre während eines Engagements in London ihren Wohnsitz in Hampstead, wie auch später wieder, vor ihrer endgültigen Migration nach Amerika im Jahr 1940. In Hampstead werden die Canettis wie viele weitere Wiener Künstler, Dichter und Politiker nach ihrer Flucht im Jahre 1938 Wohnsitz nehmen.

Im erst posthum publizierten Drama Veza Canettis, Der Tiger, erscheint ein kleines Porträt einer international tätigen Tänzerin, vielleicht hat sich die Autorin von Lily Spitz inspirieren lassen:

„ BUFF tanzt herein. Sie ist klein und ihr Kopf wird von ihrer Nase heruntergezogen. Sie kreist um Smith, ihr Blick bleibt gebannt auf seinen Schuhen haften. Sie winkt allen zu, sitzen zu bleiben, dann spricht sie in schadhaftem Englisch. I have changed my mind, I have thought, I must come in, after all.

SMITH Smart. I’m afraid, we’ll have to speak German.

BUFF setzt sich. Wissen Sie, dass ich Sie neulich fasziniert beobachtet habe?

SMITH erstaunt. Mich? Mich haben Sie beobachtet?

BUFF Im Kaffee zum Tiger, Wissen Sie, was mich an Ihnen fasziniert hat?

SMITH Aber nein, das weiss ich nicht.

BUFF Ihre Füsse.

SMITH entsetzt. Meine Füsse.

BUFF Elastisch und doch kräftig. Tanzen Sie?

SMITH Es ist mir sehr leid, ich tanze nicht.

BUFF Schade. Sie sind d e r Tänzer. Sie kommen aus London?

SMITH Amsterdam.

BUFF schleudert den Stuhl weg und saust zum Grammophon. In Amsterdam habe ich grosse Erfolge gehabt, mit diesem Tanz – sie sucht unter den Platten und legt den Türkischen Marsch von Mozart ein. Ich find ihn leider nicht hier, aber das ist auch im ständigen Reportoire – sie beginnt zu tanzen und sinkt nach dem Tanz Smith zu Füssen. Man kann hier nicht gut tanzen, zu wenig Raum. Zigarette, bitte.

SMITH reicht ihr eine Zigarette und Feuer. Ja, natürlich. Man muss fliegen können.

BUFF Wie Sie mich verstehen!

SMITH Danke sehr.

BUFF Wann sind Sie in New York.

SMITH Ich denke im Winter.

BUFF Dann sehen wir uns dort. Sie springt auf, macht eine Pagenverbeugung und geht durch die Mitte ab, von Pasta gefolgt.“ (DF 117 f.)

A3. Freundschaften aus Kindheit und Jugend

Leider sind die meisten Freundschaften Veza Canettis aus Kindheit und Jugend nicht mehr direkt mit Quellen nachweisbar. Indirekt ergeben sich aber doch zwei wichtige Personen aus diesem Lebensabschnitt, Gerti Spitz und Alice Asriel. Den beiden Frauen kommt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für das Leben und die Netzwerke der Veza Canetti zu.

A3.1 Gerti Spitz

Bei Gerti Spitz (1899–1978), die von Elias Canetti in den Aufzeichnungen 1995 als Veza Canettis Jugendfreundin bezeichnet wird, handelt es sich nicht um eine Cousine aus dem Hause Spitz-Calderon, wie auf die Schnelle kombiniert werden könnte.93 Gertrude Marianne Spitz, wie sie später heisst, ist Schauspielerin. Sie migriert in den 30er Jahren nach Amerika und lebt nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin in New York. Verheiratet ist sie mit Richard J. Spitz.

Geboren wird Gerti Spitz in Wien als Gertrude Fuchs, sie lässt sich zur Schauspielerin ausbilden und verwendet den Künstlernamen Ariette Leslie. Sie ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tochter von Charles Fuchs, Seiden-, Schön- und Schwarzfärber an der Mollardgasse 72.94 Veza Canetti wird 1956 Soma Morgenstern, der ebenfalls in New York lebt, empfehlen, Kontakt mit ihrer Freundin aufzunehmen. Gerti Spitz habe gute Kontakte zum Kiepenheuer Verlag. Die Besitzerin des Kiepenheuer Verlags sei deren Freundin.95 Damit ist Noa Kiepenheuer gemeint, die nach dem Tod ihres Mannes Gustav Kiepenheuer 1949 in Weimar den Verlag in der DDR weiterführte. Am BRD-Zweig des Verlags von Gustav Kiepenheuer, der nach wenigen Jahren zum Verlag Kiepenheuer & Witsch wurde, war Noa Kiepenheuer nach einem Rechtsstreit nicht mehr beteiligt. Veza Canetti erwähnt in diesem Brief auch Gertis viel berühmtere Schwester, die Filmschauspielerin Olga Fabian.

Dass Gerti Spitz zu dem Personenkreis gehört, der sich noch Ende der 50er Jahre für Veza Canettis Theaterstücke einzusetzen bereit war, offenbart ein dringender Brief von 1957 an Ingeborg Bachmann, die Vezas Theaterstück etwas zu lange behalten hatte. Veza Canetti schreibt an Ingeborg Bachmann: „Bei Ihnen liegt noch mein Lustspiel ‚der Tiger‘. Würden Sie es gütigst sofort an eine Dame in New York senden, die es dringend braucht. Die Adresse Mrs Gertrud SPITZ (…)“96

Noch 1967 notiert Elias Canetti an seinem 62. Geburtstag zu Karten und Grüssen, die er erhält: „Aus Vezas Zeit: eine Gratulation von Edith Vogel, ein Brief von der Gerty Spitz aus Gastein.“97 Veza Canettis Jugendfreundin Gerti Spitz ist insofern interessant, als sie viele Beziehungen Veza Canettis zur deutschen und österreichischen Theater- und Verlagsszene erklären kann. Zum Beispiel die sehr frühe Bekanntschaft Veza Taubners mit Hermann Kesten. War doch dieser ab 1927 Lektor im Kiepenheuer Verlag. Noa Kiepenheuer war ab 1925 im Verlag ihres Mannes tätig, unter anderem auch als Übersetzerin.

A3.2 Alice Asriel

Im Haus der Familie Asriel in der Heine-Strasse am Praterstern in unmittelbarer Nähe der Ferdinandstrasse lernte Elias Canetti bei seinem ersten dreijährigen Wienaufenthalt 1915 im Alter von zehn Jahren, selbst ebenfalls wohnhaft in der Leopoldstadt, Josef-Gall-Gasse 5, den fast gleichaltrigen Sohn Hans Asriel kennen. Laut den Lebenserinnerungen wird er dort im Jahr 1924 beim zweiten Wienaufenthalt der Familie Canetti zum ersten Mal den Namen Vezas hören.98 Viele Freundschaften von Veza und Elias Canetti haben ihren Ursprung im Hause der Asriels. Elias Canetti schreibt dazu in Die gerettete Zunge:

 

„Die interessanteste Freundin der Mutter war Alice Asriel, deren Familie aus Belgrad stammte. (…) Sie lebte in der Wiener Literatur der Periode, das universale Interesse der Mutter ging ihr ab. Sie sprach von Bahr und von Schnitzler, in leichter Art, ein wenig flatternd, nie insistent (…) Gespräche waren ihr Leben, Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten, am liebsten hörte sie zu (…).“99

Mit der Vorliebe von Alice Asriel einerseits für Hermann Bahr (1863–1934), einen der wichtigsten Literatur- und Kulturtheoretiker der Jahrhundertwende mit einer grossen Offenheit für neue Strömungen in Literatur und Kunst, und andererseits für Arthur Schnitzler (1861–1931), Arzt und Dichter mit einem Blick für die psychologischen Nuancen des gesellschaftlichen Geschehens, wird bereits ein Wiener Kosmos aufgefächert, der in der Zwischenkriegszeit an Bedeutung zunehmen wird. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass Elias Canetti bei seinen vielen Besuchen bei den Asriels mit den Kindern Literarisches Quartett gespielt hat.100 Über Alice Asriel schreibt Elias Canetti: „Sie hat in meinem Leben eine Rolle gespielt“101, und führt weiter nicht aus, was dies genau gewesen sein könnte. Eine kleine Randbemerkung in den Lebenserinnerungen Theodor Waldingers Zwischen Ottakring und Chicago offenbart Profunderes: „Einer meiner ersten Pariser Wege führte mich zu Alice Asriel, einer bemerkenswerten Frau, die mir aus Wien flüchtig bekannt war. Die Asriels waren Freunde von Veza Taubner.“102 Die Freundschaft der Familie Asriel mit Veza Taubner kann schon sehr früh entstanden sein, da Alice Asriels Schwester, Sarina Levy, bereits 1900 Vezas Onkel Jacques J. Calderon geheiratet hat. Zudem ist für Alice Asriel bezeugt, dass sie in Paris Mitte der 30er Jahre Sprachunterricht erteilt haben muss103, was sie zur Berufskollegin Veza Taubners macht.

Über eine quellengestützte Begegnung zwischen Elias Canetti und Veza Taubner in diesen ersten Wienjahren der Familie Canetti zu Beginn des Ersten Weltkriegs ist äusserst wenig bekannt. Es ist aber davon auszugehen, dass es zu diesem Zeitpunkt seit langem mehr enge Kontakte zwischen den Familien Calderon und Canetti gegeben haben muss, als dokumentiert ist. Dies betrifft nicht nur die sehr nahen Wohnorte von Veza und Elias beziehungsweise die Nähe zu dem den Sepharden gemeinsamen türkisch-jüdischen Tempel, sondern insbesondere auch die Tatsache, dass Vezas Mutter Rahel Calderon und Mathilde Canetti ebenfalls mit Alice Asriel freundschaftlich verbunden waren.104

Ein kleines Schibboleth in den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis gibt zudem einen Hinweis darauf, dass das dort so eindrücklich beschriebene Kindermädchen Fanny möglicherweise Veza Taubners Freundin gewesen sein könnte. Wie bei anderen Namensverschiebungen innerhalb des Familienkosmos auch muss Elias Canetti für die Freundin Veza Canettis hier zwei verschiedene Namen eingeführt haben, in einem Manuskript wird sie Fanny genannt werden, in einem anderen Manuskript wird die gleiche Person Lucile heissen: „Name von Vezas Freundin: B 1.3.: Lucile. A 6: Fanny“.105 Da Fanny in einer Arbeitsnotiz Elias Canettis in den Unpublizierten Lebenserinnerungen als Freundin Vezas auftaucht, aber dann als Figur mit Konnotat Freundin Vezas nirgends dargestellt wird – weder in den Publizierten noch Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis –, ist anzunehmen, dass Fanny106 tatsächlich das Kindermädchen von 1915 ist. In den Publizierten Lebenserinnerungen kündigt das Kindermädchen seine Stelle bei den Canettis mit der Begründung, der Bub schlafe schlecht. Mutter und Sohn hatten mit dramatisch inszenierten Lesungen am Abend und mit Elias’ dramatischen Parodien des Verhaltens des Kindermädchens das Fass zum Überlaufen gebracht.107

Zur ersten Fahrt mit Fanny – der mutmasslichen Freundin Vezas – in der Grottenbahn im Prater notiert Elias Canetti in Die gerettete Zunge: „Ich setzte mich eilig ins Gefährt, eng an sie gedrückt, damit auch für die Kleinen Platz sei.“108 Zuvor hatte ihm Fanny über das Maul der Hölle, das den Eingang der Grottenbahn verziert, erzählt, es hätte genug Platz in der Hölle, „um die ganze Stadt Wien und all ihre Menschen zu verschlingen.“109