Kopflos in Dresden

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Kopflos in Dresden
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Victoria Krebs

KOPFLOS

IN DRESDEN

Die Autorin

Es war Liebe auf den ersten Blick, die Victoria Krebs mit der Barockstadt an der Elbe verband. Die einzigartige Architektur, die malerische Landschaft und die liebenswerte Individualität der Menschen in dieser Region inspirierten sie zu ihrem ersten Thriller, der in Dresden spielt. Protagonisten mit Ecken und Kanten, abscheuliche Verbrechen und nicht zuletzt die Liebe mit ihren Irrungen und Wirrungen beherrschen ihre schriftstellerische Arbeit. Victoria Krebs ist in Oldenburg, Niedersachsen, geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Dresden.

Impressum


© DDV EDITIONSächsische Zeitung GmbHOstra-Allee 20, 01067 Dresdenwww.ddv-edition.de© Reihengestaltung und Umschlagillustrationwww.oe-grafik.de

Autorin: Victoria Krebs

Grafische Gestaltung: Thomas Walther, BBK

Satz: Ö GRAFIK agentur für marketing und design

Druck: CPI Moravia Books GmbH

Alle Rechte vorbehalten | Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-943444-80-3 (Print)

ISBN 978-3-948916-00-8 (Epub)

ISBN 978-3-948916-01-5 (Mobi)

Victoria Krebs

KOPFLOS

IN DRESDEN

Kapitel 1

Zufrieden saß Bernd Tessendorf an diesem spätsommerlichen Morgen auf seinem Rasenmäher und tuckerte gemächlich auf der Hauptallee des Großen Gartens entlang.

Es war noch sehr früh, nur vereinzelte Radfahrer kamen auf dem Weg zur Arbeit an ihm vorbei.

Gerade erst war die Sonne aufgegangen, ein blutroter Ball, der den Park in ein märchenhaftes Licht tauchte und den Frühnebel über den Rasenflächen und Blumenrabatten in einen rosafarbenen Dunstschleier verwandelte. Tessendorf liebte diese Stimmung, wenn alles zum Leben erwachte – von der Kühle und der Feuchtigkeit der Nacht erfrischt. Noch lag der Morgentau auf den dunkelgrünen, lederartigen Blättern der Rhododendren, aber bald schon würden sie sich gegen die sengenden Sonnenstrahlen und die seit einigen Tagen in Dresden herrschende unbarmherzige Hitze zur Wehr setzen müssen. So wie die Menschen, die hier spätnachmittags nach getaner Arbeit im Schatten der großen Bäume Erholung und Abkühlung suchten.

Der Gärtner sog die duftende, belebende Morgenluft tief in seine Lungen und dachte wieder einmal daran, was für einen schönen Beruf er doch hatte. Den ganzen Tag an der frischen Luft zu sein, sich um die Blumen, Sträucher und Bäume zu kümmern, sie zu stutzen oder auszudünnen, je nachdem was erforderlich war, erfüllte ihn mit tiefster Zufriedenheit. Nie könnte er in einem dieser grässlichen Büros arbeiten, eingesperrt wie ein Gefangener. Das war nichts für ihn.

Er freute sich auf seine heutige Aufgabe: Er hatte die Rasenflächen rund um das Barockpalais zu mähen. Mit dem Streifen in Richtung Palaisteich wollte er beginnen.

Langsam näherte er sich der Teichanlage, dort, wo sich die Hauptallee in zwei Wege gabelte, die den Teich rechts und links einrahmten. Für einen kurzen Moment spiegelte sich die aufgehende Sonne feuerrot in den Fenstern des ehemaligen Lustschlösschens und erweckte es so mit einem Mal zum Leben.

Fasziniert betrachtete der Mann auf dem Rasenmäher dieses Schauspiel, das er schon oft beobachtet hatte und das ihm jedes Mal die Illusion schenkte, ein rauschendes Fest würde im Palais gefeiert, mit Hunderten Kerzen, die das Innere des Prachtbaus erstrahlen ließen. So plötzlich, wie die unzähligen Fenster aufgeflammt waren, erloschen sie jedoch auch wieder, als sich eine einzelne Wolke vor die Sonne schob. Ein Schwanenpaar zog langsam und elegant seine Runden durch das glatte Wasser, das heute wie ein kristallener Spiegel vor Bernd Tessendorf lag.

Mittlerweile hatte er das schmale Rasenstück erreicht, mit dem er starten wollte, und ließ den Mäher an, der das Gras auf die vorgeschriebene Länge kürzte. Diese Tätigkeit konnte er inzwischen fast im Schlaf verrichten.

Nach wenigen Minuten hatte er das Ende der Grün-fläche erreicht, wo sich die Hauptallee unmittelbar vor dem Palais wieder zu einem Platz vereinte, der zu einer Freitreppe führte. Tessendorf schaute auf die rechte Rasenkante, um zu kontrollieren, ob der Mäher das Gras vollständig erwischt hatte, wobei sein Blick unvermittelt an einem dunklen Fleck auf dem hell asphaltierten Weg hängenblieb. Seine Form schien zu einer der vier Brühlschen Sockelvasen zu weisen, die die Ecken des Palais-teiches markierten.

Beinahe automatisch glitt der Blick des Gärtners die übermannshohe Sandsteinvase empor. Sie sah anders aus als sonst. Eine ungewohnte Rundung war an der Stelle zu sehen, wo sich normalerweise ihre Öffnung befand.

Mit einem energischen Handgriff schaltete der Gärtner seinen Mäher aus und näherte sich irritiert der Vase. Wieder blickte er auf den dunklen, eingetrockneten Fleck vor ihm auf dem hellen Boden, dann sah er zu dem seltsamen runden Ding hoch oben in dem steinernen Gefäß hinauf. Es war hell und von unebener Kontur, nicht sehr groß, in etwa wie ein Fußball.

Nicht nur aus Neugierde wollte er wissen, was dort in der Vase lag. Es war auch seine Pflicht nachzuschauen, was das Schmuckstück so verunstaltete. Vielleicht wieder einer dieser üblen Scherze von angetrunkenen oder bekifften Jugendlichen?

Er lief zu dem linken der beiden Kavaliershäuser, die das Palais auf dieser Seite flankierten. An der rückwärtigen Seite des Gebäudes stand eine Leiter, die von ihm und seinen Kollegen jederzeit benutzt werden konnte.

Mit klopfendem Herzen lehnte er sie an den steinernen Sockel und stieg nach oben.

Vor Entsetzen wäre er beinahe wieder heruntergefallen. Ein markerschütternder Schrei entwich Bernd Tessendorfs Kehle. Er schlug die Hand vor den Mund und verlor um Haaresbreite das Gleichgewicht, als ihn ein heftiger Schwindel erfasste und ihm die Beine auf der Leiter einzuknicken drohten. Kalter Schweiß brach ihm aus, während er am ganzen Leib zitternd die Leiter wieder hinunterkletterte. Auf der vorletzten Stufe rutschte er ab und fiel rücklings auf den Asphalt.

Benommen und noch immer wie Espenlaub zitternd kroch er auf allen Vieren zu dem Rasenstück, das er kurz vorher gemäht hatte. Dort setzte er sich hin, wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete einmal tief durch, bevor er zuerst die Polizei und anschließend seinen Chef anrief. Dann erbrach er sich.

Kapitel 2

Maria träumte. Sie spürte die sanften Bewegungen ihres Liebhabers in sich, fühlte seine warme Haut auf ihrer und seinen Atem an ihrem Hals, gab sich dem Fluss der Bewegungen hin, genoss die Lust, die langsam ihren Körper überschwemmte. Es kam ihr vor, als läge sie in warmem, sanft schaukelndem Wasser, ein sanfter Rhythmus der Liebe. Doch etwas Störendes drang in diesen Traum.

Maria versuchte, die unsanfte Unterbrechung zu ignorieren, aber sie dauerte hartnäckig an. Es war ein Geräusch, nein, eher eine Melodie.

Sie schlug die Augen auf und sah direkt in Nihats von langen schwarzen Locken eingerahmtes Gesicht. Er lag auf ihr und lächelte sie an. Sie hatte nicht geträumt. Sie spürte ihn immer noch in sich. Was für einen seltsamen Mann ich doch liebe, dachte sie und stellte irritiert fest, dass ihr iPhone auf dem Nachttisch immer noch melodisch klingelte. Verdammt, wie spät ist es eigentlich? Sie griff nach dem Handy und tippte auf den Touchscreen, um den Anruf entgegenzunehmen. Nihat rührte sich keinen Zentimeter, sondern sah sie aus seinen dunklen, schmalen Augen an. Eine Locke war ihm ins Gesicht gefallen. Mein Gott, wie gut er aussieht!

»Ja?« Ihre Stimme klang rau, ihr Kopf dröhnte. Sie musste unbedingt mit dem Rauchen aufhören.

»Maria? Hier ist Gerd. Im Großen Garten wurde eine Leiche gefunden. Am Palaisteich.«

»Ach du Scheiße! Gib mir ’ne halbe Stunde.« Maria legte das Handy wieder auf den Nachtschrank zurück, umarmte Nihat und küsste ihn sanft auf den Mund.

»Du überraschst mich immer wieder, weißt du das?«

Er sagte nichts, sondern grinste nur.

»Wir müssen los. Eine Leiche, Großer Garten.«

Sie zogen sich hastig an. Für eine Dusche oder einen Kaffee, den Maria nach dem langen gestrigen Abend dringend benötigt hätte, blieb keine Zeit. Sie verließen ihre Wohnung in der Stübelallee und fuhren mit dem Aufzug die acht Stockwerke hinunter ins Erdgeschoss.

Auf dem Weg nach unten zog Nihat sie an sich und küsste sie. Warum konnte der Lift nicht einfach mal steckenbleiben? Dann könnten wir da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben, dachte sie sehnsüchtig. Aber das gab es wohl nur im Film. Dieser Aufzug hier funktionierte jedenfalls ausgezeichnet.

Kurz darauf saßen sie in ihrem Dienstwagen und bogen auf die zweispurige Allee ein. Eine Ampel und wenige Minuten später hielten sie vor dem östlichen Eingang zum Großen Garten. Normalerweise wurde er von mehreren halbhohen Pfosten versperrt, die nun aber entfernt worden waren. Stattdessen blockierten zwei Polizeiwagen die Zufahrt. Die diensthabenden Polizisten tippten mit dem Zeigefinger an den Schirm ihrer Mützen und winkten Hauptkommissarin Maria Wagenried und Kommissar Nihat Celan durch, nachdem sie sie erkannt hatten.

 

Schon von Weitem waren der Krankenwagen und das Aufgebot an Streifenwagen mit ihren flackernden Blaulichtern zu sehen. Die unbefestigten Enden der rot-weißen Absperrbänder hingen an diesem windstillen Morgen schlaff herunter. Bereits jetzt konnte man spüren, welch drückende Hitze die Stadt in wenigen Stunden wieder lähmen würde.

Maria und Nihat stiegen aus. Die Blicke der Kollegen kannte sie schon. Es machte ihr nichts mehr aus, dass diese offensichtlich über ihr Verhältnis mit ihrem vierzehn Jahre jüngeren Mitarbeiter im Bilde waren. Lange Zeit waren sie ausgesprochen vorsichtig gewesen, hatten peinlichst genau darauf geachtet, sich nicht durch eindeutige Gesten oder Blicke zu verraten, und niemals, niemals morgens um halb sieben gemeinsam an einem Tatort aufzukreuzen – so wie heute. Da sie am Anfang ihrer Beziehung nicht gewusst hatte, wie lange diese dauern würde, wollte sie nicht, dass jeder davon erfuhr. Doch nach fast einem Jahr war es sowohl ihr als auch Nihat gleichgültig, was die Kollegen dachten. Sollten sie sich doch die Mäuler zerreißen!

»Morgen«, brummte sie in die Runde. »Wo ist denn die Leiche?«

Gerd Wechter wies mit dem Kopf nach oben zur Vase, an der noch immer die Leiter des Gärtners angelehnt stand. Maria runzelte die Stirn. Ohne eine weitere Erklärung abzuwarten, kletterte sie rasch hinauf. Sie prallte im selben Moment zurück, als sie sah, was in der Vase lag.

Eine grausam verzerrte Fratze starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Vor Todesangst waren sie aus ihren Höhlen getreten, sodass das Weiße um die Pupillen gespenstisch zu leuchten schien. Lange blonde, blutverkrustete Haare schlängelten sich hinab bis zu der Stelle, an der der Kopf vom Hals abgetrennt worden war – ein Kranz aus blutigem, zerfetztem Gewebe und Knorpelteilen. Fliegen hatten sich bereits auf die Wunde gesetzt, um ihr zersetzendes Werk zu verrichten. Ein ganzer Schwarm von summenden, grün-bläulich schimmernden, fetten Insekten schwirrte um den fürchterlich entstellten Kopf des Opfers, das zu Lebzeiten eine schöne Frau gewesen sein musste.

Auffällig war das seidig-blonde Haar, das in blutverkrusteten Strähnen wirr um ihren Kopf lag. Entsetzt sah Maria, wie eine besonders große Fliege über den linken Augapfel der Toten krabbelte. Drei weitere Insekten krochen aus dem weit geöffneten Mund. Eine andere verschwand im rechten Nasenloch und tauchte nach wenigen Sekunden aus dem linken wieder auf.

Die Kommissarin musste für einen Moment ihre Augen schließen und sie war froh, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte. Sie atmete einmal tief durch, bevor sie die Leiter hinabstieg und wieder festen Boden unter den Füßen spürte.

Um sich zu sammeln, blieb sie für einen Moment regungslos stehen. Dann fiel ihr Blick auf die konzentriert arbeitenden Kollegen von der Spurensicherung. Kleine Plastiktütchen gingen von Hand zu Hand, Pinzetten und Kontrastpulver kamen zum Einsatz. Das grelle Blitzlicht des Fotografen schmerzte in Marias geröteten Augen, die von zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf brannten.

Wo steckte eigentlich der Arzt? Sie schaute sich um und entdeckte ihn. Er hockte vor seiner Tasche und wühlte darin herum.

Entschlossen ging sie zu ihm und kam dabei an Nihat vorbei, der ihr einen prüfenden Blick zuwarf und dann ebenfalls auf die Leiter kletterte, um den Kopf zu inspizieren.

»Guten Morgen, Dr. Stein. Schon irgendwelche Erkenntnisse?« Sie streckte ihm die rechte Hand entgegen. Mühsam rappelte sich der Mediziner auf, der nur noch wenige Jahre bis zum Ruhestand vor sich hatte, und griff sich ächzend ins Kreuz.

»Verfluchter Rücken. Hab mir schon ’ne neue Matratze gekauft, schweineteuer, sag ich Ihnen! Hat aber bisher auch noch nicht geholfen.«

Er drückte seinen Rücken durch und verzog dabei schmerzvoll das Gesicht, bevor er mit seinem Bericht anfing.

»Also, das Opfer ist weiblich, circa dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt. Die Enthauptung wurde äußerst unprofessionell vorgenommen. Der Täter hat mehrfach angesetzt, um den Kopf abzutrennen. Mit einer relativ stumpfen Säge, wie ich stark vermute. Einen Chirurgen oder Schlachter können wir als Täter demnach getrost ausschließen.« Das meinte er völlig ernst. »Die Rechtsmedizin wird alles Weitere klären, so wie immer.«

»Können Sie schon den Todeszeitpunkt eingrenzen?«

»Grob geschätzt ist der Tod vor zehn bis fünfzehn Stunden eingetreten. Ganz offensichtlich ist der Fundort nicht der Tatort, sonst wäre hier viel mehr Blut vorhanden. Ob der Fleck da unterhalb der Vase vom Blut der Toten herrührt, muss noch untersucht werden.«

Wieder ging er in die Hocke und kramte erneut in seiner Tasche herum.

»Ach so, hätte ich beinahe vergessen«, sagte Dr. Stein und blickte aus seinen grauen Augen hinter den Brillengläsern zu der Kommissarin auf. »Es deutet alles darauf hin, dass der Kopf dem Opfer bei lebendigem Leib abgeschnitten wurde.«

Abrupt drehte Maria sich um. Sie suchte im emsigen Treiben ihren Kollegen Gerd und fand ihn neben einem Mann in einem grünen Overall, der völlig in sich zusammengesunken auf dem Rasen saß. Sie ging auf die beiden zu und hob fragend die Augenbrauen.

»Das ist Herr Tessendorf. Er ist Gärtner hier im Park. Er hat den Kopf gefunden.«

Tessendorf zog zitternd an seiner Zigarette. Er war kreidebleich im Gesicht. Immer wieder fuhr er sich mit der linken Hand durchs Haar und strich es nach hinten.

»Herr Tessendorf? Geht es Ihnen gut oder soll sich Dr. Stein«, Maria wies mit der Hand auf den in einiger Entfernung stehenden Arzt, »um Sie kümmern?«

»Nein, nein, es geht schon. Es ist nur so: Ich bin etwas durcheinander. Schließlich sieht man so was ja nicht alle Tage.« Wieder strich er sich die Haare nach hinten und zog so heftig an seiner Zigarette, dass die Spitze glutrot aufleuchtete.

»Wann und wie haben Sie die Leiche, ich meine den Kopf, entdeckt?«, setzte Maria ihre Befragung fort.

»Ich wollte heute Morgen den Rasen rund um das Palais mähen, also, um genau zu sein, ich wollte hier mit diesem Stück anfangen.« Er wies mit der Hand auf den bereits gemähten schmalen Rasenstreifen neben dem Weg. »Hab ich auch gemacht, und dann habe ich den dunklen Fleck auf dem Boden gesehen. Und irgendwie, ich weiß auch nicht warum, habe ich nach oben zur Vase geguckt. Und, tja, dann habe ich gesehen, dass da etwas drinnen lag. Zuerst habe ich gedacht, das waren vielleicht Jugendliche, die da wieder irgendwas reingeworfen haben. Also hab ich die Leiter von da hinten geholt …«, er deutete mit der ausgestreckten Hand auf das Kavaliershaus, »… und an die Vase gestellt. Dann bin ich hoch und hab gesehen, was es war.«

Bei der Erinnerung daran wandte er den Kopf zur Seite.

»Ich … ich musste mich übergeben. Da vorne, gleich neben der Vase. Vorher habe ich die Polizei angerufen.«

»Haben Sie jemanden bemerkt oder ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«

»Nein, es waren nur ein paar Fahrradfahrer unterwegs. Das Übliche eben.«

»Okay, ein Kollege von mir wird Ihre Personalien aufnehmen. Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein, das wichtig sein könnte.«

Damit gab sie ihm ihre Visitenkarte, drehte sich zu Gerd um und zog ihn beiseite.

»Was ist mit dem übrigen Körper? Wurden noch weitere Leichenteile gefunden?«

»Noch nichts. Ich habe bereits eine Hundertschaft mit Spürhunden angefordert.«

»Der Frau wurde nicht hier der Kopf abgesägt, meinte Dr. Stein. Folglich muss der Mörder ihn irgendwie hierher transportiert haben. Und er muss eine Leiter gehabt haben, um da hoch zu kommen und den Kopf dort zu positionieren. Klär bitte mal ab, wo genau der Gärtner die Leiter hergeholt hat und ob sie dort immer steht. Vielleicht hat sie der Mörder auch benutzt. Ansonsten muss er sich selbst eine mitgebracht haben. Aber das wäre doch sicherlich aufgefallen.«

»Eher unwahrscheinlich. Der Kopf wurde mit Sicherheit heute Nacht oder in den frühen Morgenstunden in die Vase gelegt. Da ist doch niemand mehr unterwegs.«

»Ja, vielleicht hast du recht. Aber er wollte auf jeden Fall, dass man den Kopf findet – er hat ihn ja regelrecht in Position gebracht. Dabei ist die Vase ziemlich tief«, überlegte Maria, »so ungefähr einen Meter, oder? Wieso ist der eigentlich nicht reingefallen?«

»Die Gärtner haben innen eine Art Rost angebracht, zum Schutz. Das ist bei allen vier Vasen der Fall, die an den Ecken des Palaisteiches stehen. Es ist immer wieder vorgekommen, dass jemand was hineingeworfen hat, das dann lustig vor sich hingammelte. Diese Roste schützen den empfindlichen Sandstein.«

»Hm, das wusste der Täter offensichtlich. Vielleicht wusste er auch, wo die Leiter zu finden war?«

Gerd Wechter antwortete nicht, sondern wandte sich nach rechts, wo eben ein Leichenwagen vorgefahren war. Der Beifahrer stieg aus, tippte sich an die Schirmmütze und öffnete die Heckklappe des Kofferraums, aus dem er einen kleinen Zinksarg hervorzog, den er neben den Sockel der Vase stellte.

Maria spürt einen Stich in der Brust, als sie den kleinen Behälter sah, der wie für eine Kinderleiche gemacht schien. Natürlich war er groß genug, um den Kopf der ermordeten Frau aufzunehmen. Dennoch hätte sie einen großen Sarg für angemessener gehalten. Sie warf einen Blick auf Gerd, wollte ihn fragen, ob er das veranlasst hatte. Aber der schaute mit gerunzelter Stirn in die entgegengesetzte Richtung zum Eingang des Parks. Maria folgte seinem Blick.

»Die Presse rückt gerade an.« Missbilligend kniff er die Lippen zusammen.

»Übernimmst du das? Ich würde gerne noch mal kurz nach Hause fahren und duschen. Ich bin dann in circa einer Stunde im Präsidium.«

»Natürlich«, erwiderte er und warf einen Blick zu Nihat hinüber, der soeben mit dem Gärtner sprach und eifrig in sein schwarzes Notizbuch schrieb.

Maria war die Geste ihres Kollegen nicht entgangen. Sie drehte sich um und marschierte zu ihrem Auto. So konzentriert Nihat dem Gärtner auch zuhörte, so schnell hob er im selben Moment den Kopf, als er das klickende Geräusch der Zentralverriegelung von Marias Wagen hörte. Wenige Augenblicke später saß er neben ihr und strich sich eine Strähne, die sich aus seinem streng gebundenen Zopf gelöst hatte, hinter sein Ohr.

»Wir fahren erst noch mal nach Hause«, sagte Maria und startete den Wagen.

»Ja?« Lächelnd legte er seine Hand auf ihre, die sich um den Schaltknüppel geschlossen hatte.

»Das kannst du vergessen! Kaffee und Dusche, mehr nicht.«

»Jawohl, zu Befehl, Chefin!«

Aber Maria war nicht nach Scherzen zumute. Überhaupt nicht. Verzweifelt versuchte sie, das schreckliche Bild des abgesägten Kopfes der jungen Frau aus ihren Gedanken zu verbannen. Ein ungutes, beunruhigendes Gefühl beschlich sie. Sie kannte es nur zu gut. Dies hier war vermutlich erst der Beginn eines Albtraums, weitere Leichenfunde würden folgen. Das spürte sie in ihrem tiefsten Inneren.

Zu Hause angekommen ging sie schnurstracks in ihr Schlafzimmer, zog sich aus und warf die Sachen – Jeans und eine kurzärmelige Bluse – achtlos auf den in der Ecke stehenden Korbstuhl, auf dem sich bereits so viele Kleidungsstücke angehäuft hatten, dass er wie ein seltsames, hypermodernes Kunstobjekt aussah. Jeden Morgen nahm Maria sich aufs Neue vor, die schmutzigen Sachen auszusortieren und in den Wäschekorb zu werfen, während die zum Teil nur einmal getragenen Hosen wieder in den Schrank gehörten. Aber heute nicht mehr, entschied sie sich und rief Nihat auf dem Weg zum Badezimmer zu:

»Stell schon mal die Kaffeemaschine an. Zwei Tassen für mich. Aber stark, ja?«

Er gab keine Antwort. Maria achtete nicht weiter darauf, öffnete die Schiebetür der Kabine und drehte die Dusche auf. Sie schloss die Augen und spürte den belebenden Strahl des Wassers auf ihrem Körper. Doch sofort drängten sich die Bilder der Ermordeten in ihr Bewusstsein. Die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, das gespenstische Weiß der Augäpfel, das weiche, lange blonde Haar, das zu blutigen Strähnen zusammengeklebt um ihren Kopf gelegen hatte. Die schreckliche Wunde, auf der die Fliegen herumgekrabbelt waren. Eine schöne junge Frau. Warum hatte der Täter ihr den Kopf abgeschnitten und in die Vase gelegt? Sie nicht einfach nur umgebracht – sondern enthauptet?!

Das war eine Botschaft, dessen war sie sich sicher. Sie griff nach der Duschlotion und drückte einen Klecks auf ihre Hand. Im selben Moment wurde die Schiebetür zur Seite geschoben.

 

»Darf ich zu dir kommen?« Nihat hatte das Gummiband aus seinen Haaren entfernt. Die dunklen Locken reichten ihm fast bis zu seinen kräftigen Schultern.

Sie konnte nicht widerstehen und zog ihn stumm an sich.

Natürlich kamen sie erst eine Stunde später als angekündigt im Präsidium an. Die peinlich berührten Blicke der Kollegen sagten mehr als jede anzügliche oder ironische Bemerkung. Um ihre Ermittlungsmannschaft zusammenzustellen und die Aufgaben zu verteilen, berief Maria eine Dienstberatung ein, ohne sich vorher nach Neuigkeiten zu erkundigen.

»Also«, begann sie, als sich alle Kollegen um den ovalen Tisch versammelt hatten. »Ein Gärtner hat den Kopf einer Frau, Alter zwischen dreißig und fünfunddreißig, in einer Vase neben dem Palaisteich im Großen Garten gefunden. Der dazugehörige Körper wurde bisher noch nicht entdeckt. Oder gibt’s diesbezüglich schon was Neues?«

Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen. Für den Bruchteil einer Sekunde ruhten ihre Augen länger auf Nihat, der die Haare wieder streng zu einem Zopf zurückgebunden hatte. Er wirkte ausgesprochen exotisch und, wie Maria fand, auch sehr erotisch in dieser Runde biederer Beamter in überwiegend mittlerem Alter, mit Bauchansätzen, über denen sich karierte Hemden spannten.

»Bis jetzt wurden keine weiteren Leichenteile gefunden«, riss Gerd Maria aus ihren Gedanken. »Die Identität der Frau haben wir auch noch nicht ermitteln können. Der Kopf wurde zur weiteren Untersuchung in die Rechtsmedizin gebracht.« Er zuckte mit den Achseln. »Bisher ist noch keine Vermisstenanzeige eingegangen, die auf die Frau passen könnte. Aber dafür ist es ja auch noch ein bisschen früh. Wenn sich keiner meldet, der die Frau vermisst, ihr Ehemann, die Arbeitsstelle oder Freunde, müssen wir das übliche Prozedere in Angriff nehmen: den Abgleich mit der ›Vermi/Utot-Datenbank‹. Sollte sie dort nicht als vermisste Person eingestellt sein, folgt, wenn möglich, die Identifizierung anhand des Gebisses und als letztes zur Verfügung stehendes Mittel veröffentlichen wir ein Bild in der Zeitung. Aber sobald wir den Körper gefunden haben, erhalten wir mit Sicherheit mehr Hinweise zur Identität des Opfers«, leierte Gerd herunter.

»Wie weit sind die Kollegen mit den Spürhunden im Großen Garten? Haben die sich darüber geäußert, wie viel Zeit das Durchkämmen des Parks in Anspruch nehmen wird?«

»Der Einsatzleiter sprach von drei bis fünf Stunden.«

»Gut. Was sagt die Spurensicherung?«

»Nichts.« Gerd schien heute kurz angebunden zu sein.

»Was heißt das?«, herrschte Maria ihn an. Sie schätzte ihren Kollegen, der wie sie den Rang eines Polizeihauptkommissars innehatte, wegen seiner ruhigen, bedächtigen Art. Aber in letzter Zeit kam er ihr oft unausgeglichen, ja beinahe aggressiv vor, wobei sie nicht genau sagen konnte, wann sich sein Verhalten so verändert hatte.

»Bisher wurden noch keine Spuren gefunden. Nichts eben«, gab er widerwillig zur Antwort und verschränkte die Arme vor der Brust.

Auf Maria machte er den Eindruck, als wollte er für den Rest des Tages schweigen. Schließlich gab er sich doch einen Ruck und erklärte:

»Abgesehen vom Fleck unterhalb der Vase. Das ist Blut. Ob es von der Toten stammt, wird zurzeit im Labor untersucht.«

»Hm …« Die Kommissarin runzelte die Stirn. »Dr. Stein sagte, dass die Frau an einem anderen Ort als dem Fundort getötet wurde. Also muss der Täter den Kopf irgendwie dorthin transportiert haben. Er wird ihn sich ja schließlich nicht einfach unter den Arm geklemmt und dann in aller Seelenruhe in die Vase gelegt haben. Worin würde man einen Kopf transportieren?«, überlegte sie laut. »Ich würde sagen: in einer Tüte, oder? Und beim Herausnehmen ist das Blut auf den Boden getropft. Aber wie lange blutet so ein Kopf noch, nachdem er dem Opfer bei lebendigem Leib vom Körper abgetrennt wurde? Dr. Stein sprach von einem wahrscheinlichen Todeszeitpunkt zwischen …«, Maria sah auf ihre Armbanduhr, »… sechzehn und einundzwanzig Uhr gestern. Gerd, würdest du diesbezüglich bitte noch einmal bei Dr. Stein nachfragen?«

Der Angesprochene nickte.

»Nihat, und du checkst bitte die Datenbank nach ähnlichen Fällen in der Vergangenheit, vor allen Dingen auch im angrenzenden Ausland. Und ruf Dr. Martin, den Psychologen, an. Er soll dir eine kurze Einschätzung über mögliche Hintergründe dieser Art der Verstümmlung geben. Ich habe das Gefühl, dass wir es hier mit einem Psychopathen zu tun haben.«

Es klopfte und die Tür wurde geöffnet. Maria sah auf. Störungen während einer Sitzung konnte sie auf den Tod nicht leiden. Sie erkannte den Studenten der Polizeihochschule, Hellwig Dreiblum, der gerade sein letztes Praktikum bei ihnen absolvierte. Mit seiner extrem niedrig sitzenden Hüfthose und der grauen Wollmütze sah er aus wie der typische Hipster aus einem Werbespot. Jetzt allerdings betrat er eher schüchtern als hip den Raum. Unsicher huschte sein Blick von dem Stück Papier in seiner Hand zu Maria.

»Was gibt’s?«, fragte sie ungeduldig.

»Der Einsatzleiter des Suchtrupps hat angerufen.« Hellwig Dreiblum strich sich durch seinen modischen Vollbart. »Sie haben den restlichen Teil der Leiche im Großen Garten gefunden«, erklärte er und reichte ihr das Blatt.

Unbewegt starrte die Kommissarin auf die Notizen, sah kurz auf und senkte dann wieder den Blick. Sie war eine Spur blasser geworden.

»Der Körper der Frau wurde gefunden. In einem Baum.«

Für einen Moment herrschte Stille, sie legte sich wie Blei über die Sitzungsteilnehmer. Dann stand Maria entschlossen auf.

»Gerd, du kommst mit mir. Wir fahren zum Fundort. Die anderen erledigen die ihnen zugeteilten Aufgaben.« Sie schaute kurz zu Nihat, der mit versteinerter Miene und schmalen Augen auf den Tisch vor sich sah. Auch Gerd erhob sich. Seine Bockigkeit war wie weggefegt, wie Maria erleichtert feststellte, neue Energie schien seinen Körper zu durchströmen.

Zusammen verließen sie die Polizeidirektion in der Schießgasse, fuhren in die Pillnitzer Straße und bogen dann in die Güntzstraße ein, die auf den Straßburger Platz mündete. Vor ihnen erhob sich der Turm der gläsernen Automobilmanufaktur Dresden. Die riesigen Glas-Fassaden und die Stahlkonstruktion hatten vor der Errichtung des futuristisch anmutenden Baus Proteste in der Dresdner Bürgerschaft ausgelöst, die stets mit Argusaugen über das barocke Stadtbild wachte.

Die Ermittler gelangten wieder auf die Stübelallee, die am Großen Garten vorbeiführt, und bogen erneut nach rechts in die Karcherallee ein, an der sich der Osteingang befindet, den sie am Morgen schon einmal passiert hatten. Dort angekommen, rief Gerd den Einsatzleiter an, um sich die genaue Lage des Fundortes beschreiben zu lassen.

»Es ist das kleine Wäldchen links neben dem Palais.« Er wies Maria mit dem Zeigefinger den Weg. »Wieso hat man den Körper eigentlich nicht schon früher entdeckt? Mittlerweile sind über drei Stunden vergangen …«

»Sie haben sich auf den Boden und das Gebüsch konzentriert. Die Frau, also den Körper der Frau, haben sie nur durch Zufall entdeckt, weil ein Vogel einem Kollegen auf die Hand geschissen und der deshalb nach oben geschaut hat. Da hat er sie im Baum entdeckt.«

Als sie ausstiegen, trat der Einsatzleiter aus der Gruppe wartender Polizeibeamter heraus und kam ihnen entgegen. Er gab erst Maria und dann Gerd die Hand.

»Kein schöner Anblick. Kommen Sie.«

Der Mörder hatte den nackten Körper der Frau rittlings auf einen dicken Ast gesetzt. Die Arme weit vom Körper abgespreizt, wie ein großer Vogel, der die Schwingen zum Flug ausgebreitet.

»Wieso ist sie nicht heruntergefallen?« Maria sah den Kollegen fragend an.

»Ihre Handgelenke wurden mit Draht an den Ästen links und rechts festgebunden«, erklärte er. »Sehen Sie?«

Nein, das konnte Maria nicht erkennen. Sie hatte ihre Brille beim überstürzten Aufbruch im Besprechungszimmer des Präsidiums vergessen.

»Ist Dr. Stein schon verständigt worden?«

Der Einsatzleiter nickte. Maria sah erneut nach oben. Das Bild, das sich ihr bot, kam ihr grotesk vor, wie eine Szene aus einem drittklassigen Horrorfilm. Ihr Blick glitt auf den Boden, dann wieder nach oben bis zu dem Ast, auf dem die Leiche saß. Sie versuchte, die Höhe einzuschätzen. Mindestens drei Meter, schätzte sie.

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