Die zwölf Jünger Jesu

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1.1.2 Passagenabgrenzung

Unmittelbar vor Mt 10,1 spricht Jesus in 9,37-38 zu „seinen Jüngern“ (V.37: τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ). Diese beiden Verse sind aufgrund des Übergangs von den „Jüngern“ (V.37) zu den „zwölf Jüngern“ (10,1) besonders diskussionswürdig: Adressiert Jesus in 9,37f nur die Zwölf oder auch unbestimmte „Jünger“? Das Besondere an diesem Übergang von 9,35-38 zu 10,1ff besteht darin, dass auf Jesu Aufforderung, die Jünger sollten Gott bitten, er möge Arbeiter in seine Ernte aussenden (9,38), die Berufung und Aussendung der zwölf Jünger folgt (10,1-15), was als Gottes „Antwort“ auf ihre Bitte verstanden werden muss. Wenn nun schon in 9,37f nur die Zwölf adressiert wären, dann wären sie selbst es, die zuerst Gott um Erntemitarbeiter bitten sollen und dann selbst zu solchen werden. Wenn aber in 9,37f eine größere Jüngerschar Gott um Erntemitarbeiter bitten würde, dann wären die Zwölf als Teilmenge der größeren Jüngerschar für diese Aufgabe als Erntemitarbeiter ausgewählt worden. Es gibt gute Argumente für die Deutung, dass in 9,37f mit „Jünger“ die Zwölf und weitere Jünger gemeint sind (vgl. I,2.2.2 und I,2.3). Nichtsdestoweniger gehört 9,37-38 zur Textbasis, weil es aufgrund des logischen und chronologischen Zusammenhangs sehr pointiert die Aufgabe der Zwölf beschreibt: sie sind es, die Jesus als Arbeiter in die Ernte Gottes erwählt und aussendet. Die beiden Verse 9,37-38 sind mit 9,35-36 thematisch verknüpft: Jesu Dienst in den Städten und Dörfern (V.35) führt dazu, dass es ihn beim Anblick des Volkes jammert, weil sie wie Schafe ohne Hirten sind (V.36). Darauf folgt der soeben thematisierte Unterabschnitt V.37f (vgl. τότε in V.37a). Dabei fällt die inhaltliche Schnittmenge zwischen den beiden in V.36 und V.37f aufeinanderfolgenden Bildern auf (auf die an entsprechender Stelle noch einzugehen sein wird). Das bedeutet, dass die Aussendung der Erntearbeiter eine Reaktion ist, die die Not der „Herde“ lindern soll. Das wiederum belegt die Relevanz von V.36 – wozu dann auch V.35 gehört – für das Verständnis der zwölf Jünger. Vor 9,35-38 werden die „Jünger“ oder sonstige Begleiter Jesu zuletzt in 9,19 erwähnt. Doch weil zwischen 9,19-26 und 9,37f Orte und Personenkonstellationen wechseln, liegen die Texte vor 9,36 zu „weit“ entfernt von 10,1-42, um einen direkten Bezug zu den Zwölf zu haben.1 Nach hinten hin ist Jesu Aussendungsrede an seine zwölf Jünger durch den Vers 11,1 abgeschlossen. Die Formulierung des ersten Teiles von V.1 hat große wörtliche Übereinstimmungen mit den jeweiligen Versen, die alle anderen vier großen Reden des MtEv abschließen, und kann deswegen als eine „Formel“ angesehen werden (dazu s.u. II,1.1.3 zur Makrostruktur des MtEv). Der zweite Teil von V.1 führt die Erzählung weiter: Jesus wechselt den Ort und wendet sich Stadtbewohnern zu. Gleichzeitig spannt der Autor dadurch einen Bogen zum ähnlich klingenden Summarium 9,35. Nach 11,1 wiederum spricht Jesus nicht mehr mit seinen (zwölf) Jüngern, sondern mit den Jüngern des Johannes (11,2-6).2 Fazit: Für die Auslegung der zwölf Jünger dient eigentlich 9,35-11,1 als Textbasis. Doch weil sowohl 9,35 als auch 11,1 nur bedingt für das Verständnis des Zwölferkreises relevant sind, liegt bei der nachfolgenden Auslegung der Fokus auf 9,36-10,42.

1.1.3 Literarischer Kontext

Das MtEv ist zuallererst ein Bericht über das Leben Jesu: beginnend mit einer Namenliste seiner Vorfahren und mit seiner Geburt in Bethlehem, über sein öffentliches Auftreten in und um Galiläa bis hin zu seinem Tod und seiner Auferstehung in Jerusalem und seiner abschließenden Erscheinung vor den elf Jüngern in Galiläa. Diese wenigen, aber wichtigen Ereignisse sind Beispiele für die biographische und geographische Struktur des MtEv, die das gesamte Buch durchzieht. In diese biographisch-geographische Erzählung sind fünf lange Reden Jesu integriert, die alle durch eine formelhafte Wendung (orientiert am Muster: „Und als Jesus seine Worte beendet hatte, geschah dies und das“) beschlossen werden. Die Reden sind derart in die Gesamterzählung integriert, dass es einen auffallenden Wechsel von Erzähl- und Redeteilen gibt (Mt 1-4: Erzählung; Mt 5-7: Rede; Mt 8-9: Erzählung; Mt 10: Rede; Mt 11-12: Erzählung; Mt 13: Rede; Mt 14-17: Erzählung; Mt 18: Rede; Mt 19-22: Erzählung; Mt 23-25: Rede; Mt 26-28: Erzählung). M.E. sollten die Erzähl- und Redeeinheiten nicht konsequent nach einem bestimmten Modell, sondern jeweils variabel einander zugeordnet werden, so dass es nicht fünf eindeutige Zweier-Paare ergibt. Diese variable Zuordnung der Erzähl- und Redeteile hat zwei Vorteile: erstens können thematische Inhalte der Teile besser berücksichtigt werden und zweitens können weitere formale Strukturmerkmale, die sich auf die Zuordnung der Erzähl- und Redeteile auswirken, integriert werden. Z.B. halten die Summarien Mt 4,23 und 9,35 die Bergpredigt (Mt 5-7) und die Wundererzählungen (Mt 8-9) zusammen, leiten aber auch zur Aussendungsrede (Mt 10) über.1

In Mt 1-2 schildert Mt Ereignisse rund um Jesu Geburt und frühe Kindheit, und legt das theologische Fundament für das Verständnis Jesu als messianischem Davidssohn: Retter von Sünden (Mt 1,21: σώσει τὸν λαὸν αὐτοῦ ἀπὸ τῶν ἁμαρτιῶν αὐτῶν), „Immanuel“ (vgl. 1,23: μεθ᾽ ἡμῶν ὁ θεός) und „König der Juden“ (2,2: ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων; vgl. 27,11). Darauf folgen in 3,1-4,11 Jesu Taufe durch Johannes und die drei Versuchungen durch den Teufel in der Wüste, wodurch Jesus auf den Dienst in der Öffentlichkeit vorbereitet wird. Laut 4,12-17 zieht Jesus ins galiläische Kapernaum und beginnt öffentlich aufzutreten. 4,17 ist ein Schlüsselvers für die biographisch-geographische Struktur des MtEv, nicht nur weil davor ein wichtiger Ortswechsel in die Gegend Galiläa vollzogen wird, wo Jesus von da an hauptsächlich wirken wird, und nicht nur, weil es den Startpunkt Jesu öffentlichen Auftretens beschreibt, sondern auch weil 4,17 den Inhalt seiner Predigt, einer Parole gleich, knapp zusammenfasst: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (μετανοεῖτε· ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.).2 Diese Zusammenfassung ist in einer weiteren Hinsicht für die Struktur des MtEv interessant, weil sie wörtlich identisch ist mit der Parole des Täufers Johannes in 3,2 (μετανοεῖτε· ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.). Die Angabe in 4,12, dass Johannes überliefert worden war, scheint der Anlass für Jesu Wohnortswechsel gewesen zu sein (4,13). Die wörtlich identische Predigt beider Personen verstärkt den Eindruck, dass Jesus an das Wirken des inzwischen verhafteten Täufers Johannes anknüpft und es fortführt. Unmittelbar nach der Nachricht, dass Jesus „von da an begann“ (4,17: ἀπὸ τότε ἤρξατο ὁ Ἰησοῦς) öffentlich aufzutreten, erfolgt in 4,18-22 die Berufung der ersten vier Jünger, die alles verlassen und Jesus nachfolgen, um zu „Menschenfischern“ (4,19: ἁλιεῖς ἀνθρώπων) ausgebildet zu werden. Nach der Berufungsgeschichte gibt der Evangelist in 4,23-25 eine kurze Zusammenfassung von Jesu Wirken in Galiläa und von der Reaktion des Volkes. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Vers 4,23, weil er ein Summarium von Jesu Wirken ist. Hier wird Jesu Bußruf aus 4,17 nicht mehr explizit erwähnt und stattdessen werden drei Elemente genannt: Lehre in den Synagogen (διδάσκων ἐν ταῖς συναγωγαῖς), Predigt des Himmelreichs (κηρύσσων τὸ εὐαγγέλιον) und Heilungen im Volk (θεραπεύων πᾶσαν νόσον καὶ πᾶσαν μαλακίαν ἐν τῷ λαῷ). Darauf folgt in Mt 5-7 die erste große Rede des MtEv, in der Jesus seine Jünger das Ethos des Himmelreichs lehrt. Sie wird – wie auch alle anderen vier Reden – durch eine nahezu identische formelhafte Wendung abgeschlossen: „Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte“ (7,28a: Καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς τοὺς λόγους τούτους). Diesen großen Block kann man als Jesu „Wort“ zusammenfassen. Nach der Bergpredigt setzt der Evangelist die Erzählung fort und bietet in 8,1-9,34 eine Sammlung von diversen Wundergeschichten. Diesen großen Block kann man als Jesu „Werk“ zusammenfassen. Eine auffallende Parallele zwischen diesen „Wort“- und „Werk“- Blöcken ist die jeweilige Reaktion des Volkes: auf Jesu Lehre reagieren sie mit „Erstaunen“ (7,28b: ἐξεπλήσσοντο) und auf Jesu Wunderwerke mit „Verwunderung“ (9,33b: ἐθαύμασαν). Weil beide Stellen sehr knapp die allgemeine Reaktion des Volkes auf sämtliche Worte Jesu in Mt 5-7 und auf sämtliche Werke Jesu in Mt 8-9 zusammenfassen, ragen somit zwei daran angegliederte Anmerkungen heraus: Das Erstaunen des Volkes wird damit begründet (7,29: γάρ), dass Jesus mit Vollmacht lehrte, anders als ihre Schriftgelehrten (7,29: οὐχ ὡς οἱ γραμματεῖς αὐτῶν). Und das Wundern des Volkes wird mit der Erklärung begründet, dass niemals derartiges in Israel gesehen wurde (9,33c: οὐδέποτε ἐφάνη οὕτως ἐν τῷ Ἰσραήλ). Die unmittelbar folgende Reaktion der Pharisäer bildet einen Gegensatz zur Reaktion des Volkes: Sie unterstellen Jesus, er hätte die Dämonen durch den Obersten der Dämonen ausgetrieben (9,34). Weil die Reaktionen des Volkes wie Zusammenfassungen wirken, gilt dasselbe für die Darstellung der Schriftgelehrten in 7,29 und für die Reaktion der Pharisäer in 9,34. Diese divergierenden Haltungen zu Jesus zeigen den Kontrast zwischen den Volksmengen und ihren Volksanführern. Die kritische Sicht auf die Volksanführer geht einher mit der Hinwendung des Volkes zu Jesus. Diese beiden großen Blöcke 5,1-7,29 und 8,1-9,34 werden durch ein weiteres Summarium in 9,35 abgeschlossen, das fast identisch formuliert ist wie das Summarium in 4,23. Beide Summarien bilden somit eine Inclusio, die alle dazwischen liegenden „Worte“ und „Werke“ Jesu zusammenfassen. 9,35 ist nicht nur der abschließende Rahmenteil der Inclusio, sondern auch ein Scharnierstück: es schließt also nicht nur den großen Block 4,23-9,34 ab, sondern leitet zusammen mit 9,36-38 über in den für uns relevanten Textblock 10,1-42. Zudem ist 9,35 eine Parallele zu 11,1, wo Jesu Handeln ebenfalls sehr knapp umrissen wird. Aufgrund der unmittelbaren Nähe sowie der Scharnierfunktion von 9,35 haben die Verse 9,36-38 ein besonderes Gewicht für die Auslegung von 10,1-42 (dazu s.o. unter Passagenabgrenzung II,1.1.2).

 

Der folgende große Textblock 10,1-42, der von der Berufung und Bevollmächtigung der Zwölf berichtet (10,1-5b) und die Aussendungsrede Jesu an die Zwölf (10,5c-42) enthält, stellt sich somit als die Erfüllung des vorangegangenen Gebets um Erntemitarbeiter dar. Die Auslegung von 9,36-10,42 wird zeigen, dass es viele Querverbindungen zum davor Berichteten gibt. Es wäre außerdem zu erwägen, ob 10,1-5a nicht derart den ersten Jüngerberufungen in 4,18-22 entspricht, dass sie den gesamten dazwischenliegenden Block rahmen. Dann läge folgender Chiasmus vor: 4,18-22 = A; Mt 4,23 = B; Mt 5-7 = C; Mt 8-9 = C᾽; 9,35 = B᾽; 9,36-10,5 = A᾽.3 Den Kern würden hierbei Jesu Lehre und Wundertaten bilden, die wiederum ebenfalls chiastisch aufgebaut sein könnten. Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal ist 11,1: Während der erste Teil des Verses (Καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς διατάσσων τοῖς δώδεκα μαθηταῖς αὐτοῦ) eine formelhafte Wendung ist, die alle fünf großen Reden abschließt, so auch hier die Aussendungsrede Mt 10, leitet der zweite Teil des Verses (μετέβη ἐκεῖθεν τοῦ διδάσκειν καὶ κηρύσσειν ἐν ταῖς πόλεσιν αὐτῶν) einen neuen narrativen Block ein. Der zweite Teil des Verses kann mit seinen beiden Verben „lehren“ und „predigen“ als Summarium der Tätigkeit Jesu gelten. Demnach steht 11,1 in einer Linie mit den anderen beiden Summarien in 4,23 und 9,35. Dabei fällt auf, dass Mt nach der Aussendung der Zwölf nicht von der Ausführung des Auftrags berichtet, sondern Jesus als denjenigen vorstellt, der missionarisch aktiv ist, was die Parallelität zum Stoff zwischen 4,23-9,35 verstärkt, wo ebenfalls Jesus der Einzige ist, der die Initiative ergreift und vollmächtig im Volk wirkt.4 Diese „Lücke“ in der Erzählung kann verschiedentlich erklärt werden. Z.B. könnte Matthäus dadurch den Eindruck erwecken wollen, dass dieser Auftrag noch unerledigt sei; und / oder, dass Jesus allein der „Held“ der Erzählung sei und demnach der Dienst der Jünger ein Bestandteil von Jesu Dienst ist. Kurz gesagt: Verbindet man beide Summarien (4,23; 9,35) und das dazwischenliegende Material (4,24-9,34) mit der Bitte um die Erntemitarbeiter (9,37-38) und mit der Berufung und Aussendung der Zwölf (10,1-42), so ergibt sich aus dieser Struktur eine besondere theologische Funktion für die Zwölf: sie sollen Jesus bei seinem Dienst am Volk Israel assistieren.5 Dieser Gedanke wird in der folgenden Auslegung von 9,36ff detaillierter entfaltet werden. Man könnte also 4,17-11,1 folgendermaßen überschreiben: „Jesu Darstellung des Himmelreichs in Wort und Werk und deren Fortführung durch die zwölf Jünger.“

Der nächste narrative Block Mt 11,2-12,50 gehört nicht zu den mit 4,23-11,1 verknüpften Blöcken. Denn während 4,23-9,35 die Anfangsphase von Jesu Auftreten beschreibt und dabei den inhaltlichen Schwerpunkt darauf legt, Jesu Verständnis des Himmelreichs in Wort und Werk vorzustellen, verlagert sich der inhaltliche Schwerpunkt von 11,2 an darauf, die Reaktionen auf Jesus und seine Botschaft darzustellen. Es gibt zwar insofern eine inhaltliche Kontinuität, als dass wieder Jesus die Initiative ergreift, wie schon zuvor in 4,17-9,38, aber gerade der Umbruch in 11,7-24 von den vorher fast durchgehend positiven Reaktionen des Volkes hin zu ihren negativen Reaktionen, markieren relativ deutlich die Schwerpunktverschiebung (vgl. in 11,2-6 auch den Umbruch bei Johannes dem Täufer hin zum Zweifel an Jesu Person [vgl. v.a. V.6: σκανδαλισθῇ]).6 Daraus folgt: Insgesamt ist der Aufbau des Textes ab 11,2 für das Verständnis von Mt 10 nicht besonders relevant.7

1.1.4 Kurzer Aufbau

Formale Marker und inhaltlich-thematische Wechsel legen eine Dreiteilung von Mt 9,35-11,1 nahe: 9,35-10,5b und Mt 11,1 bilden den narrativen Rahmen um die Rede Jesu in 10,5c-42. Der erste narrative Rahmenteil 9,35-10,5b leitet die Rede ein und bereitet sie inhaltlich vor. Der zweite sehr kurze narrative Rahmenteil 11,1 schließt die Rede ab und leitet zu einem neuen großen Block verschiedener Erzählungen über. Sowohl 9,35-10,5b als auch 10,5c-42 lassen sich wiederum in weitere Abschnitte unterteilen:1 9,36; 9,37f; 10,1-5b; 10,5c-8d; 10,8e-10b; 10,11-15; 10,16-23; 10,24f; 10,26-31; 10,32f; 10,34-39 und 10,40-42. Eine detailliertere Unterteilung dieser Abschnitte erfolgt vor der Analyse des jeweiligen Abschnitts.

1.2 Auslegung von Mt 9,36-10,42
1.2.1 Mt 9,36: Die zwölf Jünger und Jesu Mitleid mit der hilfsbedürftigen Schafherde
1.2.1.1 Übersetzung


V.36a: ἰδὼν δὲ τοὺς ὄχλους
Als er aber die Volksmengen sah,
V.36b: ἐσπλαγχνίσθη περὶ αὐτῶν,
empfand er Mitleid mit ihnen,
V.36c: ὅτι ἦσαν ἐσκυλμένοι καὶ ἐρριμμένοι
denn sie waren abgemattet und lagen am Boden,
V.36d: ὡσεὶ πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα.
wie Schafe, die keinen Hirten haben.

1.2.1.2 Literarischer Kontext

Literarischer Kontext. Mt 9,36a-d bilden den Übergang vom Textblock 4,23-9,35 zum Textblock 9,36-11,1. Die Verbindung von 9,36 und 4,23-9,35: Die Volksmengen, mit denen Jesus Mitleid empfindet (V.36a-b), lassen sich mit den Bewohnern der Städte und Dörfer, in denen Jesus wirkt (V.35a-d), identifizieren. 9,35 und 4,23 wiederum sind Summarien, die den dazwischen liegenden Text 4,24-9,34 rahmen (Inclusio). D.h., dass Jesu Mitleid mit den Volksmengen (V.36a-b) letztlich auf die einzelnen und konkreten Begegnungen mit den Menschen aus dem Volk, von denen 4,24-9,34 berichtet, bezogen ist.1 Die Verbindung von 9,36 und 9,37-10,42: Jesu Mitleid (V.36b) führt erstens dazu, seine Jünger aufzufordern, den Herrn der Ernte um die Aussendung von zusätzlichen Erntearbeitern zu bitten (V.37a-38b); und zweitens dazu, seine zwölf Jünger zu berufen und sie anschließend zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,1a.5a-6; hier 10,6) auszusenden. Deutung des literarischen Kontextes. Diese verbindende Funktion von V.36a-d deutet an, was im Zusammenhang mit den folgenden Versen 9,37a-10,42 noch deutlicher wird: 1. Die Mission der Zwölf ist Bestandteil der Mission Jesu. Das zeigt auch die Verbindung von 9,35 und 11,1: Jesu eigenes Wirken in Israel rahmt seine Aussendungsrede an die Zwölf. Es ist auffällig, dass im Anschluss an die Aussendungsrede eben nicht von der Mission der Zwölf, sondern von der Mission Jesu berichtet wird.2 2. Weil Jesu Mitleid mit den von Not geplagten Israeliten der Ausgangspunkt für die Aussendung der Zwölf ist, hat Jesu Mitleid eine prägende Wirkung auf den gesamten Textblock 9,27-10,42. Das bedeutet, dass die primäre Funktion, die Jesus im Folgenden den zwölf Jüngern zuweist, und das Handeln, zu dem er sie beauftragt, derart sein müssten, dass es dem Volk in seiner Not hilft bzw. das Volk aus seiner Not befreit.3 Deswegen sollten sich alle weiteren Aussagen von 9,27-10,42 über die Bedeutung der zwölf Jünger gedanklich der Überschrift „Helfender Dienst am von Not geplagten Volk Israel“ unterordnen lassen. Schlussfolgerung und Überleitung. Worin konkret der „helfende Dienst“ bzw. die „Nothilfe“ der Zwölf besteht, wird nicht erst in Mt 10,1-42 ausgeführt, sondern bereits in 9,36 und 9,37-38, wenn auch weniger eindeutig als in 10,1-42. Weil nun die in 9,36 genannte Not des Volks Ausgangspunkt für die Berufung und Aussendung der Zwölf ist, lohnt eine genauere Betrachtung von 9,36. Hierbei sollen zwei Fragen beantwortet werden: 1. Worin besteht die Not des Volkes? 2. Wer hat die Not des Volkes herbeigeführt?

1.2.1.3 Kommentar und Analyse

Die nachfolgende Kommentierung und Analyse konzentriert sich auf die letzten beiden Propositionen V.36c-d: ὅτι ἦσαν ἐσκυλμένοι καὶ ἐρριμμένοι ὡσεὶ πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα. Hierbei werden zuerst zwei Fragen beantwortet. Erstens: Worin konkret besteht die Not des Volkes? Und zweitens: Wer oder was hat die Not des Volkes verursacht? Im Anschluss werden zwei Schlussfolgerungen gezogen. Erstens: Jesu Rolle angesichts der Bezugnahme auf Hes 34. Und zweitens: Die Rolle der zwölf Jünger angesichts der Kritik an den bisherigen Anführern.

Worin besteht die Not des Volkes? Jesu Mitleid bzw. Erbarmen (V.36b: ἐσπλαγχνίσθη) mit dem Volk hat seinen Grund (vgl. ὅτι) in einer Verfassung bzw. in einem Zustand des Volkes, die mit den beiden Verben σκύλλω und ῥίπτω beschrieben wird (V.36c: ἐσκυλμένοι; ἐρριμμένοι). Für σκύλλω gibt BA die allgemeine Bedeutung „schinden“ an.1 Unsere Stelle Mt 9,36 nennt BA unter Punkt 1. „ermüden, plagen“ [im Original fett markiert], und übersetzen es hier mit „abgemattet“ [Kursiv im Original]. Und LN ordnet unsere Stelle dem Domain (d.h. dem semantischen Feld mit der Nummer) 22.16 zu; sie definieren und übersetzen hier σκύλλομαι folgendermaßen: „to suffer trouble and harassment – ‚to be troubled, to be harassed, to be bothered.‘“ BA gibt zu ῥίπτω zwei Bedeutungen an:2 „1. werfen in d. für den Sonderfall erforderl. Art: fortwerfen, von sich werfen“ [„werfen […] fortwerfen, von sich werfen“ sind im Original fett markiert]; „2. ohne d. Begriff des Gewaltsamen niederlegen“ [„niederlegen“ ist im Original fett markiert]. Unter Punkt 2. übersetzt BA diese Form (Partizip Perfekt Passiv) mit „am Boden liegend, darniederliegend“ [Kursiv im Original]. Hierunter findet sich auch unsere Stelle 9,36.3 Und LN ordnet unsere Stelle Domain 25.294 zu; LN definiert und übersetzt hier ῥίπτομαι folgendermaßen: „(a figurative extension of meaning of ῥίπτω ‚to throw,‘ 15.217) to be or to become dejected, with a possible implication of loss of hope – to be dejected, to be discouraged.“ Doch in welcher Hinsicht ist das Volk in V.36c „abgemattet“ (BA) / „harassed“ (LN) und „am Boden liegend“ (BA) / „dejected“ (LN)?

Die Not des Volkes ist physischer Art. Dass die Not des Volkes physischer Art ist, lässt sich aus der Proposition V.36d ableiten, die in einem Vergleichsverhältnis zu V.36c steht (vgl. die komparative Konjunktion ὡσεί: der Sachinhalt beider Seiten ist ähnlich): die Proposition V.36c mit ihrer Rede vom Zustand des Volkes zählt zur Sachhälfte und die Proposition V.36d mit ihrer Rede vom Zustand der hirtenlosen Schafherde zur Bildhälfte. Für das physische Leiden spricht erstens das Allgemeinwissen über das Thema Schafe und Schafhirten:4 Im Palästina des ersten Jahrhunderts wurde eine weidende Schafherde normalerweise nicht eingezäunt, sondern von einem Hirten zusammengehalten und umfassend versorgt.5 Fehlt aber der Hirte, so sind verschiedene Szenarien vorstellbar: die Schafherde zerstreut sich, wobei einzelne Schafe irre bzw. verloren gehen; Tiere reißen sie oder Menschen rauben sie; sie finden nicht ausreichend Nahrung; verletzte oder kranke Schafe können sich nicht selbst heilen; – kurz: Schafe sind ohne einen Hirten hilflos und befinden sich deswegen in Lebensgefahr. Dieses Allgemeinwissen wird zweitens (teilweise) bestätigt durch die im MtEv anderenorts gebrauchten Bilder von in Not befindlichen Schafen: laut Mt 10,6 par 15,24 und 18,12f gehen einzelne Schafe irre bzw. verloren.6 Von diesen Vorkommen drücken evtl. 10,6 (v.a. aufgrund des folgenden Verses 10,8) und wahrscheinlich 10,16 (aufgrund der folgenden Verse 10,17ff) die physische Not von Menschen aus. Drittens zählt auch die Hirte-Schafe-Allegorie Hes 34, worauf V.36 anspielt (ausführlich begründet im Anhang [online], Exkurs 5), verschiedene Aspekte von notleidenden Schafen auf: sie werden gemolken, geschert und geschlachtet, aber nicht geweidet (V.3); Schwache werden nicht gestärkt, Kranke nicht geheilt, Gebrochene nicht verbunden, Versprengte nicht zurückgebracht, Verlorene nicht gesucht, stattdessen mit Härte und Gewalt beherrscht (V.4); sie zerstreuen sich (V.5f) und werden zum Raub und allen Tieren des Feldes zum Fraß (V.5.8.10). In Hes 34 und in seinem Zusammenhang ist das physische Leiden mit im Blick: das Nicht-Tun von Recht und Gerechtigkeit, das in Hes (einschließlich Kapitel 34) an den Volksanführern kritisiert wird, wirkt sich ganz direkt auf die physische Verfassung der einzelnen Volksangehörigen aus. An diese und ähnliche Aspekte der notvollen Lage der Schafe ist also zu denken, wenn in V.36d das Bild von einer hirtenlosen Schafherde aufgerufen wird. Setzt man nun V.36c und V.36d in ein Vergleichsverhältnis zueinander, so folgt daraus: Der Zustand des Volkes und der Zustand der hirtenlosen Schafherde ist miteinander vergleichbar, beide sind „abgemattet und am Boden liegend“.7 Obwohl V.36c zur Sachhälfte gehört, ist das zweite der beiden Verben ἐρριμμένοι („am Boden liegend“) im uneigentlichen Sinne zu verstehen (vgl. oben LN zu ῥίπτομαι: „figurative extension“).8 Der „uneigentliche“ Sinn schließt hier aber den „eigentlichen“ Sinn mit ein. Denn der Zustand des Volkes und der Zustand der hirtenlosen Schafherde sind zunächst hinsichtlich ihrer physischen Leiden analog, das allerdings selbstverständlich nur teilweise, weil das konkrete physische Leiden bei Schafen und Menschen unterschiedlich ausfallen kann. Der nähere Kontext von 9,36 liefert konkrete Beispiele für das physische Leiden der Menschen (dazu s.u.). Allerdings bringt der Vergleich mit den hirtenlosen Schafen die beiden zentralen Aspekte ein, dass die von Not geplagten Menschen sich selbst nicht (wirklich) helfen können, und dass sie sich in einer lebensbedrohlichen Situation befinden.9 Dass das Volk physisch leidet, lässt sich auch aus weiteren benachbarten Propositionen ableiten. Erstens aus Vers 9,35, der eine Verbindung zwischen Jesu Mitleid in 9,36 und Jesu Taten in 4,23-9,35 herstellt. Und sowohl in 4,23 als auch in 9,35 gehören Krankenheilungen zu Jesu Tätigkeit im und am Volk, die zuerst in 4,24 hervorgehoben und dann im zweiten Textblock 8,1-9,34 mehrfach konkretisiert werden. Zu derselben Kategorie kann man neben Jesu Heilungen von Kranken auch Jesu Befreiung von Besessenen (8,28-34; 9,32f) und die Auferweckung einer Toten (9,18f23-26) zählen (zu dieser Kategorisierung s.u. II,1.2.4.4.2). Für das physische Leiden des Volkes sprechen aber auch 10,1.8, wonach die Zwölf dazu bevollmächtigt werden, böse Geister auszutreiben und Kranke zu heilen (10,1), sowie dazu beauftragt werden, im Volk Israel Kranke zu heilen, Tote zu erwecken, Aussätzige zu reinigen und Dämonen auszutreiben (10,8).

 

Die Not des Volkes ist auch psychischer und geistlicher Art.10 Die Deutung, dass die Not des Volkes auch psychischer und geistlicher Art ist, steht nicht im Konflikt mit der Proposition V.36d. Denn das oben skizzierte Allgemeinwissen über das Thema Schafe und Schafhirten schließt nicht die Möglichkeit aus, dass das Leiden der Schafe auch im übertragenen Sinne für nicht-physische Leiden stehen kann. Für diese Deutung sprechen die im MtEv anderenorts gebrauchten Bilder von in Not befindlichen Schafen: von den oben aufgelisteten Vorkommen steht in 10,6 (dazu gleich mehr) par 15,24; evtl. 10,16; 18,12f und vermutlich auch 26,31 (vgl. dazu II,3.3.3.3) die Not der Schafe in erster Linie (aber nicht notwendigerweise ausschließlich; vgl. z.B. 10,6, dazu s.u. mehr) für eine psychische und / oder seelische Not. Dasselbe gilt für die Hirte-Schafe-Allegorie in Hes 34, wo sowohl das Leiden der Schafe unter den aktuellen Hirten als auch ihre zukünftige Befreiung und Segnung durch den HERRN für das Leben des Volkes im umfassenden Sinne stehen.11 Im Sinne der psychischen und geistlichen Leiden lassen sich auch einige benachbarte Propositionen verstehen. Besonders gewichtig ist hierbei Mt 9,35. Dass Jesus durch sein Predigen und Lehren einer „Lehr-Not“ im Volk entgegen treten wollte, wird durch einige Fakten bestätigt:12 Erstens umfassten Jesu Taten in 4,23-9,35 auch das Lehren (und Predigen).13 Zweitens steht Jesu Lehre (und Predigt) im Kontrast zu der sonstigen Lehre (und Predigt).14 Drittens gehen Jesu Krankenheilungen laut 9,2-8 über die physische Dimension hinaus, weil sie mit Sündenvergebung zusammenhängen. Der unmittelbar auf 9,2-8 folgende Abschnitt 9,9-13 bestätigt und vertieft diesen Zusammenhang durch eine Parallelisierung: Jesus ist als „Arzt“ zu den „Kranken“ gekommen (V.12: körperliche Dimension), (d.h.) er ist gekommen, um die „Sünder“ zu rufen (V.13: „geistliche“ Dimension). Desweiteren stützen auch 10,1ff diese Deutung der Not. Vier Argumente stützen die Annahme, dass Jesus durch die Aussendung der Zwölf einer Not im Volk Abhilfe schaffen wollte, die man als psychische und geistliche Not (inklusive einer Lehr- und Predigt-Not) umschreiben kann: Erstens gibt es einen Zusammenhang zwischen 9,35-38 und 10,1ff. Zweitens sollen die Jünger auch das Himmelreich predigen (10,7), was mit dem Lehren eng verknüpft ist (vgl. z.B. 10,24f). Drittens gehen die Exorzismen in 10,1.8 über die rein physische Dimension hinaus. Viertens geht es bei der Mission der Zwölf letztlich um das eschatologische Heil oder Unheil (vgl. z.B. 10,11-15).

Fazit. Auf die Frage, in welcher Hinsicht das Volk in V.36c „abgemattet“ (BA) / „harassed“ (LN) und „am Boden liegend“ (BA) / „dejected“ (LN) ist, lässt sich antworten, dass es ausreichend Textbelege für das physische Leiden des Volkes Israel gibt. Joachim Gnilka und John Nolland sind zwei Vertreter einer rein physischen Leidens-Deutung, weil sie die Bedeutung des Verbs σπλαγχνίζομαι im MtEv auf äußere bzw. physische Bedürfnisse beschränken (mit Ausnahme von Mt 18,27).15 Zweierlei spricht gegen diese Deutung: Erstens ist die von Gnilka und Nolland gezogene Schlussfolgerung von den sonstigen Gebrauchsweisen von σπλαγχνίζομαι im MtEv auf 9,36 nicht nachvollziehbar. Denn angesichts von lediglich fünf Vorkommen von σπλαγχνίζομαι im MtEv (9,36; 14,14; 15,32; 18,27; 20,34), ist es unverhältnismäßig, 18,27 als Ausnahme einzustufen.16 Zweitens sprechen die oben vorgetragenen Argumente für das nicht-physische Leiden dagegen. Mit anderen Worten: bei 9,36 sollte man auch an eine psychische und geistliche Notlage denken. D.h., dass der helfende (Not-) Dienst der Zwölf umfassend sein dürfte, in Entsprechung zur facettenreichen Not des Volkes.17 Die Analysen von 9,37-38 und v.a. von Mt 10 werden auf solche konkreten Nöte eingehen. Es wird sich im weiteren Verlauf zeigen, dass es Jesus v.a. auf den nicht-physischen Zustand, speziell ihre „geistliche“ Not, ankommt (vgl. z.B. 11,2-6).18

Wer oder was hat die Not des Volkes verursacht? Weil die verschiedenartigen physischen und nicht-physischen Leiden des Volkes durch irgendetwas verursacht sein müssen, stellt sich die Frage, ob das jeweilige Leiden auf eine bestimmte Person oder Personengruppe zurückzuführen ist, z.B. durch ein mehr oder weniger gezieltes Herbeiführen von Leiden oder durch ein Unterlassen von Hilfeleistung. In diese Richtung könnten die passivischen Formen der beiden Verben ἐσκυλμένοι und ἐρριμμένοι (Mt 9,36c) deuten: hat das Verhalten bestimmter Personen zu dem Resultat geführt, dass das Volk nun abgemattet ist und am Boden liegt?19 M.W. lässt sich diese Frage aus grammatischer Sicht nicht eindeutig beantworten.20 Auch die weiteren Vorkommen von σκύλλω und ῥίπτω im NT führen in dieser Frage nur bedingt weiter.21 Würde man aber von der Annahme ausgehen, dass zumindest in der passivischen Form von ἐρριμμένοι ein Hinweis auf ein Agens vorliegt, so müsste man daran anschließend die Frage beantworten, ob das denn notwendigerweise ein gewaltsames bzw. grobes Niederwerfen sei. BA oder John Nolland würden diese Frage verneinen: BA hat ἐρριμμένοι in 9,36 der zweiten Bedeutung von ῥίπτω zugeordnet und folgendes dazu angemerkt: „ohne d. Begriff des Gewaltsamen niederlegen“ (s.o.). Ebenso Nollands Position, dass zumindest beim zweiten Verb das passive Herumliegen gemeint sei, und dass es weniger auf Gewalt zurückzuführen sei.22 Wenn man ῥίπτω in 9,36 im Sinne von 15,30 deuten würde, dann könnte möglicherweise ein fürsorgliches „Niederlegen“ gemeint sein. Und die fürsorglich agierenden Personen wären dann gar nicht für das Leiden verantwortlich. Wenn man aber ῥίπτω im Sinne der anderen Vorkommen deuten würde, dann könnte durchaus ein grobes „Niederwerfen“ gemeint sein. Dafür sprechen die meisten Vorkommen von ῥίπτω (s.o.), und insbesondere Lk 17,2, weil ῥίπτω hier das einzige weitere Mal die passivische Form hat. Außerdem legt die syntaktische Konstruktion ἐσκυλμένοι καὶ ἐρριμμένοι eine analoge Deutung der beiden Verben nahe: weil ἐσκυλμένοι einen eindeutig negativen Wert beschreibt, wird ἐρριμμένοι wahrscheinlich keinen positiven oder neutralen Wert haben.