Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático

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From the series: Orbis Romanicus #19
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Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático
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Veit Lindner

Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des ‚Essayistischen‘ in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático

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Umschlagabbildung: © Gregor Lindner

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2020 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen und erfolgreich verteidigt.

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

Satz: pagina GmbH, Tübingen

ISSN 2365-3094

ISBN 978-3-8233-9529-4 (Print)

ISBN 978-3-8233-0338-1 (ePub)

Inhalt

  I. Eingang: Über Biblioklasmus

 II. Theorie1 Der Essay und das ,Essayistische‘1.1 Der Essay als Gattungsproblematik1.2 Das ,Essayistische‘ als Frage der Geisteshaltung1.3 Das ,Essayistische‘ als Schreibweise?1.4 Eine Problematik der Formwerdung1.5 Über den wissenschaftlichen Umgang mit dem ,Essayistischen‘2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika3 Über Montaignes Essais – eine Apologie der Sinnesvermögen4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘4.1 Selbst und Praxis4.2 Körperpraxis: Entkleidung und Demaskierung5 Die ‚Nähe‘ der Schrift: Der Weg als Abenteuer und Risiko.

 III. Praxis1 María Zambrano: Claros del bosque1.1 Zambrano – Heidegger – Derrida: Revisionen der Metaphysik1.2 Eintritt in die Waldlichtung1.3 Eine unmethodische Methode: Die ,dichterische Vernunft‘ als ,Lichtung‘1.4 Transgression und Entgrenzung: Die Performativität der Metapher1.5 Ähnlichkeit und Unbegrifflichkeit – die ‚redende Sprache‘1.6 Das ,Essayistische‘ als Spiegelstadium: Im Pandämonium des Selbst2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica2.1 El mono gramático: Universum von Analogien, Meditation über den unmöglichen Ursprung2.2 Die Wege der poetischen Signifikation I: Die Kritik des Paradieses2.3 Die Wege der poetischen Signifikation II: Die Kritik der Sprache und die Erfahrung der Wirklichkeit2.4 Vision, Bild, Monogramm: Der Urzustand und das Paradox des Menschen2.5 Die Sprache der Sprache lernen: Metapher, Analogie, Rhythmus2.6 Poesie und Prosa2.7 Das ,Essayistische‘ als ,Textpraxis‘

  IV. Nachklang

  Literatur

Danksagung

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im November 2020 an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigt habe. Betreut wurde sie von Bernhard Teuber, für dessen Geduld und Einsatz während vieler Jahre ich zutiefst dankbar bin. Mit seiner reichen Erfahrung, die er maßvoll einzusetzen vermochte, stand er mir zur Seite und pflegte dabei stets einen Umgang einer zu beiden Seiten hin offenen Tür: sie gewährt nicht nur freien Zugang, sondern dem Gastgeber auch die Freiheit, sie von innen zu öffnen, um den Gast wieder nach draußen zu geleiten. Bernhard Teubers große Neugier gegenüber unkonventionellen Ansätzen, die ansteckende fachliche Begeisterung und sein großes Vertrauen kann ich nicht hoch genug schätzen. Sie boten mir Unterweisung ohne Zwang und verstanden dabei doch immer, die Augen für das Zwingende zu öffnen.

Weitere akademische Lehrer, Förderer und Vertraute, die den Weg dieser Arbeit mit dem unschätzbaren Wert ihrer Mahnungen und Ermutigungen begleitet haben, waren Martina Bengert, Vergil durch manch akademischen Kreis, Kurt Hahn, der das Korreferat übernommen hat, und Horst Weich. Allen schulde ich großen freundschaftlichen Dank. Franz Alto Bauer aus der Byzantinistik verdanke ich wichtige Anregungen zur Gestaltung der Arbeit; unbedingt zu erwähnen ist auch die tatkräftige Unterstützung durch Britta Brandt und Markus Wiefarn.

Die Liste an Menschen, die sich in einzigartiger Weise um diese Arbeit verdient gemacht haben, ist lang; so bitte ich um Verzeihung, wenn sich nicht jeder Name auf dieser Seite finden kann. Seid versichert, dass ich dennoch niemanden vergessen habe. Ohne die große lebenslange Unterstützung, insbesondere meiner Eltern und meiner ganzen Familie, wäre das Projekt jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Und ohne Freunde, die mir auch in schwierigen Abschnitten Stab und Stütze waren, hätte sie nicht fertiggestellt werden können. Dank den alten Gefährten, den Studienbegleiterinnen und -begleitern und all denen, die in jüngerer Zeit Wegstrecken mit mir geteilt haben und mir eine Bank gewesen sind. Durch euer offenes Ohr in fachlichen, wie in privaten Belangen, habt ihr so manche Härten des Weges gemildert.

Für die freundliche Zusammenarbeit danke ich schließlich auch Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag Tübingen.

Hay escritores cuyas palabras parecen lanzarse en

busca de las ideas; otros, cuyas ideas parecen esperar

las palabras que las expresen. El encuentro de unas y

otras, ideas y palabras, es muchas veces obra del azar.

Hay escritores extaños – y no son los peores – en

quienes la reflexión improvisa y la inspiración corrige.

Juan de Mairena

¡Oh pluma, oh papel, oh libros, oh arte difícil!

Alfonso Reyes

I. Eingang: Über Biblioklasmus

Es gibt ein Unbehagen in der Kultur, das sich weniger in Schuldgefühlen denn in einer großen Ermüdung ausdrückt: Seit den ersten Tagen des Humanismus haben wir Bücher auf Bücher gehäuft; nun irren wir durch einen Wald von Schriften, den zu überblicken, geschweige denn zu durchmessen längst nicht mehr möglich scheint. Gleich den Borgesianischen Bibliothekaren wandern wir im Labyrinth der Regale, erdrückt von der endlosen Masse an Büchern, für deren Lektüre ein Leben nicht ausreicht. Und mit jedem neuen Buch, das wir lesen, verstärkt sich der Eindruck, eigentlich überhaupt nichts gelesen zu haben. Dabei ist Lesen mühsam und zeitraubend. Warum sollten wir uns überhaupt darauf einlassen? Weder lässt sich die Bücherwelt im Ganzen durchdringen, noch können wir uns das Wissen auch nur eines einzigen Buches wahrhaft zu eigen machen. Kurz: Wir sind der Bücher und ihres Wissens überdrüssig geworden.

Der spanische Literaturwissenschaftler und Essayist Fernando R. de la Flor hat nicht ohne Selbstironie ein Buch über den Niedergang der Buchkultur und den Bücherhass geschrieben. In Biblioclasmo bringt er einen der schwerwiegendsten Vorwürfe gegen die Beschäftigung mit Büchern auf den Punkt: Jemand, der lese und schreibe, lasse zwischen seinen Fingern eine große Zeitfülle hindurchgleiten, denn genau genommen sei die abstrahierte Zeit nicht gelebte Lebenszeit. Der Intellektuelle leide unter Entfremdung und Selbstausbeutung.1 Mais il faut choisir, heißt es bei Sartre, vivre ou raconter. Dabei geht der biblioklastische Impuls sowohl vom professionellen Lesenden als auch vom Kulturfernen aus; auch ist er kein Phänomen unserer Epoche, sondern beinahe so alt wie die Verbreitung gedruckter Bücher selbst. Alfonso Reyes zitiert in einem als Monólogo del autor betitelten Schlussabschnitt seines Essays El suicida den humanistischen Gelehrten Francisco Cascales (1563–1642) mit einem verzweifelten Wutausbruch gegen das Ungemach des Bücherstudiums:

Oh Schriften! – schrieb er –; oh Hölle, oh Gemetzel, oh Tod der menschlichen Sinne – ob rot oder schwarz, denn gleichermaßen seid ihr alle! Wegen eures Rots seid ihr blutbefleckt, seid Mörder; und das Schwarz macht euch zu Symbolen des Trübsinns, der Trauer, der Mühe, des Elends. Wer hat mich veranlasst, mich mit euch einzulassen? Seit fünfzig Jahren folge und diene ich euch wie ein Sklave. Welchen Nutzen habe ich? Welches Gut kann ich erhoffen? […] Die Wahl der Schriften vernebelt den Geist, trübt die Sicht der Augen, verkrümmt den Rücken […] Und die Gelehrten werdet ihr niedergeschlagen sehen, mit blutunterlaufenen Augen, faltiger Stirn, ungeschnittenem Haar, eingefallenen Wangen, düsteren Brauen und wildem Bart.2

Die topische Verdammung der ‚vanitas litterarum‛ richtet sich gegen die Versündigung an der Natur und einen selbstmörderischen Tausch des Lebendigen gegen den Tod. Darin ist sie zunächst Polemik gegen die Proliferation der Bücher an sich. Die schiere Masse der typografischen Erzeugnisse verdeckt die von Gott im Buch der Natur dargelegten Erkenntnisse durch eine Flut fadenscheinigen und im Grunde überflüssigen Wissens. In moderner Ausprägung wird dieser Vorwurf zu dem der Langeweile schwieriger Lektüren gegenüber dem sogenannten gesunden Menschenverstand mit seiner konsequenten Abwertung des Kontemplativen zugunsten des Praktischen.

 

Zu dem Aspekt der Masse von Büchern tritt die Klage über den tautologischen Charakter ihrer Äußerungen. So bezichtigt etwa Roland Barthes nicht nur den Bücherbetrieb der ständigen Wiederholung des Immergleichen: „wiederholt werden die Inhalte, die ideologischen Schemata, die Verkleisterung der Widersprüche, aber die oberflächlichen Formen werden variiert: ständig neue Bücher, Sendungen, Filme, verschiedene Stories, aber immer derselbe Sinn.“3 In besonderer Weise trifft das biblioklastische Ressentiment den akademischen Betrieb und seine Vertreter. Denn bei dem Versuch, der Vielzahl der Formen Herr zu werden, sie zu ordnen, zu rezipieren und zu ,verdauen‘, kommt es zu einem beträchtlichen Anwachsen der Kommentare und der Sekundärliteratur, deren Zahl die der kommentierten Werke selbst noch übersteigt. Einer der prominentesten Vertreter der Gelehrtenkritik ist kein Geringerer als Michel de Montaigne, der in seinem Essay Über die Erfahrung den Schwall der Kommentare beklagt, wenngleich durchaus als heiteres Faszinosum: „Es macht einem mehr zu schaffen, die Interpretationen zu interpretieren, als die Sachen, und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen Gegenstand sonst. Wir tun nichts anderes, als uns gegenseitig zu glossieren.“ Dabei gebe es kein einziges Buch, weder menschlich noch göttlich, dessen Schwierigkeiten durch die Interpretation beseitigt worden wäre; was Montaigne zu der Frage führt: „Geht es in der angesehensten Gelehrsamkeit heutzutage nicht hauptsächlich darum, daß man es versteht, die Gelehrten zu verstehen?“4

Bis heute nährt sich essayistisches Schreiben von der paradoxen wie utopischen Vorstellung, sich auf die Bücher zu stützen, um die Bücher zu mindern und das Wissen zu mehren. Dieser Art der Gelehrtenkritik wohnt ein Element intellektuellen Biblioklasmus' inne, der zum essayistischen Topos geworden ist. Er folgt einem Ideal der moralisch-ästhetischen Gestaltung des eigenen Lebens; essayistisches Schreiben ist daher immer auf das schreibende Subjekt bezogen. Es folgt einer Ästhetik der Reinheit und einem Ethos der Befreiung und der Läuterung: Ein Essayist, eine Essayistin schreibt über Bücher, nicht um sie zu interpretieren, sondern um sich von ihnen zu befreien und sich eine reinere Existenz zu verleihen.

Als Mittel dazu dient ihm oder ihr die Schaffung eines Nichtbuchs; eines amorphen Texts, der sich einer abgeschlossenen Systematik entzieht. Denn auch wenn sich die intellektuelle Kritik in Qualität und Motiven wesentlich vom plumpen Ressentiment des Illiteraten gegen das ,Kulturgeschwätz‘ unterscheidet – beide verbindet durchaus die Abneigung gegen eine empfundene Versteinerung im Systemhaften, das der eine als Abkehr von der Lebensfreude und elitäres Kontrollinstrument und der andere eher als bloße Wiederholung eines je schon Gewussten verurteilt. Beide richten sich argwöhnisch gegen die Implementierung einer Autorität, die sich auf das bloße Gewicht des schon Dagewesenen und Gesagten stützt. Und so findet Montaignes Polemik gegen das Anhäufen von Zitaten auf Kosten einer gesunden Dosis Intuition eine ungebrochene Fortsetzung bis in unsere Zeit, wenn etwa de la Flor irrtümlicherweise feststellt, die Implementierung eines Diskurses, der keine Ideen mehr, sondern Zitate enthält, sei ein spezifisches Übel unserer Tage.5 Auf diese Weise würden die Universitäten zu Verteilstationen von Sekundärliteratur und zu „fabricas pesadas del pensamiento“6 – in freier Übersetzung: zu lästig langweiligen Fabriken gewichtiger Gedanken. Der Vorwurf der Erstarrung richtet sich besonders gegen die Institutionalisierung des Wissens und die Heraufkunft eines Typus, der, so der Vorwurf, seine Lektüren nicht mehr kostet und schmeckt, sondern nur noch wiederkäut. De la Flor spricht von der „Perversion der Idee von Wissen, reguliert von einem Mechanismus der Gelehrsamkeit“.7

Zu den Aspekten der schieren Masse und des Wiederholungscharakters des Systemhaften tritt aber noch ein dritter Vorwurf: nämlich der Versteinerung der Sprache selbst. Der Eindruck, wir beträten ein Zeitalter einer „verfallenen Sprache“,8 wurde im Verlauf der vergangenen 450 Jahre gewiss immer wieder auf verschiedene Weise formuliert. Er entspricht der Beobachtung einer mangelhaften Transzendenz von Sprache, die als tiefe Verlusterfahrung zum biblioklastischen Repertoire gehört. Dabei wird besonders dem akademischen Diskurs angelastet, diesen Verlust zu vertiefen. Der Jargon der Wissenschaft wird zu einem Instrument des bürokratischen, ja beinahe prüden Eifers, der die produktiven erotischen Exzesse der Sprache abtötet oder unter die Kontrolle des Vorhersehbaren und unter die Verwaltung des Dokumentierbaren zwingt. Die universitären Exklusionsmechanismen verschließen sich dabei selbst gegenüber ihren Quellen: „Die entfesselte Sprache wird heute, ohne Stütze durch das Textdokument, in ebendiesem akademischen Umfeld als das Wort eines Verrückten wahrgenommen.“9 Der Protest gegen die akademisch vorangetriebene Erstarrung der Sprache richtet sich dabei heute nicht nur gegen ein vorgegebenes Wissen durch eine autoritäre Zitierpraxis, sondern gegen jede Art (vor)programmierter Codes. Denn die Sprache, durch die wir die Welt vernehmen wollen, zeigt sich darin als ausweglose Ödnis, was uns zu Richard Rortys Beobachtung führen könnte: „Die Welt spricht überhaupt nicht. Nur wir sprechen.“10 Und das, so ließe sich hinzufügen, nicht besonders gut.

Biblioklasmus entspringt der Erfahrung einer Stummheit der Sprache in der Moderne. Es ist die Erfahrung, dass Sprache über Wesentliches zu schweigen beginnt, sobald wir sie zur Eindeutigkeit dressieren: Je exakter die Definitionen, desto aussageloser, folgenloser bleibt sie mitunter. Die Ambivalenz der Sprache lässt uns taumeln zwischen dem Ozean der Inkommensurabilität und den Wüsten der Präzision. Und so ist die moderne Erfahrung mit der Sprache die einer Heimatlosigkeit und des Exils; dass wir nicht zurückkönnen in das Haus der Sprache, in dem wir atmen können und dessen Herr wir sein dürfen. Wozu also Bücher?

In einem solchen Moment der Ratlosigkeit macht Hans Blumenberg den „Staub auf den Büchern“ sichtbar: „sie sind alt, stockfleckig, riechen modrig, sind eines vom anderen abgeschrieben, weil sie die Lust genommen haben, in anderem als in Büchern nachzusehen. Die Luft in Bibliotheken ist stickig, der Überdruß, in ihr zu atmen, ein Leben zu verbringen, ist unausbleiblich.“11 Der Staub auf den Büchern ist Ausdruck einer Krise, welche die Geschichte des Humanismus und des modernen Wissens begleitet. Er ist aber auch eine sehr persönliche und zugleich universelle Erfahrung derer, die sich mit Büchern beschäftigen – ganz gleich, ob mit literarischen oder wissenschaftlichen: Immer wieder stehen wir vor den ausgefransten Überresten eines wirkungslos gewordenen Wissens und einer kraftlos gewordenen Sprache. Dann erkennen wir in uns Montaignes Maus im Pechfass, die dem Hoffnungsschimmer einer Erkenntnis nachläuft, sich dabei nur im Kreis dreht, windet und schließlich in der klebrig zähen Masse ersäuft.12

Inmitten der Agonie durch die fortgesetzten Enttäuschungen taucht vielleicht die Frage auf, was überhaupt enttäuscht worden ist, und es setzt ein anderes Schreiben ein, das eigentlich mehr ein Innehalten ist; ein Zulassen der Stille und der Leere. Es eröffnet einen Raum, in dem Montaignes Maxime als Impuls der inneren Sammlung erscheint: „Que scay-je?“ – was weiß ich? Ebenso wie: Kann ich überhaupt zu wissen hoffen? Die Erfahrungen aus den Jahrhunderten des Umgangs mit der Erkenntniskritik haben Montaignes ambivalente Frage nach der Möglichkeit von Wissen nicht ungültig werden lassen; sie erlauben jedoch ihre nuanciertere Formulierung. Angesichts eines Gefühls der Übersättigung mit Wissen erscheinen unsere Erkenntnisse bisweilen weniger als Unmöglichkeit denn als ununterbrochener Strom eines ,Geplappers‘.

Und nun? Aus einer tiefen Ratlosigkeit heraus stellt Blumenberg die Montaigne’sche Grundsatzfrage neu: „Was wollten wir wissen?“13 Im Nachklang dieser Frage entsteht ein Schreiben, das auf der Suche nach seinem Objekt ist; das nach seiner Form tastet und mehr in der intuitiven Geste des Schreibens besteht, das seine Intention vergessen hat. Der Weg zu einer möglichen Antwort auf die Frage, was wir haben wissen wollen, kann vielleicht in einer Kontemplation beschritten werden: einem genauen, langsamen Blick, der auch die winzigsten Phänomene nicht übersieht und ein Hineinhorchen in sich bedeutet, in der Erwartung der Wiederkehr eines wahrhaft schöpferischen Logos. Walter Benjamin bezeichnet Kontemplation als den ausdauernden Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention und als ein unablässiges Atemholen.14 Ein kontemplatives Schreiben ist eine Praxis der Unterbrechungen, des Innehaltens, des Neuansetzens. Ihm geht es darum, dem Denken Lücken, Leerstellen, Räume zu eröffnen, das heißt nach Benjamin: schreiben und denken außerhalb der falschen Einheit; den strengen Deduktionszusammenhang unterbrechen und aufbrechen, der die Systemlogik ausmacht.15 Denn die Retorte im Denken ist das Lückenlose. Die Kontemplation dagegen ist ein Weg, der freie, unbeschriebene Stellen eröffnet, in denen die neuen Fragen erscheinen; ein Weg des Schreibens, der zu den Lichtungen des Denkens führt. Nun täte es not zu erforschen: Was geschieht auf den Lichtungen? Welcher Horizont lässt sich von ihnen aus erblicken?

Wir sind der Lettern überdrüssig geworden, und dennoch versiegt nicht der Impuls des Schreibens. Diesen grundlegenden Widerspruch meint Fernando de la Flor in unserem Umgang mit typografischen Erzeugnissen zu beobachten: Wir produzieren Schriften in immer größerem Tempo ohne jeglichen Anspruch auf Dauerhaftigkeit und geben sie somit dem Vergessen anheim, noch bevor sie rezipiert werden könnten. Der überbordenden Allgegenwart der Bücher schwindet das Publikum, sodass man den Eindruck gewinne, es steige nicht die Zahl der Leser, sondern nur die Zahl derer, die gelesen sein wollen.16 Die zeitgenössischen Dichter langweilen uns, aber wir retten gesellschaftlich ,die Poesie‘. Eine Generation von Erzählern folgt auf die nächste, ohne eine nennenswerte Erinnerung zu hinterlassen; aber niemals zuvor wurde in den Universitäten so viel über Narrativik theoretisiert.17 Im Grunde, ließe sich aus de la Flors Beobachtung schließen, lebt unsere Buchkultur in einer Ordnung des Hyperrealen, die nach Baudrillard alle Werte „einbalsamiert und friedlich verpackt“.18 Und was wir nicht mehr lesen, mumifizieren wir als Theorie für nachfolgende Textarchäologen. Das Buch, einst Waffe der Kritik und des Intellektuellen, wird nun gefahrlos noch in seiner Verpackungsfolie zur Schau gestellt oder im Unterricht ,behandelt‘. Es wäre, so gesehen, längst zum pittoresken Objekt eines folkloristischen Verehrungskultes ohne Realität geworden. Das wohlmeinende Etikett des ,Kulturellen‘ verdammt die Bücher zu einem Dasein, wenn hübsch entstaubt, als Zimmerzier; und die Bibliophilen zu Freaks.

José Luis López Aranguren hatte die Beobachtung einer Simulation kritischer Kultur einst auf folgende Parabel gebracht: Ein dicker Fisch schwimmt in einem Aquarium, umgeben von Wasserflöhen. Nachdem er alle außer einen gefressen hat, fragt der letzte verbleibende Floh, warum er nicht auch ihn gefressen habe. Darauf antwortet der Fisch: Weil ich etwas für die Kultur tun möchte … mal sehen, wie du tanzen kannst!

López Aranguren schließt mit den Worten, der Intellektuelle solle es vorziehen, von der Gesellschaft verschlungen zu werden, bevor er als Tänzer toleriert werde.19 Er hatte die Parabel in Anspielung auf die Franco-Diktatur ersonnen; dennoch ließe sie sich vielleicht folgendermaßen neu interpretieren: Nie zuvor wurden so viele Bücher nicht gelesen. Sollten sich die Intellektuellen also lieber kollektiv verschlingen lassen, statt nur noch für sich selbst und das Wohlgefühl simulierten gesellschaftlichen Interesses und vorgetäuschter Toleranz zu schreiben? Ist Schreiben im besten Fall Sehnsucht nach verlorener Kultur und im schlechtesten bloße Heuchelei oder Egomanie? Eine leere Geste des Schreibens ohne Objekt, ohne Ziel, das zum reinen „Plappertext“20 wurde?

Die Dinge liegen vielleicht komplizierter. Gerade in realen oder empfundenen, gesellschaftlichen oder persönlichen Krisen gibt es offenbar die Notwendigkeit, das ,Schreiben an sich‘ zu bewahren. Als reine Geste des Schreibens drückt sie sich als kontemplative ,écriture‘ aus, die sich auf die Suche nach dem macht, was wir haben schreiben und was wir haben wissen wollen. Sie ist Atemholen und fortgesetzter Neubeginn und entspricht dem Impuls, zunächst die Intimität mit den Büchern wiederherzustellen und die Nähe der entfremdeten Schrift wieder zu spüren. Sie weiß noch nicht, was sie schreibt, sondern ist die Iterabilität einer erneuernden Erfahrung der Literatur. Jacques Derrida sagte in einem Interview mit Derek Attridge, es sei zwar unmöglich, das Interesse über den reinen Signifikanten hinaus abzuschaffen und die Referenz aufzugeben; wohl aber könne sie verkompliziert werden. „Die Dichtung und die Literatur haben gemeinsam […] dass sie die thetische Naivität einer transzendenten Lektüre suspendieren. Darin besteht die philosophische Kraft der Literatur.“21 Derridas ‚lectio difficilior‛ ist ein Hinauszögern der Referenz – und somit die Bewahrung eines kraftvoll philosophischen Impulses. Lesen und Schreiben werden also ein Umweg, der den ausgetretenen Pfaden und den einfachen Bedeutungen misstraut, um abseitige, neue Orte zu erkunden. Derrida siedelt diese Praxis des Umwegs zwischen Literatur und Philosophie an und beschreibt damit ebenso seinen eigenen intellektuellen Standpunkt: „Und weil das, was mich heute immer noch interessiert, weder einfach Literatur noch Philosophie ist, amüsiert mich die Idee, dass mein jugendliches Begehren […] mich durch das Schreiben zu etwas geführt hat, was weder das eine noch das andere war. Was aber war es?“22 Natürlich antwortet Derrida nicht direkt auf diese Frage, spricht aber von einer tiefen Versuchung der Ganzheit, der Totalisierung und dem Wunsch eines „Alles-Versammeln-Wollens“; den inneren Polylog aufzuzeichnen und bekenntnishaft alle Stimmen zu bewahren, die das Selbst durchkreuzen – kurz: alles zu sagen. In dieser Zeit des „autobiographischen Traums“ seien es jene Fragen gewesen, die sein Interesse an den Schriften gelenkt und bestimmt hätten: „,Wer bin ich?‘, ,Wer ist dieses Ich?‘, ,Was passiert gerade?‘, etc.“23 Der Versuch, diese existenziellen Fragen in einem allumfassenden Blick zu beantworten, ist die Seinsweise eines essayistischen Geistes. Er drückt sich aus in einem kontemplativen Schreiben, das der Ganzheit einer Erfahrung Form verleihen will. Nach Derrida reichen jedoch die diskursiven Ressourcen für eine totale Archivierung nicht aus. Und so bleibe immer das Begehren nach jenem nicht Einzufangenden, dem Überschüssigen, nach dem „+n“. Darin lebt die Idee der Totalität, und sie zirkuliert, so Derrida, auf einzige Weise zwischen Literatur und Philosophie, das heißt: in der Erfahrung des Institutionen überschreitenden und Regel brechenden „Alles-sagen-Wollens“, das in einer philosophischen ,Emotion‘ gründet, „dem Gefühl der Existenz als Exzess, als ,Überflüssigsein‘, in einem jenseits des Sinns, das dem Schreiben einen Ort gibt“.24

 

Ein Schreiben, das sich auf die Suche nach den existenziellen Fragen begibt (Wer bin ich? Wer ist dieses Ich? Was passiert gerade? Etc.), muss einen dauernden Überschuss produzieren und darf sich nicht mit einmal getätigten Aussagen zufriedengeben. Darin liegt das Paradox dieses Schreibens; ein Innehalten im ständigen Überschuss. Nicht den Strom versiegen lassen: ihn hervorbringen, um darin erst die Leerstellen zu schaffen, immer wieder neu anzusetzen. Nicht vom Luftanhalten hatte Benjamin gesprochen, sondern von der Ausdauer und Beständigkeit des Atemholens. Das Schreiben muss sich also perpetuieren, den Impuls und die Rhythmik des Atems aufrechterhalten und selbst jener Exzess sein. Eine solche Schrift besitzt keinen sicheren Standpunkt, von dem aus sie über einen Gegenstand verfügen könnte. Jemand, der so schreibt, wirft seinen ganzen Körper in die Fluten und lässt sich von den unberechenbaren Untiefen seiner Handschrift fortreißen. In einer solchen Weise lässt sich nicht mehr über etwas schreiben und auch nicht über sich selbst; es lässt sich nur absolut schreiben und sich selbst schreiben. In einem 1966 an der Johns Hopkins University gehaltenen Vortrag mit dem Titel Écrire, verbe intransitiv? versucht Roland Barthes, genau diesen Eindruck als grundlegende Kategorie modernen Schreibens zu erfassen. Dabei stellt er die Vermutung an, man habe zu einem bestimmten Zeitpunkt begonnen, das Verb schreiben statt transitiv nun intransitiv zu verwenden; der Schriftsteller war nicht mehr einer, „der etwas schreibt, sondern jemand, der schlechterdings schreibt“.25 Der ,ecrivain‘ folgt keinem bestimmten Zweck, sondern bedient sich einer „entpragmatisierten Rede“, die Barthes mit dem Terminus der Intransitivität verbindet.26 Allerdings könne kein Schriftsteller jemals ganz davon absehen, etwas zu schreiben. Mit Derrida ließe sich intransitives Schreiben also weniger als Suspendierung denn als Verkomplizierung transzendenter ,écriture‘ betrachten. Barthes sucht jedoch noch einen anderen Ausweg, den er in der grammatischen Kategorie der Diathese zu finden glaubt. Sie bezeichnet, „in welcher Weise das Subjekt des Verbs in Mitleidenschaft gezogen wird“.27 Im indoeuropäischen Sprachraum würden dabei nicht eigentlich Aktiv und Passiv gegenübergestellt, sondern Aktiv und Medium. Die beiden Kategorien unterscheiden sich dadurch, dass sich ein Vorgang im Aktiv völlig außerhalb des Subjekts vollzieht, während im Medium das Subjekt selbst von seiner Handlung in Mitleidenschaft gezogen wird.

Hayden White macht darauf aufmerksam, das Medium verweise in der griechischen Grammatik nicht nur auf die innere Beteiligung eines Subjekts an einer Handlung, sondern verwische genau genommen Subjekt und Objekt. Für Barthes sei das Schreiben im Medium „schöpferisch und befreiend, weil es den Schreiber als Handelnden im Schreibprozess ansiedelt und die Bildung eines Schreib-Subjekts als das verborgene, aber eigentliche Prinzip, Ziel und Ende allen Schreibens namhaft macht“.28 Damit ist das Schreiben im Medium, so White, vollkommenes Beispiel eines performativen Sprechakts: Ebenso wie der Versprechende nur im Akt des Versprechens, der Schwörende nur im Akt des Schwörens existiert, lebt der Schreiber, im Gegensatz zum Autor, nur im und durch den Akt des Schreibens. Als performative Selbst-hervorbringung und Selbstveränderung ist der Schreibakt, um einen Ausdruck Foucaults zu gebrauchen, „ethopoetisch“ wirksam. Besonders aufschlussreich für das Verständnis dieses Akts ist ein Beispiel, das White für die Kategorie des Mediums in der griechischen Grammatik einbringt. So bezeichne der Ausdruck ,logon poiein“ die Abfassung einer Rede, während die Form im Medium ,logon poieisthai‘ ,eine Rede halten‘ heiße, oder, wie Bernhard Teuber noch exakter formulieren will, ‚eine Rede halten, die ich mir zurechtgemacht habe‛. Das Medium ist also auch ein Grad an Intensität oder Verdichtung, in dem sich das Subjekt nicht nur moralisch, sondern auch körperlich in die Handlung einbringt.29 Schreiben im Medium ist in diesem Sinne die Suche nach einer Form, die imstande wäre, Derridas „Alles-versammeln-Wollen“ auszudrücken und das ganze Selbst, den ganzen „inneren Polylog“, in die Schrift zu werfen. Ich denke, in keinem anderen Sinn lässt Montaigne im berühmten Vorwort seiner Essais wissen: „Ainsi, lecteur, je suis moi-même la matière de mon livre.“30 In pragmatischer Hinsicht lässt sich der Satz auf doppelte Weise verstehen; zunächst als Absage an den nach Nutzen suchenden Leser: „Nur ich selbst bin der Gegenstand meines Buchs“; aber ebenso als nach innen gerichtete Rede: „Ich bin nichts als der Gegenstand meines Buchs.“

Wird nun also der biblioklastische Impuls unter den Vorzeichen des autobiografischen Traums zum Ausdruck eines Selbsthasses und eines Wunsches nach Selbstliquidation? Ein anderes Szenario entwirft Bernhard Teuber, der das abgenutzte Wort vom „Tod des Autors“ neu im Zeichen einer Opfertheorie betrachtet, die bei Barthes anklingt. Nicht im Sinne einer Auslöschung seien solche Todesnachrichten zu begreifen, sondern als „sakrale Selbstaffektion“31 und Selbstaufopferung. Die Instanz des Autors nehme den Tod auf sich, um das literarische Publikum zu erlösen. Im Anschluss an Freud, Caillois und Bataille betrachtet er das Opfer als gebotene Transgression in der Ausschweifung und als unproduktive Verausgabung (dépense). Letztere hatte Bataille im Potlatsch nordamerikanischer Indianerstämme beobachtet, dem rituellen Schenken teils beträchtlicher Reichtümer ohne Erwartung einer Gegengabe. Gemeinsam sei den beobachteten Äußerungsformen des Opfers, dass sie „nicht auf die Produktion gesellschaftlich nützlicher Güter durch Arbeit, sondern auf deren Zerstörung gerichtet sind“.32 Dabei assoziiert schon Mauss den Potlatsch mit einem intransitiven Gestus, insofern er sich der Tauschökonomie entzieht.33 Das heißt, es geht um den Akt selbst, nicht um den erwartbaren Nutzen. Die Transgression, Paradigma des archaischen Festes, liegt dabei in der gezielten Missachtung ökonomischer Rationalität.