Veza Canetti zwischen Leben und Werk

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A2.1.2 Der Stiefvater Menachem Alkaley

Sehr wenig ist über Menachem Alkaley und dessen Sippe bekannt und doch erwähnt Elias Canetti, dass sich Veza 1961 in Zürich mit Erna Alkaley getroffen habe, der Enkelin ihres Stiefvaters, die in Belgrad mit einem Architekten verheiratet gewesen war.50 Möglicherweise ist dies ein Indiz dafür, dass das Verhältnis mindestens zur Familie Menachem Alkaleys nicht von Beginn weg ein arges gewesen sein muss, wie aus den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis hervorgeht. Interessant wäre ja diesbezüglich, mit wem der Stiefvater vor Rahel verheiratet gewesen war, wie viele Söhne und Töchter dieser Ehe entstammen und so weiter.

Besonders interessant wird es betreffs die Familie Alkaley, wenn man wiederum die Erzählung Geld-Geld-Geld von Veza Canetti hinzuzieht.

Einer der in den historischen Adressbüchern verzeichneten Alkaleys, die in Wien ansässig sind, heisst Salomon Alkaley, er ist Besitzer einer Schuhfabrik. Falls dieser wirklich ein Sohn von Menachem Alkaley wäre (es gibt im Wien der Zwischenkriegszeit gemäss Lehmann’s Adressbuch weitere Alkaleys), erhält die in Geld-Geld-Geld erzählte Geschichte um die Magd, die ihren Brotgeber aus Rache mit ungesundem Essen vergiftet, eine grössere autobiografische Brisanz als vorerst angenommen.

Zu der oben dargelegten Übereinstimmung des Stiefvaters mit Menachem Alkaley kommt nun ausserdem hinzu, dass der Mord der Magd an diesem als Rache für das In-den-Tod-Treiben ihres eigenen Ehemannes tatsächlich vor einem weiteren realen Hintergrund zu sehen wäre. Dass ein Schuster Schulden bei einem Schuhfabrikanten haben könnte, ist mehr als wahrscheinlich. Ebenso gut ist denkbar, dass die Schuhfabrik zuvor Menachem Alkaley gehört hatte. Vielleicht hat sich Veza Canetti einfach vom Alkaley-Umfeld zu dieser gelungenen Erzählung inspirieren lassen. Auch für den psychisch kranken Immobilienbesitzer und Rentier Pilatus Vlk im Roman Die gelbe Strasse gibt es im Alkaley-Umfeld, neben dem Stiefvater, genügend andere potenzielle Vorbilder.

A2.1.3 Zwei Halbbrüder

Die beiden Halbbrüder Wilhelm Taubner und Morris H. Calderon waren mit höchster Wahrscheinlichkeit von der Unteren Viaduktstrasse über die Radetzkystrasse 2 bis zur Tempelgasse 6 im Familienverband noch dabei, am neuen Wohnort Matthäusgasse 5, ab 1905, werden sie nicht mehr aufgeführt. Was die Tatsache bedeuten könnte, dass die beiden Jungen im Register der Stadt Wien – wo Hermann Taubners Todestag mit 1. Dezember 1904 eingetragen wurde – sofort oder womöglich eher Monate oder Jahre später gestrichen wurden, ist schwer zu sagen.

Einerseits waren die beiden Brüder da bereits 17 und 20 Jahre alt, also in einem Alter, in dem sie selbständig einer Arbeit nachgehen konnten, falls sie nicht studierten; andererseits ist erwägenswert, dass gerade der Tod des Vaters sie aus finanziellen Gründen in die Arbeitswelt und damit in die Selbständigkeit geworfen haben könnte.

Vezas Halbbrüder sind 12 und 13 Jahre älter als Veza. Was das für ein Mädchen bedeuten kann, mit zwei Brüdern im Teenageralter aufzuwachsen, beschreibt Veza Canetti in Die Gelbe Strasse: „Frau Andrea pflegte von sich zu erzählen, sie wäre als Kind recht hässlich gewesen und häufig kränklich. Von ihren Brüdern sprach sie mit viel Heiterkeit, besonders einer Begebenheit erinnerte sie sich, wie die Brüder nämlich eines Tages weisse Mäuse heimbrachten und jeder eine weisse Maus beim Schweif fassen und in den Mund stecken musste. (…) ‚Als Kind habe ich gern Tabak geschnupft‘, erzählte Frau Andrea. ‚Meine Brüder haben mich erst gezwungen, und dann hab ich es mir angewöhnt. Auch weisse Mäuse musst ich immer beim Schweif nehmen und in den Mund stecken. Sie kribbelten mir dann im Gesicht herum, es war schrecklich.‘“ (GSt 119, 127)

Der Kontakt zum älteren Bruder, Morris H. Calderon, der später in Surrey lebte, scheint nie abgebrochen zu sein. Über die Beziehung zu Wilhelm ist nichts bekannt.

Der Bruder Wilhelm Taubner, 1885 geboren, stammte aus der ersten, geschiedenen Ehe des Vaters von Veza Taubner. Mit Ausnahme des Namens der Mutter, Amalie, geborene Noskovitz, ist nichts über diese erste Familie bekannt. Leider ist auch über das weitere Leben von Wilhelm Taubner, der beim Tod des Vaters als Handelsangestellter bezeichnet wird, nichts aufzufinden.51

Morris H. Calderons Spuren in den Archiven Wiens verlieren sich 1911, als er im Alter von 27 Jahren mit Jacques J. Calderon, einem Bruder seiner Mutter, und dessen Familie nach England auswandert. Morris H. Calderon wird von Veza Bucky genannt. Er erscheint in verschiedenen Quellen als der Greissler in Surrey, da er vor dem Zweiten Weltkrieg ein Süsswarengeschäft in Lightwater bei Bagshot führt. (BaG 384)

Veza Taubner hat sich wahrscheinlich in ihrer Jugend und Adoleszenz oft bei ihm selbst oder dann beim Onkel Jacques J. Calderon und dessen Familie in Manchester aufgehalten.

Wie wichtig Morris Calderon für Veza während ihrer letzten Jahre in Wien gewesen sein muss, erfährt man aus einem Brief an Georges aus dem Jahr 1936: „Wir hungerten. Wir hatten keine Kohle. Wir waren krank und hatten keinen Schilling im Haus. Lange lange Zeit. Mein Bruder, ein armer Greissler in Surrey, zahlt uns den Zins.“ (BaG 62) Und auch noch zehn Jahre später, 1946, formuliert Veza Canetti ganz allgemein hinsichtlich der Verwandten in England: „(…) ganz zu schweigen davon, dass ich sie in den letzten Jahren einiges an Geld gekostet hab, das kannst Du mir glauben.“ (BaG 202)

Eine ausgesprochen nette Charakterisierung des Bruders Morris, der tatsächlich gerne Ingenieur geworden wäre und fünf Sprachen spricht, liefert Veza am 31. März 1938 an Georges Canetti: „Ja, wenn mein ehrbarer Bruder in Surrey wüsste, dass ich Ihnen Liebesbriefe schreibe, er würde seine reinen guten Augen weit aufreissen, denn er hat Charakter. Er spricht fünf Sprachen, wäre gern Ingenieur geworden, träumt von einem riesigen Park, in welchem Elephanten, Eisbären, Gazellen (also Sie), Igel und Schweinchen friedlich herumspazieren und ihm aus der Hand fressen.“ (BaG 103)

A2.1.4 Der Paranoiker

Veza Canetti schreibt in einem Brief aus dem Jahre 1937: „Ich habe als Kind mit einem Paranoiker zusammengelebt, der seit zehn Jahren in Wien interniert ist.“ (BaG 83) Wer dieser Paranoiker ist, lässt Raum für Spekulationen. Die Frage ist, wer lebte im Haushalt von Rahel Calderon, der unter einer psychischen Krankheit litt. Die beiden Ehemänner Hermann Taubner und Menachem Alkaley können es nicht gewesen sein, weil beide 1937 längst tot waren. Möglich wäre, dass damit der Halbbruder Veza Taubners, der zwölf Jahre ältere Wilhelm, gemeint sein könnte, dessen Spuren sich im Einwohnerregister der Stadt Wien im Jahr 1905 verlieren. Falls die zweite Aussage Veza Canettis im gleichen Brief dieselbe Person betrifft, war diese zuvor bereits in der psychiatrischen Klinik in Inzersdorf hospitalisiert. „Mein Irrer in Inzersdorf liess mich immer im Radio die Hetzreden gegen ihn anhören.“ (BaG 83)52 Eher ungewöhnlich wäre allerdings dann, dass Veza Canetti den Namen des Paranoikers oder Irren nicht nennt, vor allem dann nicht, wenn es sich um den Halbbruder Wilhelm gehandelt haben könnte. Durchaus nicht auszuschliessen ist, dass Rahel Calderon in ihrer Wohnung einen psychisch kranken Menschen allenfalls gegen Bezahlung betreut hätte.

A2.2 Die Grosseltern mütterlicherseits

Der Grossvater Josef M. Kalderon ist spätestens seit 1877 in Wien wohnhaft und ab 1881 mit eigener Firma. Am Anfang mit wechselnden Geschäftspartnern wie mit den Brüdern Jacques M. Kalderon53 und Heinrich M. Kalderon, den Schwiegersöhnen Josef Cohen und Isaac Farchy, ab Ende der 80er Jahre führt Josef M. Kalderon das Geschäft in eigener Regie. Die Familie Josef M. und Veneziana Kalderon lebt nach Lehmann’s Adressbuch seit 1878 in Wien. Denkbar ist aber auch ein früherer Wohnsitz, da ein Kalderon M. oder Men. schon 1860 und 1861 mit einer Firma am Hafnersteig verzeichnet ist. Hier gibt es dann allerdings eine Lücke von 16 Jahren bis zum Jahr 1877, in der keine Kalderons mehr in Wien vermerkt werden.

Ab 1900 wird die Firma Josef M. Kalderon zu Josef M. Calderon & Söhne. Von den Söhnen ist allerdings nur noch Jacques J. Calderon in Wien wohnhaft.

Nach dem Tod des Grossvaters 1908 gibt es die Firma noch ein Jahr lang, aber bereits 1910 existiert sie nicht mehr.

1911 wandert der Sohn Jacques J. Calderon nach England aus und ab 1911 ist gleicherweise der zweite Sohn Morris J. Calderon in Wien nicht mehr registriert.54

Veza Taubners Grossmutter Veneziana Calderon, geborene Elias, lebt bis zu ihrem Tod im Jahr 1922 weiter an der Radetzkystrasse 13.55 In den Unpublizierten Lebenserinnerungen schreibt Elias Canetti über die Grosseltern von Veza: „Der alte Calderon, der eine Frau namens Veneziana Elias geheiratet hatte, war ein sehr wohlhabender und hochgeachteter Mann, der in der spaniolischen oder wie man sie offiziell nannte türkisch-israelitischen Gemeinde Wiens als grossherziger Wohltäter galt. Er hatte den ‚türkischen‘ Tempel in der Zirkusgasse gestiftet, auf zwei grossen Marmortafeln vor dem Eingang prangte rechts sein Name, links der seiner Frau.“56

 

Womöglich hatten diese Donatorentafeln etwas mit dem Neubau des türkisch-jüdischen Tempels in der Zirkusgasse 22 (1885–1887) zu tun. Es ist gut vorstellbar, dass der türkische Grosshändler Josef M. Calderon, der bereits seit zehn Jahren in Wien ein Geschäft führte, sich als Donator oder Sponsor für die Synagoge engagierte und damit auch profilierte. Der Neubau des erst 1868 errichteten Bethauses an der Zirkusgasse 22 war nötig geworden, da dieses „gleich zu Beginn grosse Mängel in der Planung“57 aufgewiesen hatte.

Konkreter zur Bedeutung der Donatorentafeln wird Elias Canetti in den Entwürfen zum Augenspiel, indem er bezogen auf seine Heirat in ebendiesem Tempel erwähnt, dass an diesem Ort ja schon seit Beginn eine Tafel mit dem Namen Veneziana Elias gestanden habe, der prophetische oder gleichsam visionäre Gehalt der Tafel offenbare sich nun bei der Hochzeit des Dichterpaares: „Wir heirateten Ende Februar 1934 im Tempel in der Zirkusgasse. Er war von Vezas Grossvater Rafael Calderon (Josef M. Calderon, Anm. va) für die spaniolische Gemeinde in Wien erbaut worden. In einer Mauer rechts vom Eingang waren zwei grosse Tafeln eingelassen worden, die den Namen des Stifters und seiner Frau trugen. Vezas Grossmutter, nach der sie genannt worden war, hiess mit Vornamen Veneziana. Mit ihrem Familiennamen hiess sie Elias. So stand auf der einen Tafel in grossen Goldbuchstaben VENEZIANA ELIAS. Seit der Erbauung dieses Tempels – ich denke, nicht lange vor der Jahrhundertwende – waren unsere Namen hier nebeneinander gestanden. (Sie finden sich heute nicht mehr dort. Im November 1938 wurde dieser Tempel wie alle andern in der Leopoldstadt in Brand gesteckt und die Tafeln herausgeschlagen.)“58

Eine total andere Bedeutung – ganz im Sinne des dialektischen Materialismus – erhalten Donatoren und ihre Tafeln in den literarischen Werken Veza Canettis. Der als sehr geizig geltende, Ehefrau und Kinder prügelnde Iger aus dem Roman Die Gelbe Strasse und dem Drama Der Oger erhält eine goldene Ehrentafel wegen seinen Spenden für das Kinderheim. Die Autorin lässt keinen Zweifel daran, dass es bei den grosszügigen Spenden von Iger nur um den Eintrag auf der Ehrentafel und die damit einhergehende Selbsterhöhung gegangen sei und nicht um das Wohlergehen der Kinder im Kinderheim. Noch sarkastischer ist diese Sachlage dargestellt in der nach 1933 nie mehr separat publizierten Erzählung Der Zwinger: „(…) in dem über jedem Bett eine grosse Marmortafel mit dem Namen des Spenders hing“.59 Diese Erzählung, in der tatsächlich im Zentrum ein Zwinger steht, mit dem im Volksmund eine Kinderbewahranstalt bezeichnet wird, wurde von der Autorin später zusammen mit der prämierten Erzählung Ein Kind rollt Gold zu einem Kapitel mit dem Titel Der Zwinger in den Roman Die gelbe Strasse eingearbeitet.

Eine sogenannte Kinderbewahranstalt befindet sich an der Unteren Weissgerberstrasse 12 unweit des Radetzkyplatzes, das heisst, des Wohnortes der Grosseltern, und damit nicht allzu weit entfernt von Veza Taubner, die nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter an der Matthäusgasse 5 ebenfalls in der Nähe des Radetzkyplatzes gewohnt hatte (1905–1911). Hier könnte die Autorin im Alter von 8 bis 14 Jahren mit Kindern aus dem Kinderheim – möglicherweise über den gemeinsamen Schulort – in Kontakt gekommen sein.

Bekannt sind die sehr häufigen Aufenthalte der Grossmutter Veneziana Calderon, geborene Elias, in ihrem Herkunftsort Baden bei Wien. Dies ist bezüglich Veza Taubner von Interesse, da sie ihre Grossmutter schon in der Kindheit an diesen Ort begleitet haben könnte. Hier kann sie schon sehr früh mit dem Dichter Alfred Grünewald in Kontakt gekommen sein, war er doch später assoziiert mit den Felonen (Gruppe sozialistischer Jugendlicher), die auch für Veza Taubner Bedeutung erlangen werden. Alfred Grünewald besuchte in Baden bei Wien häufig seine Schwester, die dort ihren Wohnsitz hatte. In der gleichen Strasse wie Grünewalds Schwester wohnte zeitweilig ausserdem Stefan Zweig.60 Exkurs: Vielleicht kann diese Gegebenheit die Existenz eines Gedichtes an Stefan Zweig erklären, das sich in Elias Canettis Nachlass befindet und undatiert ist, aber vor 1928 geschrieben worden sein muss. Es ist ein Hassgedicht oder eine Art Mitteilung an Stefan Zweig, darin dieser als Nebenbuhler in der Liebe oder Literatur aufscheint.61 Ob Elias Canetti mit der „Hur“ jemand aus dem Umfeld der Calderons gemeint haben könnte, geht aus dem Gedicht nicht hervor. Bestimmt ist es hingegen eine Anspielung auf Stefan Zweigs stadtbekannte Vorliebe für ganz junge Frauen. Gut dokumentiert ist jedoch, dass Elias Canetti Stefan Zweig über dessen Tod hinaus gehasst hat, obwohl ihm dieser 1935 seinen ersten Verlag vermittelt hatte.

„An Stefan Zweig

Auf wessen Schoss sie morgen

Ihren Altersschlaf hält

Und ob sie als zahnlose Hur

Dir noch besser gefällt.“62

Eine frühe Bekanntschaft von Veza Taubner mit Stefan Zweig – den Carl Zuckmayer als Katalysator für Talente bezeichnet – könnte viele, sehr frühe Kontakte (vor und nach dem Ersten Weltkrieg) von Veza Taubner in der Dichter- und Kunstszene Wiens erklären. „Stefan Zweig war ein ausgesprochener Katalysator: unerschöpflich seine Freude, Menschen, von denen er etwas hielt, zusammenzubringen. So habe ich erst durch ihn Joseph Roth, den er besonders liebte, auch Bruno Walter und Toscanini kennengelernt.“63

Stefan Zweig und Alfred Grünewald sind aber durchaus nicht die einzigen Kontakte zur Dichterszene, die die Familie Calderon gepflegt haben muss.

A2.3 Die Geschwister der Mutter Rahel Calderon

Von den sieben Geschwistern von Veza Taubners Mutter Rahel Calderon sind zwei Onkel, Jacques J. und Moritz J. Calderon, sowie die beiden Tanten Olga Hirsch und Camilla Spitz bezüglich der Autorin von Interesse.

A2.3.1 Die Onkel Jacques J. und Moritz J. Calderon

Ein kleines Kuriosum bilden die beiden Söhne von Josef M. Calderon, dem Grossvater von Veza, beide sind in den Adressbüchern der Stadt Wien erst von dem Punkt an aufgeführt, wo sie zur Firma gehören. Es ist anzunehmen, dass die beiden zuvor bei ihren Eltern, Radetzkystrasse 13, gewohnt hatten. Jacques J. Calderon, der bei der Firmengründung 40 Jahre alt ist, heiratet 1900 anlässlich des Eintritts in die Firma des Vaters die 20 Jahre jüngere Sarina Levy. Er wechselt bis zur Aufgabe der Firma nach dem Tod des Vaters 1908 viele Male seine Adresse in Wien. Im Jahr 1911 wandert die inzwischen vierköpfige Familie schlussendlich mit Dienstmädchen und dem Neffen Morris Calderon, dem Bruder von Veza Taubner, nach England aus.

Der zweite, im Jahr 1900 bei der Firmengründung erst 30-jährige Bruder von Rahel Calderon, Moritz J. Calderon, wird in den Firmen-Adressbüchern immer als in Belgrad ansässig bezeichnet, vielleicht handelt es sich um eine Zweigniederlassung oder sogar das ursprüngliche Hauptgeschäft. Seine Heirat mit Sultana, geborene Demajo, wird bei der Israelitischen Kultusgemeinde Wien dadurch nicht verzeichnet und sein Name taucht in den Wiener Adressbüchern nach Aufgabe der Firma nicht mehr auf.

Gleich mehrfach bedeutend ist diese Migration des Onkel Jacques J. Calderon für Veza Taubners weiteres Leben. Elias Canetti schreibt in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen dazu:

„Ihre (Veza Canettis, Anm. va) englischen Verwandten, die sie oft besuchte, wohnten teils in Manchester, teils in London. Wenn sie in Manchester war, wohnte sie in der Burton Road, West Didsbury, in unserer Strasse. Ich hörte aus ihrem Munde dieselben Namen, die ich als die letzten Worte meines Vaters in Erinnerung hatte. Es waren die Namen, die unsere Adresse bildeten und er sagte sie dem kleinen Bruder Georg vor, damit er an ihnen das Sprechen übe. Das Vertrauen, das ich zu ihr fasste, als ich aus ihrem Mund von der Burton Road hörte, kam wie eine Erlösung, es war, als sei der Krieg zuhause zu Ende gegangen, vielleicht hätte ich doch früher schon kommen sollen. Doch blieb es nicht ganz bei dieser Übereinstimmung, in einem Punkte, der sich auf Menschen der Burton Road bezog, gerieten wir aneinander. Sie pflege dort bei einem Bruder ihrer Mutter zu wohnen, der dafür bekannt sei, dass er immer lache. ‚Jacques Calderon mit dem unendlichen Schnurrbart‘, sagte sie und plötzlich sah ich den Mann vor mir, der bei der Gedächtnisfeier für meinen Vater neben den anderen Männern an der Wand unseres Esszimmers stand und lachte. Ich hatte ihn schlagen wollen vor Wut, aber er war viel zu gross für mich, ich rannte weinend aus dem Zimmer und bewahrte ihm ein schreckliches Gedenken. Das sagte ich ihr jetzt und schilderte ihn, in den Jahren seither war das Bild, das ich von ihm hatte, nicht besser, nur böser geworden. Sie suchte mir ein anderes zu geben: er sei ein einfacher Mann, der niemand etwas zu leid tun könne und aus Gutmütigkeit immer lache. Er sei nicht sehr klug, Zureden oder gar trösten, das könne er nicht, darum suche er jede schwierige Situation durch Lachen zu überbrücken, das habe er damals gewiss auch versucht, er sei gar nicht dazu imstande, sich den Ernst und die Trostlosigkeit eines Kindes vorzustellen.“64

Die Familie von Elias Canetti migrierte nicht nur im gleichen Jahr, sondern wohnte obendrein in der gleichen Strasse wie Veza Taubners Onkel Jacques J. Calderon. So ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Veza Taubner schon vor dem Ersten Weltkrieg mit der Familie von Elias Canetti in Kontakt gekommen war. Veza Taubner muss sogar direkt von Jacques J. Calderon vom Tod des Vaters von Elias Canetti erfahren haben, wie er selbst in den Unpublizierten Lebenserinnerungen schreibt, und dabei hat sich der Onkel aus der Perspektive von Veza nicht schlecht benommen: „(…) derselbe Mann, den ich für so herzlos halte, habe mit Wärme und Teilnahme davon gesprochen, von ihm habe sie es erfahren und als etwas Unfassbares in Erinnerung behalten. Sie habe sich manchmal seither gefragt, was aus den drei kleinen Kindern ohne Vater geworden sei.“65

Über das konkrete Leben von Jacques J. Calderon in England ist hingegen bis anhin wenig bekannt. Sarina Calderon, seine Frau, muss in England zu Reichtum gekommen sein. Als Witwe ihres Mannes oder aus anderen Gründen, ist nicht bekannt. Sarina Calderon-Levy unterstützt bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ihre Schwester Alice Asriel-Levy – eine Freundin Veza Canettis – während deren Exil in Paris. Auch muss sie während des Zweiten Weltkriegs weitere Wiener Verwandte und Bekannte, die nach London migriert waren, unterstützt haben, wie beispielsweise ihre Schwester Tony Levy/Wally Loew (beide Namen sind gebräuchlich) oder die Schwägerinnen von Fredl Waldinger, einem gemeinsamen Freund der Familien Calderon, Asriel und Canetti.66

Sarina Calderon-Levy ist zudem eine Schulfreundin von Olga Schnitzler, der Ehefrau von Arthur Schnitzler. Arthur Schnitzler erwähnt in seinem Tagebuch von 1921 den Besuch von Sarina Calderon-Levy bei seiner Ehefrau. Sarina Calderon sei aus Manchester angereist, um ihrer Schwester Alice Asriel-Levy bei deren Scheidung zu helfen.67