Öffentliches Recht im Überblick

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Erstes Kapitel Europarecht

Inhaltsverzeichnis

I. Grundlagen der EU

II. Ziele der EU

III. Organe der Union

IV. Unionsrecht

V. Grundfreiheiten

VI. Grundrechte-Charta

Erstes Kapitel Europarecht › I. Grundlagen der EU

I. Grundlagen der EU

1. Entstehungsgeschichte

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 19-35.

a) Gründung der drei europäischen Gemeinschaften (1951–1957)

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Die heutige Europäische Union (EU) nahm ihren Anfang zunächst in Gestalt einzelner Gemeinschaften, die wirtschaftlich – teilweise auf bestimmte Märkte – fokussiert waren. So gründeten Frankreich, Italien, die Beneluxstaaten[1] und die (westdeutsche) Bundesrepublik bereits wenige Jahre nach erbitterter Feindschaft im 2. Weltkrieg – nämlich 1951 – die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS), wodurch ein gemeinsamer Markt für diese Wirtschaftsgüter innerhalb der sechs Mitgliedstaaten entstand. 1957 vereinbarten diese sechs Länder in den berühmten Römischen Verträgen daneben die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG).

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Diese drei europäischen Gemeinschaften teilten sich (seit dem Fusionsvertrag von 1965) trotz jeweiliger rechtlicher Eigenständigkeit eine gemeinsame Organstruktur, wie sie heute noch in der EU besteht. Dazu gehören der (Minister-)Rat, das Europäische Parlament (früher: die Parlamentarische Versammlung), die Kommission (früher: die Hohe Behörde) und der Europäische Gerichtshof (zu den Organen siehe unten, Rn. 95 ff.). In den Folgejahren erweiterten sich die drei Sechser-Gemeinschaften zunächst um Dänemark, Großbritannien und Irland (1973, sog. Norderweiterung), dann um Griechenland und schließlich um Spanien und Portugal (1981 und 1986, sog. Süderweiterungen) zu Zwölfer-Gemeinschaften. Seit 1979 wird das Europäische Parlament nicht mehr durch die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten beschickt, sondern von den Mitgliedsvölkern direkt gewählt (zuletzt wieder 2019).

b) Vertrag von Maastricht (1992), insbesondere Gründung der Europäischen Union

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Einen qualitativ besonderen Meilenstein auf dem Weg zur heutigen EU bildete der Vertrag von Maastricht, der 1992 abgeschlossen wurde.[2] In diesem Vertrag wurde erstmals eine „Europäische Union“ gegründet, allerdings noch ohne eigene Rechtsfähigkeit und als bloßes Dachkonstrukt, das auf drei eigenständigen Säulen ruhte. Die erste Säule bildeten dabei die drei europäischen Gemeinschaften (von denen die EWG in EG für Europäische Gemeinschaft umbenannt wurde), die zweite und dritte Säule stellten die neu geschaffene „gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) sowie die ebenfalls neue „polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS) dar.[3]

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Gleichwohl war mit der Gründung der EU ein starkes politisches Signal verbunden, dass sich die Verbindung der Mitgliedstaaten nicht nur wirtschaftlich, sondern umfassend politisch verstand. Besonders unterstützt wurde dieser Aspekt durch die Einführung einer europäischen Unionsbürgerschaft (dazu unten mehr, Rn. 55 ff.), die die jeweiligen nationalen Staatsangehörigkeiten ergänzte.

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Außerdem wurde im Rahmen des Maastricht-Vertrages der EG-Vertrag durch die Schaffung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion qualitativ vertieft. Damit war nicht nur eine Koordination der Wirtschaftspolitik der EG-Staaten verbunden, sondern auch die Geburtsstunde der 2002 eingeführten Gemeinschaftswährung „Euro“ und eines europäischen Zentralbanksystems. Zugleich wurde mit den Konvergenzkriterien Preisniveaustabilität, Verschuldungsgrenzen für öffentliche Haushalte, Wechselkursstabilität und niedrige langfristige Zinsen (vgl. Art. 140 I AEUV; sog. „Maastricht-Kriterien“) eine – leider in der Folgezeit nicht immer eingehaltene – Grundlage für den Erfolg des Euros gelegt, die in Zeiten der Euro-Krise wieder stärker ins allgemeine Bewusstsein getreten ist.[4]

c) Vertrag von Nizza (2001) und starke Erweiterung der Union

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Bei der Konferenz von Nizza (2000) wurde die Handlungsfähigkeit der EU durch die verstärkte Ersetzung des Einstimmigkeitsprinzips durch das Prinzip qualifizierter Mehrheiten bei der Beschlussfassung im (Minister-)Rat erhöht. Zugleich wurde die – rechtlich allerdings zunächst nicht verbindliche – Charta der Grundrechte der EU (GRC) proklamiert.[5]

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In der Folgezeit vergrößerten sich die europäischen Gemeinschaften (und damit die EU) durch zahlreiche weitere Beitrittsländer erheblich. So kamen zunächst 1995 Finnland, Österreich und Schweden (15 Mitglieder, sog. EFTA-Erweiterung) und später im Rahmen der Osterweiterungen Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien sowie die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, aber auch Malta und Zypern (2004: 25 Mitglieder) sowie Bulgarien und Rumänien (2007: 27 Mitglieder) hinzu. Der Club der Zwölf hatte sich damit innerhalb relativ kurzer Zeit mehr als verdoppelt. Mit Kroatien (2013) als bislang letztem Beitrittsland gehörten der EU von 2013 bis 2020 28 Mitgliedstaaten an.[6] Seit dem Brexit im Januar 2020 (s.u. Rn. 49 f.) sind es wieder 27 Mitgliedstaaten.

d) Vertrag von Lissabon (2007)

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Der nächste – und bislang letzte – größere Integrationsschritt der EU erfolgte mit dem Vertrag von Lissabon, der 2007 verabschiedet wurde und 2009 (nach seiner Ratifikation in allen Mitgliedstaaten) in Kraft getreten ist. Zuvor war der Versuch einer europäischen Verfassungsgebung gescheitert. 2001 war ein „Konvent zur Zukunft Europas“ damit beauftragt worden, einen EU-Verfassungsvertrag zu erarbeiten. Dieses Vertragswerk wurde jedoch bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden abgelehnt, was einen ersten schweren Rückschlag des bis dahin völlig ungehinderten Integrationsprozesses der EU bedeutete.[7] Ein großer Teil der Inhalte des gescheiterten Verfassungsvertrags konnte jedoch – allerdings ohne die darin vorgesehene Staatssymbolik wie Hymne, Flagge und Leitspruch – im Lissabon-Vertrag verankert werden.[8]

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Durch den Lissabon-Vertrag wurden die primärrechtlichen Verträge – der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) – in ihre heutige Form gebracht, die in den nachfolgenden Abschnitten näher erläutert wird. An dieser Stelle sollen jedoch einige Eckpunkte hervorgehoben werden:

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Die Grundrechtecharta wird den europäischen Verträgen ausdrücklich gleichgestellt (Art. 6 I UA 1 EUV) und damit nicht nur rechtlich verbindlich gemacht, sondern auf der Ebene des Primärrechts verankert (zu den Begriffen und Ebenen des Primär-, Sekundär- und Tertiärrechts siehe unten, Rn. 182–207).

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In institutioneller Hinsicht wird der Europäische Rat (neben dem Ministerrat, s.u. Rn. 123 ff.), der hauptsächlich aus den Staats- und Regierungschefs besteht, im EUV verankert (Art. 13 I EUV). Das Europäische Parlament wird weiter gestärkt und im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren dem (Minister-)Rat als grundsätzlich gleichberechtigter Mitgesetzgeber zur Seite gestellt (Art. 294 AEUV).

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e) Zusammenfassende Übersicht

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Abbildung 4:

Entwicklung der EU


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2. Grenzen des Integrationsprozesses

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 43-57b.

a) Brexit

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Von der Austrittsmöglichkeit in Art. 50 EUV hat Großbritannien Gebrauch gemacht. So votierte die britische Bevölkerung am 23.6.2016 mit 51,9 % (bei einer Abstimmungsbeteiligung von 72,2 %) für den Austritt aus der EU („Brexit“), woraufhin die britische Regierung mit Schreiben vom 29.3.2017 das Austrittsverfahren gem. Art. 50 II EUV eingeleitet hat. Nach mehreren Verlängerungen der damit begonnenen zweijährigen Austrittsfrist gem. Art. 50 III EUV endete die britische EU-Mitgliedschaft am 31.1.2020. Die im Austrittsabkommen vereinbarte Übergangsfrist läuft zum 31.12.2020 ab, so dass der Brexit seit 2021 voll wirksam ist.[13]

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Neben populistischer und unsachlicher Kritik an der EU spiegelt sich in dieser Entwicklung ein auch in vielen anderen EU-Staaten (ausweislich entsprechender Wahlergebnisse für EU-skeptische Parteien) festzustellendes Unwohlsein mit dem Integrationsprozess einer immer engeren, immer mehr Politikfelder besetzenden und unübersichtlicher werdenden Union.

b) Rechtsprechung des BVerfG

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Auch in Deutschland zeigt sich dieser Trend. In besonderer Weise gilt dies für die Verfassungsbeschwerden, die sowohl gegen den Maastricht-Vertrag von 1992 als auch gegen den Lissabon-Vertrag von 2007 (bzw. gegen die deutschen Ratifikationsgesetze dazu) erhoben wurden. In beiden Fällen hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerden zugelassen, weil die Souveränitätsübertragungen auf die EU den Entscheidungsspielraum des Bundestags gegenständlich reduzieren und dadurch das grundrechtsgleiche Wahlrecht jedes einzelnen mittelbar betroffen sei.[14] In inhaltlicher Hinsicht wurden die Verfassungsbeschwerden dann zwar zurückgewiesen. Aber das BVerfG hat die Gelegenheiten dazu genutzt, der deutschen Politik klare Grenzen für den weiteren Integrationsprozess ins Stammbuch zu schreiben. So erhebt es in beiden Entscheidungen ausdrücklich den Anspruch, als nationales Gericht eines Mitgliedstaates Rechtsakte der Union für unwirksam zu erklären, wenn sie über den Kreis der der EU übertragenen Kompetenzen hinausreichen („ultra vires“). Außerdem müssen nach der Maastricht-Entscheidung dem Bundestag „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“, damit das vom GG besonders geschützte (deutsche) Demokratieprinzip gewahrt ist.[15] Noch sehr viel deutlicher wird das Gericht schließlich im Lissabon-Urteil. Dort betont es einen Vorbehalt deutscher Staatlichkeit, was in der Nennung von nicht auf die EU übertragbaren Politikfeldern (Strafrecht, innere und äußere Sicherheit mit staatlichem Gewaltmonopol, Steuern und Haushalt, Sozialstaat, grundlegende Kulturfragen) konkret ausformuliert wird. In Verbindung mit der Ewigkeitsgarantie (s.u., Rn. 306 f.) hält es daher eine Weiterentwicklung der EU zu einem Bundesstaat aus grundgesetzlicher Sicht für ausgeschlossen.[16]

3. Rechtscharakter

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 36-42.

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Was für ein rechtliches Gebilde ist die EU nun eigentlich? Die klassischen Rechtsformen Bundesstaat und Staatenbund passen jedenfalls nicht so richtig. Für einen Bundesstaat sind die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ zu stark. Für einen Staatenbund hingegen ist die Union zu stark, die immerhin auf vielen Politikfeldern durch supranationales – also für die Mitgliedstaaten bindendes – Recht verbindliche Vorgaben machen kann. Zum Staatenbund passt es eben nicht, dass die Mitgliedstaaten schon weitreichende Souveränitätsrechte schrittweise an die Union übertragen haben. Aber gerade diese Supranationalität – d.h. die themenspezifische Überordnung der EU über die Einzelstaaten – ist ein zentrales Merkmal des rechtlichen Charakters der EU.[17] Hinzu kommt die für einen Staatenbund völlig atypische Unionsbürgerschaft, wonach die Angehörigen der Mitgliedstaaten zugleich unmittelbar Bürger der EU sind (s.u., Rn. 55 ff.).

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Das BVerfG hat in seiner Lissabon-Entscheidung daher einen Begriff geprägt, der zwischen diesen beiden klassischen Kategorien liegt. Danach handelt es sich bei der EU um einen „Staatenverbund“, den das Gericht wie folgt näher definiert hat:[18]

„Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“ (BVerfGE 123, 267 [348])

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Abbildung 5:

Rechtscharakter der EU


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Neben dieser eher juristisch-abstrakten Einordnung der EU in das begriffliche Arsenal staatsähnlicher Erscheinungsformen legt das europäische Primärrecht selbst fest, dass die EU gem. Art. 47 EUV Rechtspersönlichkeit (also die Fähigkeit zu eigenem und rechtsverbindlichen Handeln) besitzt. Zudem verfügt die Union gem. Art. 335 AEUV in jedem Mitgliedstaat über „die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit“, die juristischen Personen nach den jeweiligen nationalen Vorschriften eingeräumt ist. Diese zweifache Erwähnung der Rechtsfähigkeit legt nahe, dass Art. 47 EUV die Rechtsfähigkeit „nach außen“ meint, also die Qualität als Völkerrechtssubjekt. Danach hat die EU die Fähigkeit zum Abschluss internationaler Verträge oder der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen. Demgegenüber meint Art. 335 AEUV die „nach innen“ gerichtete zivilrechtliche Rechtsfähigkeit, wozu etwa die Eigentumsfähigkeit, die Arbeitgeberfähigkeit u.Ä. zählen. Müsste man die EU in die Kategorien juristischer Personen nach deutschem Recht einordnen, wäre sie am ehesten – wie die Bundesrepublik, die Bundesländer und die Kommunen – als Gebietskörperschaft anzusehen, weil sie öffentlich-rechtlich zu charakterisieren ist und sich ebenfalls über ein bestimmtes Territorium definiert.[19]

4. Unionsbürgerschaft

Vertiefungshinweis:

Art. 20-25 AEUV

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Durch die Unionsbürgerschaft knüpft die EU ein unmittelbares rechtliches Band zu ihren Bürgern. Sie löst sich damit aus der Rolle einer nur-überstaatlichen Körperschaft, die lediglich ihre Mitgliedstaaten als rechtliches Gegenüber kennt. Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale(n) Staatsangehörigkeit(en), ersetzt sie aber nicht (Art. 20 I 3 AEUV).

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Abbildung 6:

Unionsbürgerschaft


[Bild vergrößern]

57

Die Unionsbürgerschaft ist in den Art. 20–25 AEUV geregelt. Sie umfasst zunächst ein Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller EU-Bürger im gesamten Gebiet der EU (Art. 20 II UA 1 S. 2, lit. a, 21 AEUV). Folglich kann jede Person, die über die Staatsangehörigkeit sowie ein gültiges Ausweisdokument eines EU-Mitgliedstaates verfügt, in jeden anderen EU-Staat ohne Visum einreisen und sich dort aufhalten. Allerdings ist bei einem länger als drei Monate dauernden Aufenthalt ein Arbeitsverhältnis, eine selbstständige Tätigkeit, ein Studium oder der Nachweis einer ausreichenden wirtschaftlichen Existenz mit entsprechendem Krankenversicherungsschutz erforderlich, um eine Einwanderung in soziale Sicherungssysteme zu vermeiden. Die näheren Einzelheiten – auch für Familienangehörige von Unionsbürgern ohne eigene Unionsbürgerschaft – sind in der Unionsbürger-RL (2004/38/EG) geregelt.[20]

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Des Weiteren vermittelt die Unionsbürgerschaft das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene, wenn man nicht die Staatsangehörigkeit des Staates besitzt, in dem man lebt (Art. 20 II UA 1 S. 2, lit. b, 22 I AEUV). Folglich sind in Deutschland alle nichtdeutschen Angehörigen der übrigen 27 EU-Mitgliedstaaten wahlberechtigt und wählbar bei Gemeinderats-, Kreistags- und Bürgermeisterwahlen (umgesetzt in Art. 28 I 3 GG), weshalb in vielen deutschen Kommunalparlamenten einzelne Österreicher, Italiener, Franzosen, Griechen etc. sitzen. Für die Altersgrenze des Wahlrechts u.ä. gelten die für Inländer bestehenden Vorschriften entsprechend. Ebenso haben alle EU-Bürger unabhängig davon, in welchem EU-Staat sie leben, das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament. Bezüglich der Einzelheiten gelten die Regelungen im jeweiligen nationalen Wahlrecht des Wohnsitzstaates (Art. 20 II UA 1 S. 2, lit. b, 22 II AEUV).

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Außerdem genießen alle Personen mit Unionsbürgerschaft in allen Staaten außerhalb der EU den diplomatischen und konsularischen Schutz aller Mitgliedstaaten. Voraussetzung dafür ist, dass der EU-Staat, dessen Staatsangehörigkeit man besitzt, im betreffenden Drittstaat keine diplomatische bzw. konsularische Vertretung hat (Art. 20 II UA 1 S. 2, lit. c, 23 AEUV). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass nicht alle EU-Staaten zu allen Staaten außerhalb der EU diplomatische Beziehungen unterhalten. Um hier eine Schutzlücke zu vermeiden, soll sich ein Unionsbürger dann an eine Botschaft oder ein Konsulat eines anderen EU-Staates wenden können. Für deutsche Staatsangehörige hat dieser Aspekt der Unionsbürgerschaft freilich geringe praktische Relevanz, da Deutschland mit nahezu allen Staaten der Welt diplomatische Beziehungen unterhält.[21]

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Schließlich gehört zur Unionsbürgerschaft das Recht, sich in verschiedenen Formen unmittelbar an EU-Einrichtungen zu wenden und Antworten einzufordern (Art. 20 II UA 1 S. 2, lit. d, 24 AEUV). Dies gilt vor allem für die Beschwerde an die Kommission, Petitionen an das Europäische Parlament (Art. 227 AEUV) und Eingaben an den Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 228 AEUV). Ebenso kann man sich auch in jeder beliebigen der 24 EU-Vertragssprachen[22] an jedes andere EU-Organ oder eine beratende Einrichtung wenden.

 

5. Abgrenzung zum Europarat

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Europa ist ja kein juristischer, sondern ein geografischer Begriff. Deshalb haben sich im Laufe der Jahre auch andere Organisationen mit europäischen Bezügen und Bezeichnungen herausgebildet, die rechtlich von der Europäischen Union zu unterscheiden sind – ungeachtet vielfältiger wechselseitiger Verbindungen. Mit Abstand am wichtigsten ist hierbei der Europarat[23] (nicht zu verwechseln mit dem „Europäischen Rat“ der EU).[24] Dabei handelt es sich um eine internationale Organisation mit eigener völkerrechtlicher Grundlage, der alle 27 EU-Staaten (aber jeder für sich) sowie 20 zusätzliche Staaten – z.B. Großbritannien, Island, Norwegen, Russland, die Schweiz und die Türkei – angehören. Sechs weitere Staaten haben einen Beobachterstatus, darunter Israel, Kanada und die USA.

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Zu den Organen des Europarates zählen ein Ministerkomitee (nicht zu verwechseln mit dem Ministerrat der EU), ein Generalsekretär, eine Parlamentarische Versammlung (nicht zu verwechseln mit dem EP) und ein Kongress der Gemeinden und Regionen (nicht zu verwechseln mit dem Ausschuss der Regionen der EU). Die aber vermutlich bekannteste Institution des Europarates ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – EGMR – in Straßburg (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof – EuGH – in Luxemburg, der zu den EU-Organen gehört).

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Die wesentlichen Unterschiede lassen sich wie folgt gegenüberstellen:

Abbildung 7: Europäische Union und Europarat


Europäische Union Europarat
Mitglieder 27 47, darunter alle EU-Staaten, aber auch Russland, die Türkei, die Ukraine, die Schweiz u.a.; außerdem mit Beobachterstatus USA, Israel, Kanada u.a.
Einwohner 448 Mio. 835 Mio.
Themen Binnenmarkt und zahlreiche andere Politikfelder Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat
Integrationsgrad hoch gering
Haushaltsvolumen 2020 168,7 Mrd. € 0,496 Mrd. €
Organe – Europ. Rat, (Minister-) Rat, – Ministerkomitee,
– Europ. Parlament, – Parlamentarische Versammlung,
– EU-Kommission, – Generalsekretär,
– Europ. Gerichtshof (EuGH), – Europ. Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR),
– Ausschuss der Regionen – Kongress der Gemeinden und Regionen

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Das zentrale rechtliche Dokument des Europarates, das alle Mitgliedstaaten unterzeichnet haben, ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag zum Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaats. Die EMRK bildet den Maßstab für die Rechtsprechung des EGMR, der über deren Einhaltung in den Europarat-Staaten wacht. In Umsetzung von Art. 6 II EUV hat die EU ihren Beitritt zur EMRK in Verhandlungen mit dem Europarat und seinen 47 Mitgliedstaaten vorangetrieben. Nach Abschluss dieses Verfahrens würde die EMRK in der EU nicht nur für die 27 EU-Staaten kraft deren Mitgliedschaft im Europarat, sondern auch für die EU selbst gelten. Allerdings hat der EuGH – wohl aus Gründen der eigenen Kompetenzsicherung (bezüglich des Auslegungsmonopols beim Unionsrecht) gegenüber einer drohenden Kontrolle durch den EGMR – den Entwurf des ausgehandelten Beitrittsabkommens als unionsrechtswidrig beanstandet und damit den EMRK-Beitritt der EU zumindest auf mittlere Sicht verhindert.[25]

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Verständnisfragen:


1. Mit welchem Vertrag wurde wann die Europäische Union gegründet und wie war sie (zunächst) rechtlich konstruiert? (Rn. 37 f.)
2. Erläutern Sie die Vorläufer-Struktur zur Europäischen Union. (Rn. 35 f.)
3. Wie hat sich die Europäische Grundrechtecharta entwickelt? (Rn. 40, 45)
4. Wodurch wurden die EU-Mitgliedstaaten im Vertrag von Lissabon gestärkt? (Rn. 47)
5. Wie ist die EU rechtlich einzuordnen? (Rn. 52–54)
6. Welche Besonderheiten sind mit der Unionsbürgerschaft verbunden und wie verhält sich diese zu den bisherigen nationalen Staatsangehörigkeiten? (Rn. 55–60)