Die zwölf Jünger Jesu

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1.3 Narrative Kritik

Ab den 1980er Jahren hatten viele Mt-Forscher begonnen, das MtEv mit einer narrativkritischen Methodik auszulegen.1 Hierbei wird eine ausschließlich synchrone Perspektive eingenommen: allein der Text als Endprodukt und alleiniges Kommunikationsmittel zwischen Autor und Leser trage die Bedeutung in sich.2 Der Text sei wie ein Spiegel, der den Leser dazu bewege, die Bedeutung des Textes aus seinem eigenen Verständnishorizont zu schaffen.3 Häufig wendet man dafür Seymour Chatmans einflussreiches Werk Story and Discourse: Narrative Structure in Fiction and Film an:4 erstens zeichne man die „story“ des MtEv nach, indem man das MtEv konsequent von Anfang bis zum Schluss lese und dabei auf das Zusammenspiel der drei Elemente „events“ (a), „characters“ (b) und „settings“ (c) achte.5 Zweitens untersucht man den „discourse“, d.h. die Elemente „implied author“ (a) und „narrator“ (b), „point of view“ (c) und „implied reader“ (d).6 Der Rezipient („implied reader“) gehört also zu den spezifischen Ansatzpunkten der Narrativen Kritik: der Text sei grundsätzlich aus der leserorientierten Perspektive zu verstehen.

Bis dato gibt es m.W. in der narrativkritisch arbeitenden Matthäusforschung keine eigene Studie zur Figurengruppe („character“) Zwölferkreis innerhalb der „story“ des MtEv. Allerdings finden sich in wenigen Forschungsarbeiten etliche Hinweise auf die Zwölf, die – ebenso wie in der redaktionskritischen Mt-Forschung – stets im Zusammenhang mit dem Thema „Jünger(schaft)“ stehen. Das ist z.B. in den Arbeiten von Kingsbury, Edwards, Brown und Poplutz der Fall.7

1.3.1 Narrativkritische Studien

Jack Dean Kingsbury1 äußert sich in seiner redaktionskritischen Arbeit The Parables of Jesus in Matthew 13: a Study in Redaction-Criticism zum Verhältnis Jünger – Zwölf:2 der Begriff „Jünger“ sei synonym mit den Zwölf. Das zeige die Verbindung „zwölf Jünger“ (Mt 10,1; 11,1; 20,17; 26,20) und die Austauschbarkeit beider Begriffe an vielen Stellen (z.B. der Wechsel von 9,37 zu 10,1f5; oder von 28,7f zu 28,16). Es sei also grundsätzlich von der Austauschbarkeit beider synonymer Begriffe auszugehen. Deswegen gilt für Kingsbury: sollte der Fall eintreten, dass Mt mit „Jünger“ nicht die Zwölf bezeichnet, dann mache Mt das auch deutlich; siehe der unpersönliche Gebrauch in 10,24.25.42, oder noch eindeutiger „die Jünger des Täufers“ (9,14; 11,2) oder „die Jünger der Pharisäer“ (22,15f).3 Ausschließlich in 8,21 werde der Begriff zweideutig gebraucht. Diese Austauschbarkeit von „Zwölf“ und „Jünger“ verhindere aber nicht, dass für Kingsbury das ab 13,16 Gesagte auch für die Christen der mt Gemeinde relevant sei: das Verstehen der Himmelreich-Geheimnisse sei nicht nur den Zwölf gegeben, sondern auch den Gemeindechristen. In Matthew: Structure, Christology, Kingdom arbeitet Kingsbury in typisch kompositionskritischer Weise fast ausschließlich auf der Grundlage des Endtextes, wobei er vereinzelt auf mt Modifikationen des MkEv hinweist.4 Er untersucht die erzählerische Struktur des MtEv, grenzt sich gegen andere thematische und theologische Strukturierungs-Versuche ab und gelangt aufgrund der Formel „von da an begann Jesus…“ (4,17 und 16,21) zum Ergebnis, dass Mt die Jesusgeschichte in drei Phasen strukturiert.5 Weil nun die beiden Elemente „Prophetie“ und „Erfüllung“ die Jesusgeschichte des MtEv bestimmen, bestehe die mt Heilsgeschichte aus diesen zwei Phasen. Eine dritte Phase, nämlich eine Phase der Kirche, gebe es nicht (gegen Strecker, Walker, usw.), da „Christus, der Sohn Gottes“ sowohl den irdischen als auch den auferstandenen Jesus bezeichne, und der auferstandene Jesus gleichermaßen „mit“ der Kirche sei wie der irdische Jesus „mit“ seinen Jüngern. D.h.: analog zur Kontinuität Jesu Christi gebe es eine Kontinuität zwischen den irdischen Jesusjüngern und den Christen der mt Gemeinde, erstere repräsentieren letztere. Aber Mt halte die vergangenen Jünger mit den gegenwärtigen Christen als eine Einheit zusammen, was der Selbstwiderspruch zwischen universalen und partikularistischen Missionsanweisungen in Mt 10 belege.6 Diese Ausführungen Kingsburys zum Verhältnis irdische Jünger – nachösterliche Christen passen zu seinen redaktionskritischen Ausführungen zur Gleichnisrede. Wenn also die irdischen Jesusjünger die späteren Gemeindechristen repräsentieren, dann sind mit den irdischen Jüngern wohl die Zwölf gemeint. In Matthew as Story lassen sich im Kapitel über den „single character“ Jünger nur indirekt Schlüsse auf eine Verhältnisbestimmung zwischen Jüngern und Zwölf ziehen.7 Kingsbury unterscheidet weder die Zwölf von den Jüngern noch Einzelfiguren von der Figurengruppe, wenn er Wesen, Charakterzüge und Aufgaben der Jünger in den letzten beiden Hauptteilen 4,17-16,20 und 16,21-28,20 zusammenfasst.8 Auch Passagen, die eindeutig von Personen des Zwölferkreises handeln, wie die Berufungen von Einzelpersonen (4,18-22; 9,9-13), die Mission zu Israel (10,5b-6) sowie zu allen Völkern (28,16-20), werden gleichermaßen allgemein unter „Jünger“ abgehandelt und sogar mit anderen Passagen verbunden, die die „Kirche“ thematisieren (16,18; 18,17; ähnlich 21,43). Mit „Kirche“ sei laut Kingsbury die vorösterliche Jüngerschaft gemeint und gleichzeitig die nachösterliche Gemeinde. Auch die Einzelfigur Petrus habe wegen Jesu Verbots „niemand nenne sich Rabbi“ (23,8) nur im heilsgeschichtlichen Sinne ein Primat, er sei primus inter pares. Wenn Kingsbury zuerst sagt, dass Petrus die Zwölf repräsentiere, später aber, dass er die Jünger repräsentiere, dann gebraucht er Zwölf und Jünger austauschbar (vgl. 16,16ff und 18,18ff).9 Den „Schriftgelehrten“ in 8,19f erkennt Kingsbury nicht als „Jünger“ an, weil der Schriftgelehrte erstens selbst die Initiative ergreife und zweitens Jesus „Lehrer“ nenne. Anders der „andere Jünger“ in 8,21f, den erstens Jesus auffordert „Folge mir nach!“und der zweitens Jesus „Herr“ nennt.10 In Mt 10 erkennt Kingsbury, dass die Zwölf als Gesandte adressiert sind, aber der implizite Leser wende diese Anweisungen auf die nachösterliche Mission an: „In these missionary instructions of Jesus to the Twelve, ,the particular‘ is not without the quality of ,the typical‘.“11 Aus diesen Beobachtungen kann man schlussfolgern, dass auch in diesem Buch die Jünger „Typen“ für die Gemeinde sind. Etwas unklar ist, ob Kingsbury hier die Zwölf mit den Jüngern austauschbar versteht: dafür spricht das Beispiel des Verhältnisses Petrus – Jünger, dagegen könnte das Beispiel des „anderen Jünger“ sprechen.

Richard A. Edwards behandelt in seinen Aufsätzen „Uncertain Faith: Matthew’s Portrait of the Disciples“ (1985)12 und „Characterization of the Disciples as a Feature of Matthew’s Narrative“ (1992)13 sowie in seinem Buch Matthew’s Narrative Portrait of Disciples: How the Text-Connoted Reader Is Informed (1997)14 die Jünger als eine Gruppe, ohne auf die spezielle Funktionen von Einzeljüngern oder von den Zwölf einzugehen: Petrus ist genauso selbstverständlich ein Jünger wie es die zwölf Jünger als Gruppe sind. Edwards spricht vor und nach Mt 10 konsequent allgemein von „Jüngern“ und in Mt 10 selbst von den „Zwölf (Jüngern)“. Bezeichnend könnte ein kleines Indiz sein: laut Edwards würden in 13,52 die „zwölf Jünger“ für das Verstehen der Gleichnisse gepriesen.15 Dabei ist in Mt 13 nur allgemein von den „Jüngern“ die Rede. Sollte man daraus schlussfolgern, dass es laut Edwards (spätestens ab Mt 10) nur die Zwölf als Jünger gab? Jedenfalls erweckt Edwards’ erster Aufsatz beim „impliziten Leser“ seiner Veröffentlichung diesen Eindruck. Der zweite Aufsatz und sein Buch dagegen machen klar, dass für den impliziten Leser des MtEv nicht nur die zwei in 4,18-22 berufenen Brüderpaare „Jünger“ seien (rückwirkend von 5,1 her), sondern auch der Schriftgelehrte (!) und der „andere Jünger“ in 8,19-22. Und weil die Volksmenge bei Jesu Bergpredigt anwesend war und mithören konnte, wie die wahre Jesus-Jüngerschaft aussieht (7,28f), muss der „implizite Leser“ sein „Jünger“-Bild ausweiten auf alle, die Jesus „nachfolgen“ wollen, also auch auf Personen, die aus dem Volk heraustreten, ohne speziell berufen worden zu sein!16 Diese Ausweitung des Jüngerkreises lässt sich so deuten, dass laut Edwards „Jünger“ und „Zwölf“ nicht austauschbar sind.

Jeannine K. Brown arbeitet in The Disciples in Narrative Perspective: The Portrayal and Function of the Matthean Disciples die These heraus, dass die Jünger Jesus und seine Botschaft immer wieder missverstehen (im Kontrast zum redaktionskritischen Bild der Jünger als Verstehende).17 Brown definiert hierbei die „Jünger“ als Zwölfergruppe. Den Grund dafür sieht Brown – im expliziten Anschluss an Wilkins und Luz und in expliziter Abgrenzung von Freyne – in der Verbindung von μαθητής und οἱ δώδεκα. Diese Verbindung zeige sich erstens an der Formulierung „zwölf Jünger“ (Mt 10,1; 11,1; 20,17; 26,20) und zweitens daran, dass mit den „Jüngern“ durchgehend die „Zwölf“ gemeint seien (z.B. im Kontext von 19,28).18 Während „die Jünger“ (οἱ μαθηταί) immer die Zwölf bezeichnen, seien „Jünger“ (μαθηταί) ohne Artikel normalerweise weniger stark referentiell und auf allgemeine Jünger(schaft) bezogen (10,24f42; 13,52). Dazu passe laut Brown, dass Mt bei Josef von Arimathäa in 27,57 das Verb μαθητεύω einsetze und somit das Nomen μαθητής vermeide, das er für die Zwölf reserviert habe. Einzig 8,19-22 lasse an einen oder zwei konkrete „Jünger“ denken, die sich vermutlich außerhalb des Zwölferkreises befinden. Die artikellosen Vorkommen von „Jünger“ gehören mit ihrem Verweis auf allgemeine Jüngerschaft in die Kategorie der „ideal disciples“, die Brown – im expliziten Anschluss an Daniel Patte19 – von den „actual disciples“ unterscheidet. Nicht selten treffen i.E. in ein und derselben Passage beide Arten, „ideal“ und „actual“, gleichermaßen zu; dann unterweise Jesus die konkrete Jüngergruppe (= Zwölfergruppe) in allgemeiner Jüngerschaft (z.B. 16,24-27). Ebenso wie die allgemeinen Jüngerschafts-Unterweisungen treffen auch Jünger-typische Figuren (z.B. die kanaanäische Frau, der Hauptmann von Kapernaum, usw. Hierzu zählt Brown auch Joseph von Arimathäa, s.o.) keine direkten Aussagen über die konkrete Figurengruppe „Jünger“. Allein die Zwölf seien die Jünger, und selbst wer sich Jünger-ähnlich verhalte, gehöre dennoch nicht zur Jüngergruppe.20 Weil die Zwölf bzw. „die Jünger“ wie ein „single character“ auftreten, können i.E. Einzelfiguren – z.B. durch ihr Verhalten – die gesamte Gruppe repräsentieren. Das zeige sich z.B. bei den drei Jüngern in der Verklärungs- oder Gethsemane-Szene (17,1ff; 26,36ff), aber auch sonst bei Petrus, dessen Verhalten Mt parallel zu den Zwölf zeichne, so dass er stets die gesamte Zwölfergruppe repräsentiere.21

 

Uta Poplutz stellt in Erzählte Welt: Narratologische Studien zum Matthäusevangelium22 zwei Merkmale eines Jesusjüngers fest: Berufung und Nachfolge. Und sie deutet namentlich genannte Einzelfiguren (z.B. Petrus), die aus der Gruppe hervortreten, als Repräsentanten und Typen eines „Jüngers“ (ausführlicher dazu im Anhang [online], Exkurs 3). Innerhalb einer exegetischen Skizze bestimmt Poplutz im Zusammenhang mit Mt 10 das Verhältnis der Jünger zu den Zwölf. Im expliziten Anschluss an Luz und Bultmann argumentiert sie, dass Mt die Identifizierung beider von Mk übernommen hatte und dass an keiner Stelle des MtEv eine Person außerhalb des Zwölferkreises „Jünger“ genannt werde. Deswegen kann sie schlussfolgern:

„Aus diesem Grund lässt sich die Figurengruppe der μαθηταί im Matthäusevangelium mit dem Zwölferkreis gleichsetzen. Zwar gibt es selbstverständlich andere Figuren – unter ihnen auch viele Frauen – die man als Jünger resp. Jüngerinnen Jesu identifizieren kann, aber der Zwölferkreis ist im Matthäusevangelium als Figurengruppe über weite Strecken mit οἱ μαθηταί αὐτοῦ identisch.“23

Bemerkenswert ist, dass Poplutz das Verhältnis zwischen dem Titel „Jünger“ und den Qualitäten eines Jünger-Seins diskutiert. So zählt sie viele jüngertypische Figuren auf, wie die erwähnten Frauen, die aber allesamt Randfiguren sind, und nicht mit der Figurengruppe „Jünger“ zu verwechseln sind, auch wenn sie manchmal ein vorbildlicheres Jünger-Verhalten an den Tag legen als die namentlich bezeichneten „Jünger“.

1.3.2 Kritische Anfragen an die narrativkritischen Deutungen der zwölf Jünger

Ebenso wie in den formkritischen und redaktionskritischen Mt-Studien steht auch in den narrativkritischen Studien der Zwölferkreis im Zusammenhang mit dem Jüngerkreis. Und auch hier haben einige Mt-Forscher die Jünger mit den Zwölf identifiziert. Die Gründe für eine solche Identifizierung lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Erstens die Rezeption redaktionskritischer Ergebnisse. Und zweitens einzelne Argumente auf der Grundlage des Endtextes. Im Folgenden sollen die Schwächen dieser zwei Gruppen aufgezeigt werden.1 Aufgrund fehlender Relevanz für unsere Fragestellung soll an dieser Stelle auf eine kritische Bewertung etlicher Grundannahmen der narrativkritischen Methodik verzichtet werden.2

Die Rezeption redaktionskritischer Ergebnisse. Es fällt auf, dass die wenigen narrativkritischen Studien, die den Zwölferkreis überhaupt thematisieren, die redaktionskritische (!) Verhältnisbestimmung von „Zwölf (Jünger)“ und „Jünger“ aufgreifen und beide als „identisch“ oder „synonym“ beschreiben. Obwohl das m.W. an keiner Stelle eindeutig ist, erwecken Kingsburys Ausführungen in seiner narrativkritischen Studie Matthew as Story den Eindruck, dass er die Zwölf und die Jünger als austauschbare Größen versteht. Diese These hatte er in seiner früheren Studie zu Mt 13 begründet, in der er noch einen redaktionskritischen Ansatz verfolgt hatte. Bevor Jeannine Brown ihre These, dass „die Jünger“ und die Zwölf identisch seien, mit Argumenten anhand des Endtextes begründet, verweist sie auf Luz und Wilkins, mit denen sie ihre These teilt. Doch sowohl Luz als auch Wilkins sind v.a. aufgrund redaktionskritischer Beobachtungen zu diesem Ergebnis gelangt. Ebenso bezieht sich Uta Poplutz bei ihrer Verhältnisbestimmung, nämlich, dass beide von Mt „gleichgesetzt“ bzw. „identisch gemacht“ wurden, explizit und zustimmend auf Bultmann und Luz. Das erste von ihren vier Argumenten für diese Verhältnisbestimmung ist redaktionskritisch: Mt habe die Identifizierung von Mk mehr oder weniger selbstverständlich übernommen. Angesichts dieses Befundes stellt sich m.E. die kritische Frage, ob es konsequent ist, einerseits gezielt narrativkritisch zu arbeiten und andererseits redaktionskritisch erarbeitete Thesen aufzugreifen. Wäre es nicht konsequenter, entweder ausschließlich den Endtext auszulegen oder aber bei allen Exegesen redaktionskritische Ergebnisse einzubeziehen, was dann aber eine kompositionskritische Methodik wäre?

Endtextbasierte Argumente. Jeannine Brown führt als Argumente für die These, dass mit „die Jünger“ die „Zwölf“ gemeint seien, erstens die Formulierung „zwölf Jünger“ an und zweitens die Beobachtung, dass mit „die Jünger“ durchgehend die Zwölf gemeint seien, so z.B. in Mt 19,28. Das aber sind keine logisch zwingenden Argumente. Denn die Formulierung „zwölf Jünger“ besagt zwar, dass die in 10,2-4 aufgelisteten zwölf Personen „Jünger“ genannt werden, aber sie besagt nicht, dass auch außerhalb dieses Kontextes mit „die Jünger“ notwendigerweise immer die Zwölf gemeint sind. Das gleiche gilt für Browns zweites Argument. Es mag stimmen, dass im Kontext von 19,28 nur die Zwölf mit dem Ausdruck „die Jünger“ gemeint sind, aber damit ist nicht belegt, dass das an sämtlichen Stellen des MtEv der Fall ist. Brown führt zwei weitere grammatische Argumente an. Erstens: „Jünger“ ohne Artikel bezeichne einen Jünger im allgemeinen Sinne (sogenannte „ideal disciples“; so z.B. 10,24f42; 13,52) und „Jünger“ mit Artikel bezeichne aufgrund seiner starken Referentialität die Zwölf (sogenannte „actual disciples“). Diese Unterscheidung ist m.E. zwar sachgemäß und förderlich, aber die jeweilige referentielle Stärke (d.h. ob auf einen unbestimmten oder einen bestimmten Jünger Bezug genommen wird) wird nicht nur vom vorhandenen oder fehlenden Artikel, sondern auch und besonders vom Kontext angezeigt. Das zweite grammatische Argument lautet: der Evangelist habe bei Joseph von Arimathäa (27,57) das Verb μαθητεύω eingesetzt, weil das Substantiv μαθητής für die Zwölf reserviert sei. Gegen dieses Argument wurde bereits eingewandt, dass Substantiv und Verb zu demselben semantischen Feld gehören und deswegen beide nicht getrennt werden dürfen. Ein weiteres Argument lautet: Personen, die sich Jünger-ähnlich bzw. wie ein „ideal disciple“ verhalten (z.B. die kanaanäische Frau, der Hauptmann von Kapernaum usw.), gehören dennoch nicht zum Jüngerkreis, weil ausschließlich die Zwölf zum Jüngerkreis Jesu gehören. Browns Argument, dass ein bestimmtes Verhalten nicht unbedingt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe anzeigen muss, ist richtig. Und dennoch: Browns Argument entkräftet die gegenteilige These, ist aber kein Beweis für ihre eigene These, dass nur die Zwölf die „Jünger“ Jesu sind. D.h.: es ist durchaus möglich, wenngleich nicht notwendig, dass Personen, die sich Jünger-ähnlich verhalten, zum Jüngerkreis gehören und vom Evangelisten als „Jünger“ bezeichnet werden, – der Text lässt beide Möglichkeiten zu. Ähnliches lässt sich zu Poplutz sagen: sie führt abgesehen vom redaktionskritischen Argument drei Argumente für die These ins Feld, dass die Jünger und die Zwölf identisch seien. Erstens: Niemand außerhalb des Zwölferkreises werde „Jünger“ genannt. An dieser Stelle wäre eine Diskussion zum Verb μαθητεύω wünschenswert gewesen. Zweitens: Zwar gebe es im MtEv eine ganze Reihe von „jüngertypischen Figuren“, die teilweise ein vorbildlicheres Jünger-Sein verkörpern als die Zwölf. Aber dazu meint sie: „All diese ,kleinen Leute‘ tangieren unsere Antwort auf die Frage nach der Benennung der Jüngergruppe als Figuren im Matthäusevangelium nicht, sondern festigen die Beurteilung, dass die μαθηταί mit den δώδεκα zu identifizieren sind.“3 M.E. ist das einerseits insofern korrekt, als dass möglicherweise tatsächlich niemand aus der Reihe der jüngertypischen Personen „μαθητής“ genannt wird (wobei „ein anderer Jünger“ in 8,21 wahrscheinlich eine Ausnahme bildet; dazu s.u. I,2.2.2). Andererseits hätte erwogen werden müssen, dass nicht jeder, der ein wichtiges jüngertypisches Merkmal erfüllt, damit auch alle notwendigen Merkmale erfüllt, die ihn zu einem „Jünger“ machen. Desweiteren hätte Poplutz für die Bestimmung der Figurengruppe der Jünger das Verhältnis zwischen einem gruppentypischen Verhalten und dem nomen appellativum „Jünger“ klären können: warum ist für Poplutz nur derjenige ein „Jünger“, der mit diesem Ausdruck bezeichnet wird? Drittens: die parallele Aussendung der zwölf bzw. elf Jünger in 10,1-4 und 28,16 zeige ihres Erachtens das theologische Anliegen des Evangelisten, dass es vorösterlich kein Wachsen der Jüngergemeinde gegeben habe, sondern die Jüngergemeinde bzw. Ekklesia erst durch den Auferstandenen gebaut werde, durch den Kern der Jüngergemeinde, nämlich die Elf. Dieses Argument macht richtigerweise auf die Kontinuität zwischen der ersten und zweiten Aussendung des Zwölferkreises aufmerksam. Das ist aber kein Argument gegen das Wachstum der Jüngergemeinde während Jesu irdischen Wirkens. Zudem hat nicht der auferstandene, sondern der irdische Jesus die zwölf Jünger zur Gruppe versammelt, weswegen auch ein Jüngerwachstum abgesehen vom Zwölferkreis vorstellbar ist.

2 Verhältnisbestimmung „Jünger“ – „Zwölf (Jünger)“ und Schlussfolgerungen

Im Folgenden soll auf der Grundlage des Endtextes und unter Berücksichtigung der obigen semantischen Richtlinien (v.a. I,1.2.3.3) das Verhältnis zwischen den „Jüngern“ und den „Zwölf (Jüngern)“ bestimmt werden. Darauf aufbauend soll versucht werden, die Textstellen im MtEv zu identifizieren, in denen der Zwölferkreis vorkommt.