Die zwölf Jünger Jesu

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

1.2.4.4 Kommentar und Analyse
1.2.4.4.1 Mt 10,5c-7

V.5c-d. εἰς ὁδὸν ἐθνῶν μὴ ἀπέλθητε καὶ εἰς πόλιν Σαμαριτῶν μὴ εἰσέλθητε·. V.5c und V.5d sind zwei parallel aufgebaute Propositionen, die durch die Konjunktion καί verbunden sind.


V.5c εἰς ὁδὸν ἐθνῶν μὴ ἀπέλθητε
V.5d καὶ εἰς πόλιν Σαμαριτῶν μὴ εἰσέλθητε

Weil Jesus seine Aussendungsrede mit den zwei Verboten V.5c und V.5d startet, hat die Aussage von V.5c-d eine starke Wirkung. Auf diese Weise soll kategorisch ausgeschlossen werden, dass die Zwölf den falschen Weg einschlagen oder die falsche Stadt betreten und dadurch jeweils die falschen Adressaten erreichen könnten.1 Dass die Zwölf das eine Mal sich nicht auf den Weg machen und das andere Mal eine Stadt nicht betreten sollen, ist nicht entscheidend. Im Fokus steht in beiden Fällen der beabsichtigte Kontakt mit den Adressaten.2 Dafür spricht neben V.6 auch V.11.14f23. Diese Aussage wird durch die in V.6 folgende richtige Alternative verstärkt. Worin genau die Parallelität beider Propositionen besteht, hängt davon ab, wie man das Verhältnis zwischen ἐθνῶν und Σαμαριτῶν bestimmt: Weil die Samaritaner sowohl hinsichtlich ihrer Abstammung als auch hinsichtlich ihrer religiösen Überzeugungen teilweise jüdisch sind,3 soll V.5d jedes Missverständnis ausräumen: die Samaritaner gehören eben nicht zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (V.6) und sollen deswegen von den Aposteln nicht aufgesucht werden. Und falls Jesus diese Worte in Galiläa spricht, so verbietet er seinen zwölf Jüngern in gewisser Weise in zwei verschiedene Richtungen zu gehen: das nächste heidnische Gebiet liegt nördlich (vgl. 15,21-24) und Samaria liegt südlich von Galiläa. Allerdings verbietet er ihnen nicht das südlich gelegene Judäa anzusteuern.

V.6. πορεύεσθε δὲ μᾶλλον πρὸς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ. Durch das doppelte Verbot V.5c-d erhält das Gebot V.6 ein umso größeres Gewicht: Jesus gebietet den zwölf Jüngern stattdessen zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ zu gehen. Ihre Zielgruppe wird mit einer Kombination von zwei verschiedenen Bildern beschrieben: „verlorene Schafe“ und das „Haus“ Israel. Besonders diskussionswürdig ist die Funktion des Genitivs οἴκου, wobei folgende Funktionsweisen in die engste Auswahl kommen: Liegt ein genitivus partitivus vor, dann bilden die verlorenen Schafe einen Teil des Hauses Israel, woraus abgeleitet werden kann, dass zum Haus auch Schafe gehören, die nicht verloren sind. Zu den verlorenen Schafen könnte man z.B. die „verlorenen“ neun Stämme Israels zählen, oder aber Menschen (-gruppen), die in sozialer, physischer, psychischer oder in anderer Hinsicht benachteiligt sind. Liegt allerdings ein genitivus epexegeticus vor, dann steht οἴκου Ἰσραήλ in Apposition zu τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα, d.h. die verlorenen Schafe sind das (ganze) Haus Israel! Für die zweite Funktionsweise sprechen sechs Argumente: Erstens kommt der genitivus epexegeticus im NT oft bei Bildworten vor.4 Zweitens lassen die vorangehenden parallelen Propositionen V.5c-d mit ihren Volksbezeichnungen „Heiden“ und „Samaritaner“ auch hier in V.6 zunächst an ein ganzes Volk denken. Anderenfalls wäre in diesem Zusammenhang zu erwarten gewesen, dass Jesus es seinen Aposteln verbietet, zu denjenigen Schafen zu gehen, die nicht verloren sind! Drittens: auch in der Parallele 15,24 werden ganze Völker kontrastiert. Viertens ist das Bild von den verlorenen Schafen eng verknüpft mit dem Bild von den Schafen, die keinen Hirten haben (9,36d), wonach die Volksmengen Israels „abgemattet“ und „am Boden liegend“ sind (9,36c). Im Zusammenhang von 9,36 wurde dafür plädiert, dass damit nicht nur ein bestimmter Teil der Volksmengen gemeint sei, sondern das gesamte Volk (II,1.2.1). Fünftens lässt sich aus den Vorschriften in 10,7ff ableiten,5 dass die „Verlorenheit“ verschiedene Facetten des Lebens betrifft und deswegen nicht auf bestimmte Volksgruppen reduziert werden kann. Sechstens wird im restlichen MtEv keiner Gruppe des Volkes Israel pauschal das „Heil-Sein“ oder „Zuhause-Sein“ attestiert.

Sowohl in den beiden Verboten V.5c-d als auch in dem Gebot V.6 zeigt sich eine Parallele zwischen Jesus und den zwölf Jüngern: beide schließen einerseits die „Mission“ von Heiden (inklusive Samaritaner) aus, und widmen sich andererseits ausschließlich dem Volk Israel. Das wird etwas später in Mt 15,21-24 bei Jesu Zurückweisung der heidnischen Frau in den Gegenden von Tyrus und Sidon (Syro-Phönizien) besonders deutlich: οὐκ ἀπεστάλην εἰ μὴ εἰς τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ. Beachtenswert ist nicht nur die wörtlich identische Formulierung τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ, sondern auch der Gebrauch des Verbs ἀπεστάλην: ebenso wie Jesus (von Gott) nur zu den „verlorenen Schafen, nämlich dem Haus Israel“ „gesandt ist“ (ἀπεστάλην), sendet auch Jesus in V.5a seine zwölf Jünger zu den „verlorenen Schafen, nämlich dem Haus Israel“. Doch während Jesus Ausnahmen macht (vgl. z.B. 8,10 und insbesondere 15,28),6 finden sich hier bei der Aussendung der Zwölf keine Hinweise auf mögliche Ausnahmen. Damit ist ein starker Kontrast zu πάντα τὰ ἔθνη in 28,19 (und πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν in 24,14) hergestellt.

Ein anderer Kontrastpunkt zwischen Jesu Wirken und dem der Zwölf ist besonders aussagekräftig: Jesus hatte ab 4,12 in Galiläa gewohnt und und ab 4,17 in ebendieser Gegend gewirkt, weswegen „alle Städte und Dörfer“ (9,35: τὰς πόλεις πάσας καὶ τὰς κώμας) in Galiläa zu verorten sind (vgl. 4,23). Diese Beobachtung wird durch die Auskunft in 4,25, dass Menschen aus den anderen Regionen Palästinas Jesus nachfolgten, nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt. Wenn aber Jesus nun die zwölf Jünger zum gesamten Volk Israel aussendet und ankündigt, dass sie die „Städte Israels“ (V.23: τὰς πόλεις τοῦ᾿Ισραήλ) nicht beenden werden, dann hat Jesus offenbar ganz Israel im Blick, Galiläa eingeschlossen. Daraus lässt sich ableiten, dass die Zwölf Jesu bisherigen – auf Galiläa beschränkten – Radius erweitern sollen auf alle Regionen Israels. Dieser Ausrichtung auf Gesamtisrael entspricht, dass die Zwölfzahl der Jünger mit der Zwölfzahl der Stämme Israels verbunden ist (vgl. II,1.2.3.4).

Jesus zieht hier das Bild von den „verlorenen Schafen“ heran, um den Zustand des Volkes Israel zu beschreiben. Aufgrund 9,36c-d lässt sich dieses Bild vervollständigen: Die Verlorenheit bzw. Zersteuung der Schafe ist darin begründet, dass die Herde keinen fürsorglichen Hirten hat. Außerdem ist die Verlorenheit eine alle Bereiche umfassende und lebensgefährliche Notlage. Auf dem Hintergrund von Hes 34 und von zeitgeschichtlichen eschatologischen Vorstellungen sowie im Kontext des MtEv lässt sich dieses Bild so verstehen, dass Jesus selbst der messianische Hirte ist, der seine zwölf Jünger, d.h. seine Hilfshirten, beauftragt, das zerstreute Zwölf-Stämme-Volk Israel zu sammeln und unter seine fürsorgliche Leitung zu stellen (vgl. II,1.2.1). Vermutlich vermittelt dieses Bild auch die Botschaft, dass das „wahre“ Volk Israel zu diesem Zeitpunkt gar nicht existierte, weil es weder eine Einheit bildete (horizontale Beziehung) noch unter Gottes Führung stand (vertikale Beziehung). Mit welchen „Maßnahmen“ die zwölf „Hilfshirten“ dieser Not beikommen sollen, führen V.7f aus.

V.7a-c. πορευόμενοι δὲ κηρύσσετε λέγοντες ὅτι ἤγγικεν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν. Wenn die Zwölf bei den verlorenen Schafen des Hauses Israel angekommen sind (V.7a), sollen sie zuerst predigen (V.7b), nämlich: „Das (König-) Reich der Himmel ist nahe!“ (V.7c). Auffallend ist erstens, dass das Predigen (κηρύσσω) auch schon bei Johannes dem Täufer (3,1) und bei Jesus (4,17) die ersten – und daher wohl auch zentralen – öffentlichen Tätigkeiten sind. Zweitens fällt auf, dass der Evangelist in V.7c eine Formulierung gebraucht, die sowohl zum Predigtinhalt des Täufers (Mt 3,2) als auch zu Jesu Predigtinhalt (Mt 4,17) starke Parallelen aufweist (s.u. Tabelle).


Johannes (Mt 3,2) μετανοεῖτε· ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.
Jesus (Mt 4,17) μετανοεῖτε· ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.
Zwölf (Mt 10,7) ἤγγικεν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν.

Der Predigtinhalt der Zwölf (Mt 10,7) weicht nur dahingehend davon ab, dass der explizite Ruf zur Umkehr (μετανοεῖτε) fehlt, worauf auch das Fehlen der begründenden Konjunktion γάρ zurückzuführen ist. Ob der Umkehrruf für die Adressaten der Zwölf eine logische Konsequenz der Botschaft ἤγγικεν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν ist, bleibt offen. Doch entdeckt man zwischen 10,15 und 11,20-24 eine Querverbindung, so hatte Jesus von den Städten Israels durchaus Buße erwartet. Sollte die Auslassung des Umkehrrufs vielleicht zum Ausdruck bringen, dass das Himmelreich bereits so nahe ist, dass es keine Zeit mehr für die Vorbereitung gibt bzw. dass die von Johannes und Jesus geforderte Buße nun abgeschlossen sein sollte?

 

Im MtEv ist die Predigt und die Lehre vom Himmelreich Jesu übergeordnetes theologisches Denkparadima, in das sich alle Einzelaspekte seines Wirkens einfügen lassen.7 Deswegen vermittelt der parallele Predigtinhalt zwischen Jesus und den Zwölf erstens den Gedanken, dass die Zwölf eine sehr zentrale Handlung Jesu imitieren sollen. Und zweitens vermittelt diese Parallele den Gedanken, dass sie als Jesu Mitarbeiter in sein öffentliches Wirken einbezogen werden. Doch die dreifache Parallele geht darüber hinaus, weil sie einen Querbezug zwischen allen drei Personen schafft, vermutlich mit dem Ziel, die Zwölf in eine „heilsgeschichtliche Linie“ mit dem Täufer und mit Jesus zu stellen.8 Sie sollen nicht nur an dem beteiligt sein, was Johannes tat, und an dem, was Jesus tat und tut, sondern nun auch fortführen, was die beiden begonnen haben. In Mt 10 beginnt also für die Zwölf eine neue Phase, was die Platzierung der Predigtparole in Mt 10 anzeigt, die auch bei Johannes und Jesus am Anfang ihres öffentlichen Wirkens stand.9 Da von der Ausführung des Auftrags nicht berichtet wird (vgl. 11,1), lässt sich sagen, dass diese neue Phase bei der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus neu ansetzt oder fortgeführt wird, da Jesus ihnen dann in ähnlicher Weise einen Auftrag erteilt (28,18-20), der zeitlich unbegrenzt ist, d.h. andauert bis alle Menschen Jesu Jünger geworden sind (vgl. auch 10,23; 24,14). Mit dieser heilsgeschichtlich bedeutsamen Beauftragung hebt Jesus den Status der Zwölf an.

An dem Wörtchen ἤγγικεν hat sich in der ntl Forschung die Debatte entzündet, ob das Reich Gottes zukünftig oder gegenwärtig oder beides – d.h. zukünftig und gegenwärtig – ist.10 Diese sehr grundlegende Frage nach der Zeit in der Eschatologie ist auch für unser Verständnis der Wundertaten der Zwölf von Relevanz, weil die Antwort darüber entscheidet, ob die Wundertaten Jesu und – davon abgeleitet – auch die Wundertaten der Zwölf ein Ausdruck des gegenwärtigen und / oder des zukünftigen Himmelreichs sind. Diese Debatte wird zwar in der Jesus- und Evangelienforschung geführt, aber sie betrifft ebenso die Mt-Forschung, weil die spannungsvollen Aussagen auch im MtEv vorhanden sind, – mehr noch: die Spannung entsteht aus der Übersetzung der beiden Verben ἤγγικεν / ἐγγίζω und ἔφθασεν / φθάνω, wobei gerade bei der Interpretation von Mt 12,28 die Weichen für das Verständnis von der Zeit des Himmelreichs gestellt werden. In der Forschung des 20. Jh. wurden zur Frage nach der Zeit des Gottesreichs vier verschiedene Positionen vertreten (ausführlich im Anhang [online], Exkurs 9):11 1. Das Reich Gottes ist zukünftig („konsequente Eschatologie“); 2. Das Reich Gottes ist gegenwärtig („realized eschatology“); 3. Das Reich Gottes ist zukünftig und gegenwärtig („self-realizing eschatology“ oder „inaugurated eschatology“); und 4. Das Reich Gottes, wie es der historische Jesus meinte, hat keine zeitliche Ereignisfolge (Norman Perrin: „an experience of God as king of such an order that it brings the world to an end.“).12

Im MtEv gibt es Belege sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft des Himmelreichs (vgl. im Anhang [online] Exkurs 10). Dass der Evangelist Mt das Himmelreich in beiden „Zeiten“ gleichermaßen verorten konnte, ist aber wahrscheinlich nicht Ausdruck mehrerer divergierender Konzepte, als hätte der Redaktor es unterlassen, seine Vorlagen und ihre divergierenden Konzepte in eine einzige konsistente Synthese zu verarbeiten, sondern es sind vielmehr verschiedene Aspekte einer einzigen komplexen Eschatologie, die in typisch apokalyptischer Manier auch zeitliche Abfolge-Ereignisse beschreibt. Negativ bedeutet das zunächst: weil das Himmelreich selbst „erschienen“ bzw. „gekommen“ ist (ἔφθασεν), sind alle Versuche nicht legitim, Mt 12,28 und seine Aussage über die Gegenwart des Gottesreichs entweder zu streichen oder abzuwerten oder dahingehend zu interpretieren, dass die Exorzismen lediglich Symbole des zukünftigen Himmelreichs seien.13 Twelftree zieht zu Recht folgenden Schluss aus Mt 12,22ff: „For Jesus his ministry of exorcism was not preparatory to the kingdom, nor a sign of the kingdom nor an indication that the kingdom has arrived, nor even an illustration of the kingdom, but actually the kingdom of God itself in operation.“14 Positiv bedeutet das: In irgendeiner Weise muss zumindest ein Element des Gottesreichs gegenwärtig sein, wenn es „gekommen“ ist (was letztlich der Fall ist, wenn man Ausdrücke wie z.B. „einzelne Durchbrüche“ oder „Anbruch“ gebraucht). D.h.: beide Zeit-Aussagen sollten zusammengehalten und einander zugeordnet warden. Das Verhältnis beider Zeit-Aussagen könnte man in folgender Weise zu beschreiben: 1. Die bei Mt beschriebenen Handlungen und Ereignisse nehmen verschiedene Plätze auf einer zeitlich-chronologischen Skala ein. Sie sind weder überzeitlich noch symbolisch zu verstehen.15 Auch die Himmelreich-Aussagen beschreiben frühere oder spätere (Zeit-) Momente einer Heilsgeschichte (so wie die jeweilige AT-Verheißung und ihre Erfüllung in Jesus zwei verschiedene Zeitpunkte auf der heilsgeschichtlichen Zeitskala sind). 2. Gegenwart und Zukunft sind nicht voneinander getrennt, sondern miteinander verbunden: Der Eintritt in die zukünftige „Glückseligkeit“ (5,3-11) und der „Lohn“ in der zukünftigen „Welt“ sind bedingt durch das gegenwärtige „Handeln“ (das Tun des Vater-Willens in 7,21-23, der Glaube des Hauptmanns von Kapernaum in 8,10-12; usw.). Dem entspricht auf der Gegenseite, dass dem Himmelreich „Gewalt“ angetan (11,12) und es durch Menschen anderen Menschen „verschlossen“ werden kann (23,13).16 3. Die naheliegendste und plausibelste Zuordnung besteht darin, dass das Gottesreich teilweise gekommen ist und größtenteils noch aussteht. Viele futurische Aussagen machen klar, dass die endgültige „Glückseligkeit“ erst dann eintritt, wenn Gott am „Ende der Zeit“, bei Jesu „Wiederkunft“, Gericht übt und das Recht (wieder-) herstellt und seine Regentschaft endgültig durchsetzt (vgl. z.B. 25,31-46). Insbesondere die Gleichnisse in Mt 13 zeigen, dass das Himmelreich bereits da ist, aber es bleibt bis zum endzeitlichen Gericht nur teilweise oder gar nicht erkennbar (13,47-50). Diese Gleichnisse enthalten aber auch den Gedanken, dass das noch kaum erkennbare Himmelreich bereits auf Erden wächst (13,31-33), was auch die Kombination der Vaterunser-Bitten „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“ und „Dein Reich komme“ vermittelt (6,10). 4. Die Frage, was denn nun genau der (An-) Teil des Himmelreichs ist, der bereits gekommen ist, hat I. Howard Marshall pointiert beantwortet: „the promise of the KG was fulfilled in the ministry of Jesus and would be consummated in the future.“17 [Kursiv im Original] D.h.: durch Jesu machtvolles Heilshandeln wirkt Gott selbst „dynamisch“, aber die perfekte und vollendete Heilsschaffung erfolgt erst am Ende der Zeit, mit und nach dem Endzeitgericht.18 Diese Frage nach den konkreten Anteilen Himmelreichs lässt sich etwas präziser beantworten. Abgesehen von den einzelnen „Einbrüchen“ des Himmelreichs durch Exorzismen oder anderen „Heils-Taten“, ist das Himmelreich auf eine weitere Weise gekommen: Verbindet man nämlich Jesu Identität als „Christus“ und „Sohn Davids“ und somit als „König“ mit der Vorstellung, dass dieser König des Himmelreichs ans Kreuz geschlagen wurde, dann ist möglicherweise gerade in Jesu Sterben das Himmelreich gekommen. Genauer: Jesu Sterben bewirkt die Vergebung der Sünden und die Errettung des Volkes (vgl. 1,21; 26,28) und damit den Eintritt in das Himmelreich.19 Und als Auferstandener und Universalregent (28,18) wird er bei seiner Wiederkunft seine Herrschaft endgültig und für alle sichtbar aufrichten.

Wenn nun die zwölf Jünger das nahegekommene20 (König-) Reich der Himmel predigen sollen, so sollen sie – „Herolden“ gleich – dem Volk sicherlich nicht nur die Nähe, sondern auch die baldige Ankunft des bei vielen Israeliten sehnsüchtig erwarteten Königs und seines Reiches ankündigen, so dass sich das Volk darauf angemessen vorbereiten kann.21 Doch die konkrete Identität des – besser: ihres neuen – Königs sollen die Zwölf nicht bekannt geben.

1.2.4.4.2 Mt 10,1b-d.8a-d

V.1b-d. ἔδωκεν αὐτοῖς ἐξουσίαν πνευμάτων ἀκαθάρτων ὥστε ἐκβάλλειν αὐτὰ καὶ θεραπεύειν πᾶσαν νόσον καὶ πᾶσαν μαλακίαν. V.8a-d. ἀσθενοῦντας θεραπεύετε, νεκροὺς ἐγείρετε, λεπροὺς καθαρίζετε, δαιμόνια ἐκβάλλετε·. Im Folgenden soll im ersten Schritt die Frage behandelt werden, worin konkret die den Zwölf verliehene Vollmacht besteht und im zweiten Schritt die Frage, was diese Vollmacht über die Bedeutung der Zwölf aussagt. Im ersten Schritt müssen zwei grundlegende Fragen des Textes geklärt werden: 1. In welchem Verhältnis stehen die Elemente Geisteraustreibung (V.1b-c) und Krankenheilung (V.1d) zueinander? 2. In welchem Verhältnis stehen die Elemente der Bevollmächtigung (V.1b-d) und die Elemente der Beauftragung (V.8a-d) zueinander? Diese beiden Verhältnisbestimmungen des ersten Schritts bereiten in zweifacher Hinsicht den zweiten Schritt vor: Erstens macht die Gesamtschau aller drei [bis vier] Elemente (Geisteraustreibung, Krankenheilung, Totenerweckung [und Aussätzigenreinigung]) auf Aspekte bzgl. des Zwölferkreises aufmerksam. Zweitens stellen die Verhältnisbestimmungen die einzelnen Elemente fest und bilden somit die textuelle Grundlage für die Ableitung von Aussagen über den Zwölferkreis.

Worin besteht die Vollmacht, die Jesus seinen zwölf Jüngern gibt?

Erstens: Das Verhältnis zwischen Geisteraustreibung und Krankenheilung. V.1b-d kann auf zweierlei Weise übersetzt werden,1 wobei das Verhältnis zwischen den Elementen Geisteraustreibung und Krankenheilung jeweils unterschiedlich bestimmt wird. Zur ersten Übersetzungsweise: Der Zweck der Bevollmächtigung in Hauptsatz V.1b „er gab ihnen Vollmacht über unreine Geister“ (ἔδωκεν αὐτοῖς ἐξουσίαν πνευμάτων ἀκαθάρτων) wird in zwei nachgeordneten Nebensätzen V.1c und V.1d genannt: „damit sie sie [die unreinen Geister] austreiben und [damit sie] jede Krankheit und jedes Leiden heilen“ (ὥστε ἐκβάλλειν αὐτὰ καὶ θεραπεύειν πᾶσαν νόσον καὶ πᾶσαν μαλακίαν.). Gemäß dieser Übersetzung hat die verliehene Vollmacht über unreine Geister zwei Ausdrucksformen, erstens Geister auszutreiben und zweitens Krankheiten zu heilen.2 Zur zweiten Übersetzungsweise: Nimmt man an, dass πνευμάτων ἀκαθάρτων eine Vorwegnahme ist (Prolepsis) und in der „normalen“ Satzstellung nach der Konjunktion ὥστε und dem Verb ἐκβάλλειν im Akkusativ stünde,3 würde die Übersetzung folgendermaßen lauten: „Er gab ihnen Vollmacht, damit sie unreine Geister austrieben und [Vollmacht, damit sie] jede Krankheit und jedes Leiden heilten.“ Hierbei wären es zwei verschiedene Vollmachten, erstens unreine Geister auszutreiben und zweitens Krankheiten zu heilen. Grammatisch sind beide Übersetzungen möglich.4 Insbesondere die erste Übersetzungsweise eignet sich dafür, anhand des Kontextes auf ihre Tragbarkeit geprüft zu werden, weil sie ein bestimmtes Verhältnis zwischen Geisteraustreibung und Krankenheilung zum Inhalt hat: aus der Bevollmächtigung zur Geisteraustreibung folgt die Fähigkeit, auch Krankheiten zu heilen. Dieses Verhältnis impliziert, dass eine Krankheit eine dämonische Belastung bzw. Besessenheit zum Grund hat. Das bedeutet wiederum: wird die dämonische Belastung beseitigt, so wird der betreffende Mensch gesund. Diese Verhältnisbestimmung wäre nun am Textbefund des MtEv zu überprüfen: 1. Bei mindestens drei Stellen des MtEv fallen tatsächlich Heilungen von körperlichen Krankheiten und Exorzismen zusammen: von Dämonen besessene Menschen werden durch den Exorzismus körperlich gesund (Mt 9,32-33; 17,15-18), und ein von Dämonen besessener Mensch ist zugleich körperlich krank und wird dann von seiner körperlichen Krankheit geheilt (12,22).5 2. Die meisten Stellen berichten davon, dass Personen entweder krank oder besessen waren (4,23-24; 8,2-4[.6-13?].14-15.16.28-32; 9,1-8.18-31; 11,5; 12,10-13.15; 14,35-36; 15,30-31; 20,33-34; 21,14). Aber an keiner dieser Stellen wird das jeweils Andere explizit ausgeschlossen. Es ist bemerkenswert, dass in 8,28-32 im Rahmen des Exorzismus der beiden Männer von Gadara keine körperliche Krankheit erwähnt wird, unter der sie litten.6 Schlussfolgerungen: Aus 1. und 2. darf man weder schlussfolgern, dass eine dämonische Belastung den Menschen immer auch körperlich krank macht, noch, dass eine körperlich Krankheit immer auf eine dämonische Belastung zurückzuführen wäre.7 Beide Punkte können einzeln oder gemeinsam zutreffen, aber die meisten der genannten Textstellen lassen keine derartige Schlussfolgerung zu. Aus diesem knappen Textbefund des MtEv lässt sich also zwar keine strikte Gesetzmäßigkeit bzgl. des Verhältnisses von Besessenheit und körperlicher Krankheit bzw. von Geisteraustreibung und Heilung von körperlicher Krankheit ableiten, aber es lässt sich durchaus feststellen, dass an mindestens drei Stellen die Krankheit auf eine dämonische Besessenheit zurückgeführt wird. Es ließe sich die These aufstellen, dass die Krankenheilung eine Oberkategorie zur Geisteraustreibung ist. Demnach wäre Geisteraustreibung eine Ausdrucksform von Krankenheilung.8 Dann wäre „Krankheit“ im MtEv relativ breit zu verstehen, zu der neben der körperlichen auch andere Krankheitsformen gehören würden, etwa im Sinne von „physische und psychische / seelische Beeinträchtigungen / Leiden“. Dafür sprechen z.B. beide Summarien 4,23 und 9,35, in denen nur Heilungen von Krankheiten und von Gebrechen genannt werden, obwohl Jesus ebenso Geister ausgetrieben hat (vgl. erstens 4,24 unmittelbar nach dem ersten Summarium 4,23 und vgl. zweitens 9,32-33 unmittelbar vor dem zweiten Summarium 9,35).9 Darauf deutet aber auch 8,16-17: indem Jesus die Dämonen austrieb und alle Leidenden heilte, wurde die Schrift erfüllt, dass „Er“ die „Schwachheiten“ auf sich nahm und die „Krankheiten“ trug, wobei die Exorzismen im Schriftzitat nicht erwähnt werden. Fazit: Die erstgenannte Übersetzung, die impliziert, dass die Vollmacht über Geister nicht nur Exorzismen, sondern auch die Heilung sämtlicher Krankheiten und Leiden ermöglicht, ist zwar grammatisch möglich, lässt sich aber durch textuelle Parallelen des MtEv nicht belegen. Es gibt vielmehr sogar Textstellen, die als ein umgekehrtes Verhältnis beschreibend gedeutet werden können, nämlich, dass Krankenheilungen eine Oberkategorie zu Geisteraustreibungen sind. Dem Gesamtbefund würde also die zweite Übersetzung eher Rechnung tragen als die erste: Jesus hat den Zwölf die Vollmacht verliehen, sowohl Geister auszutreiben als auch Krankheiten zu heilen.10 Geht man aber von der hier bevorzugten These aus, dass „Krankheit“ (sowie Leiden) eine Oberkategorie zu Besessenheit ist, dann würde in V.1b-d auf die Unterkategorie Besessenheit (als eine konkrete Krankheitsform) die Oberkategorie Krankheit (sämtliche Krankheitsformen) folgen.11 Darf man daraus ableiten, dass die Vollmacht zu Exorzismen in besonderer Weise hervorgehoben wird?12 Für die anstehende Auslegung bedeutet das jedenfalls beides, Geisteraustreibungen und Krankenheilungen, gesondert zu behandeln.

 

Zweitens: Das Verhältnis zwischen den Elementen der Bevollmächtigung (V.1b-d) und den Elementen der Beauftragung (V.8a-d). Mt 10,8a-d nennt vier Elemente, zu denen die zwölf Jünger beauftragt sind: 1. Kranke heilen (V.8a: ἀσθενοῦντας θεραπεύετε), 2. Tote auferwecken (V.8b: νεκροὺς ἐγείρετε), 3. Aussätzige reinigen (λεπροὺς καθαρίζετε) und 4. Dämonen austreiben (δαιμόνια ἐκβάλλετε). Setzt man diese vier Elemente ins Verhältnis zu V.1b-d, so ergeben sich folgende Zuordnungen:


Mt 10,1b-d Mt 10,8a-d
V.1b-c: πνευμάτων ἀκαθάρτων ὥστε ἐκβάλλειν αὐτὰ (= A) V.8a: ἀσθενοῦντας θεραπεύετε (= B`)
V.1d: θεραπεύειν πᾶσαν νόσον καὶ πᾶσαν μαλακίαν (= B) V.8b: νεκροὺς ἐγείρετε (= C?)
V.8c: λεπροὺς καθαρίζετε (= B`)
V.8d: δαιμόνια ἐκβάλλετε (= A`)

Auffallend ist, dass die Reihenfolge A – B in V.1b-d umgekehrt wird zur Reihenfolge B`- A` in V.8a-d. Folgt man der unter V.1b-d genannten These, so gehören die Unterkategorien V.8c und V.8d zu der Oberkategorie V.8a. Allerdings bereitet V.8b Schwierigkeiten: erstens lässt sich V.8b nicht ohne weiteres V.8a zuordnen. Und zweitens kommt es in der Parallelstelle V.1b-d nicht vor.13 V.1b-d und V.8a-d nennen also insgesamt drei verschiedene Elemente, die zum Handlungsfeld des Zwölferkreises gehören: 1. Geisteraustreibung; 2. Krankenheilung; 3. Totenerweckung. Diese sollen im Folgenden im Hinblick auf die Bedeutung des Zwölferkreises gedeutet werden. Doch sind diese drei Elemente nicht nur als einzelne Elemente relevant, sondern auch in ihrer Kombination.

Was sagt die Bevollmächtigung über die zwölf Jünger aus? Erstens: Die Vollmacht der zwölf Jünger im Vergleich zu Jesu Vollmacht. Zunächst sind folgende Übereinstimmungen bemerkenswert (s.u. Tabelle). Erstens: Die wortlaut-identischen Formulierungen in den beiden Summarien Mt 4,23 und 9,35 und der Wortlaut in 10,1. Zweitens: Die vier Elemente in 10,8a-d und Jesu Taten im MtEv.14 Drittens: Der Begriff ἐξουσία in 10,1 und bei Jesus: Jesu zahlreiche erfolgreiche Wundertaten, v.a. in Mt 8-9, lassen keinen Zweifel daran, dass er „Vollmacht“ hatte, Kranke zu heilen (vgl. v.a. ἐξουσία in Mt 8,9), Geister auszutreiben und Tote zu erwecken. Der Begriff „Vollmacht“ (ἐξουσία) taucht in 10,1 auch in Bezug zu den Zwölf auf. Sodann lässt sich aus diesen drei Übereinstimmungen Folgendes ableiten: Erstens: Die wortlaut-identischen Summarien als Parallele zu 10,1 sowie Jesu wunderhafte Taten als Parallele zu 10,1.8, zeigen erstens, dass die Zwölf in Mt 10 zu Taten beauftragt werden, die Jesus selbst vor Mt 10 getan hat und nach Mt 10 weiter tun wird. Der Zwölferkreis soll also Jesus nacheifern und Jesu Handlungen imitieren. Zweitens: Diese Übereinstimmungen zeigen, wenn man sie innerhalb der Erzählreihenfolge von 4,17 bis 11,1 einbettet, dass die Zwölf ab Mt 10 in Jesu öffentliches Wirken einbezogen werden und somit als seine „Mitarbeiter“ bezeichnet werden könnten. Drittens: Jesu eigene „Vollmacht“ als Parallele zu 10,1 macht zusätzlich deutlich, dass sich der Status der Zwölf ändert, weil Jesus als charismatische Autorität (einen Teil) seine(r) Autorität mit den Zwölf teilt, der die Zwölf dann auch von anderen Mitmenschen abhebt (s.u. zu den drei einzelnen Elementen). Dabei markiert der Akt der Vollmacht-Übertragung von Jesus auf die Zwölf einen zeitlich fixen Übergangspunkt in eine neue Phase, die mindestens die in Mt 10 thematisierte Mission umfasst.

Die Verhältnisbestimmungen lassen aber auch fehlende Übereinstimmungen erkennen (s.u. Tabelle). Der erste auffallende Unterschied zwischen Jesus und den Zwölf besteht darin, dass Jesus mit Vollmacht „lehrte“,15 während die Zwölf in Mt 10 weder eine Lehr-Vollmacht erhalten noch zum Lehren beauftragt werden. Allerdings setzt dieser festgestellte Unterschied voraus, dass im MtEv „lehren“ (διδάσκω u.ä.) und „predigen“ (κηρύσσω u.ä.) unterschiedliche Tätigkeiten beschreiben. Das trifft aber nur bedingt zu, weil sie einerseits Gemeinsames und andererseits je Eigenes haben.16 Ein zweiter erwähnenswerter Unterschied zwischen Jesus und den Zwölf besteht darin, dass die Zwölf in Mt 10 weder dazu bevollmächtigt noch dazu beauftragt werden, Naturwunder zu vollbringen. Aus diesen beiden fehlenden Übereinstimmungen ließe sich Folgendes ableiten: Erstens erhalten die Zwölf nicht Jesu vollständige Vollmacht. Stattdessen bleiben ihnen einige Herrschafts-„Objekte“ verwehrt. Dadurch wird der Kontrast zu Jesu Vollmacht verstärkt und seine eigene Machtfülle hervorgekehrt. Das bedeutet aber auch, dass die Zwölf Jesus gegenüber verpflichtet bleiben.17 Zweitens bedeutet das für den Aspekt „Lehre“: Durch die fehlende Lehre in Mt 10 sticht Jesu Beauftragung der Elf zur Lehre in 28,20 ins Auge, so dass man die Schlussfolgerung ziehen kann, das in der vorösterlichen Zeitphase auf der einen Seite die Lehre allein Jesu Aufgabe ist und auf der anderen Seite die Zwölf nur Lernende sind (vgl. v.a. 23,8.10). Drittens ist nicht klar, was das für den Aspekt „Naturwunder“ bedeutet: möglicherweise fehlen sie, weil sie nicht notwendigerweise den Menschen dienen.18