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Kapitel 2

Erst nach dem dritten Klopfen, kann Ava Schritte von drinnen vernehmen.

Na endlich bewegt sich da mal was.

Die Tür wird quietschend einen kleinen Spalt geöffnet. Zwei bernsteinfarbene Augen mit grüner Umrandung starren Ava an. Ava lehnt sich etwas vor und lächelt freundlich.

»Guten Abend, Miss Jercy. Mein Name ist Ava Ramirez. Ich bin die Journalistin die die Biogr… .« Die Tür öffnet sich ein weiteres Stück. Ava kann nun mehr von dieser Frau sehen, die sich im Schutz ihrer Hütte befindet.

Avas Augen gleiten flüchtig über bordeauxfarbene Haare, die in einem unkoordinierten Dutt auf dem Kopf geschlängelt sitzen. Ein ovales Gesicht mit strengen, gradlinigen Zügen und einigen altersbedingten Falten richtet sich auf sie. Der Piercingring im linken Nasenflügel passt irgendwie nicht so recht in dieses etwas ältere Gesicht. Ebenso das gelochte und vollständig gepiercte rechte Ohr.

Aus der Akte von Miss Jercy, weiß Ava, dass die Doktorin tatsächlich schon stolze neunundvierzig Jahre auf dem Buckel hat. Der ganze Schmuck an ihrem Kopf verdeutlicht allerdings etwas anderes. Ist diese Frau etwa eine von denen, die ihr Alter nicht akzeptieren und sich jünger machen, als sie eigentlich sind?

Eine umgeschlagene und offensichtlich gehäkelte Couchdecke verhindert einen gänzlichen Blick auf den schlanken Körper der Frau, die sich vor allem zu verstecken scheint, was es zu bieten gibt.

»Damit eines klar ist«, grunzt Miss Jercy rücksichtslos »ich will Sie nicht hierhaben. Aber mein Boss glaubt, dass diese Idee mit dem scheiß Buch richtig gut wäre.«

Was für eine nette Begrüßung. Gut, schön, ich will nämlich eigentlich auch nicht hier sein. Dann haben wir ja schon etwas gemeinsam. Kann also nur noch besser werden.

»Ok, ich ähm«, Ava buttert ihre offensichtlich ungebetene Anwesenheit professionell unter und zeigt über ihre Schulter »ich bin mit meinem Wagen leider stecken geblieben und … .« Miss Jercy reckt den Hals und schaut an Ava vorbei.

»Man ist ja auch nicht so blöd und fährt mit so einem Wagen über Felder«, kritisiert sie Avas Entscheidung.

Das habe ich dann auch gemerkt. Man, das kann ja heiter mit der werden.

Ava schafft es nicht die Aussage von Miss Jercy zu kommentieren, da wird ihr auch schon die Tür vor der Nase zugeschlagen.

»Ähm, hallo? Miss Jercy?« Stille.

»Ganz toll.« Fluchend dreht sich Ava um und schaut sich die Gegend an. Sie sucht etwas, womit sie sich und ihren Wagen aus dieser miserablen Lage befreien könnte. Aber bis auf das Haus von Miss Jercy, kann sie im Umkreis von geschätzten tausend Meilen nichts ausmachen, das ihr helfen könnte.

»Was stehen Sie da noch so nutzlos herum? Bewegen Sie sich!«

Verwundert schaut Ava in die Richtung, aus der eine weibliche Stimme kommt. Auf einem braunen Pferd sitzend, taucht die Doktorin hinter der Hütte auf und hat die Couchdecke gegen eine dicke Jacke und eine blaue Jeans eingetauscht. Ihre Kopfbewegung bedeutet Ava, dass sie ihr zum Wagen folgen soll.

Geht es vielleicht noch etwas freundlicher? Meine Güte, was hatte die heute zum Frühstück? Saure Milch?

Auch wenn Ava keinerlei Bedürfnis verspürt, der Psychiaterin zu gehorchen, denkt sie an den Wagen und trottet der erfahrenen Frau hinterher. Als sie diese fast einholt, gibt die Doktorin ihrem Pferd einen Stoß in die Seite und regt es somit zum Galopp an. Ungeachtet lässt sie Ava zurück, die sich mit ihren hochhackigen Schuhen über die Wiese quält.

Memo an mich selbst: Keine hochhackigen Schuhe bei Wald und Wiese.

Als sie einige Zeit später schnaufend und abgekämpft bei ihrem Wagen ankommt, macht sich Miss Jercy an dem Abschlepphaken zu schaffen.

»Der Wagen ist auf neutral gestellt?«, hört Ava sie murmeln, während sie damit beschäftigt ist, ein Seil an den Hacken zu binden.

»Kleinen Moment. Augenblick.« So schnell, wie Avas Schuhe es zulassen, stolpert sie zur Fahrertür, greift durch das offene Fenster und setzt den Wagen auf die Stellung N.

»Jetzt.« Die Doktorin schaut sie finster an.

»Da hätten Sie auch selbst draufkommen können, oder?«

Hätte ich, ja. Bin ich nach so einem langen Tag aber leider Gottes nicht. Herrgott nochmal. Hoffentlich muss ich nicht allzu lange hierbleiben. Die treibt mich jetzt ja schon in den Wahnsinn.

Ava beobachtet die Psychiaterin wie sie das andere Ende des Seils um das Sattelhorn bindet und dem Pferd gegen die Seite klopft.

»Na komm, Süße«, ermutigt sie die Stute, ihre Pferdestärken in Gang zu setzen. Nach wenigen Versuchen, setzt sich Avas Wagen mit Hilfe des Pferdes langsam in Gang. Stück für Stück zieht die Stute das Auto aus dem festgefahrenen Loch.

Allerdings lässt die Doktorin ihr Pferd das Auto nicht Richtung Hütte ziehen, sondern genau entgegengesetzt. Richtung Straße.

Ava überkommt das Gefühl lieber nicht zu fragen, weshalb ihr Wagen nicht zur Hütte gezogen wird. Ihr Bauchgefühl hält sie aus Sicherheitsgründen davon ab. Es soll auch nicht allzu lange dauern, bis sich dieses Gefühl begründet.

Der Wagen ist sogar über die Brücke bis zur Straße zurückgezogen, als die Doktorin das Seil vom Abschlepphaken bindet.

»Das hast du super gemacht«, klopft sie ihrem Pferd gegen den Hals, blickt flüchtig zu Ava zurück und setzt sich in den Sattel. Die junge Frau schaut ihr entgeistert hinterher, als die Doktorin zur Hütte zurückreitet, ohne ihren Gast oder ein Stück Gepäck mitzunehmen.

»Wie soll ich denn jetzt zur Hütte gelangen?« ruft Ava der Frau hinterher, die ihr mehr und mehr unsympathisch wird. Die ältere Frau blickt abwertend zu ihr zurück.

»Sie haben doch zwei gesunde Füße, nicht wahr?«

Ach und deine fallen gleich ab, oder wie?

»Geht es eigentlich noch besser?« Fluchend wirbelt Ava herum und beginnt ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu rupfen.

»Weiteres Memo an mich: Nie wieder auf irgendwelche Karrieresprünge hoffen, die einen schon in den ersten zwanzig Minuten in den Wahnsinn treiben. Und …«, Ava blickt in den Kofferraum »nicht so viel Gepäck mitschleppen.«

Mit jeweils einem Koffer in jeder Hand, zwei Taschen und einer Handtasche, kämpft sich die junge Journalistin über die Wiese zur Hütte zurück. Wie viele Meilen mag sie gelaufen sein? Gefühlte zwanzig?

Ein kurzer Blick zum Wagen zurück, zeigt Ava, dass dieser vielleicht gerade Mal eine halbe Meile von der Hütte entfernt steht. Dennoch kommt es ihr wie eine halbe Erdumrundung vor.

»Das wird ordentlich Muskelkater geben.«

Doch etwas erstaunt, zieht Ava eine Augenbraue hoch, als sie bei der Hütte ankommt und dessen Haustür weit offensteht.

Wie höflich.

Ava betritt die Hütte und bleibt abrupt stehen, kaum dass ein durchdringender Blick der Psychiaterin sie eiskalt erwischt. Miss Jercy steht mit verschränkten Armen im … im … ähm, was ist das für ein Raum? Flur?

»Haben Sie irgendwelche geistigen Einschränkungen?«, bremst die Doktorin Ava aus, die Hütte weiter zu betreten.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass diese Frage sehr ungesund für mich wird.

»Nein«, antwortet Ava wahrheitsgemäß. Bei ihr sind noch alle Synapsen vorhanden und jedes Zahnrädchen funktioniert einwandfrei.

»Haben Sie irgendwelche körperlichen Einschränkungen?« Avas Kiefer beginnt zu malen. Hackt diese Frau im Augenblick wirklich auf ihrer Gesundheit herum? Was soll das?

»Nein, ich bin kerngesund.«

»Wenn Sie also Ihrem Alter entsprechend«, der Blick der Doktorin wandert flüchtig über Avas Körper »im vollen Besitz Ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten sind, dann sind Sie also einfach nur ignorant und dumm!?«

»Wie bitte?« Unüberlegt fährt Ava die hoch ausgezeichnete Frau an. Sie kann nicht fassen wie sie sie gerade bezeichnet hat.

Was fällt dieser Schnepfe ein?

Miss Jercy zeigt an Ava vorbei nach draußen.

»Haben Sie draußen auf der Veranda das Schuhregel gesehen?«

Blitzschnell überlegt Ava. Ja, irgendetwas in der Art hat sie gesehen. Sie nahm es wahr, registrierte es aber nicht wirklich. Jetzt weiß sie jedenfalls worauf die Doktorin hinaus will.

»Ja, habe ich.«

»Und weshalb stehen Sie dann mit Straßenschuhen in meinem Haus? Ziehen Sie diese sofort aus! Danach folgen Sie mir.«

Mit einem lauten rumsen und poltern lässt Ava schlagartig sämtliche Gepäckstücke fallen, was die Doktorin dazu verleitet, sie mit einem bissigen Blick zu bestrafen.

Was denn? Du wolltest, dass ich die Schuhe ausziehe. Das mache ich sicherlich nicht mit vollen Händen.

Gehässig in sich hinein grinsend, dreht sich Ava um, zieht draußen ihre Schuhe aus und stellt diese schön brav in das Regal. Danach schnappt sie sich ihr Gepäck, wirft sich jedes einzelne über die Schulter und hofft noch nicht einmal, dass ihr die Doktorin eventuell hilft. Denn diese steht noch immer mit verschränkten Armen vor ihr und beobachtet den Packesel ausdruckslos.

Stramm wie ein Soldat, steht Ava einige Augenblicke später vor ihr und wartet auf weitere Instruktionen. Die Doktorin mustert sie kurz, dreht sich um und setzt sich in Gang. Sie zeigt nach rechts.

»Wohnzimmer. Dort dürfen Sie sich aufhalten.« Ein kurzer Blick von Ava wird in den Raum auf der rechten Seite getan. Fassungslos reißt sie die Augen auf. Ihre Kinnlade klappt herunter.

»Bibliothek trifft es eher«, nuschelt sie baff. Das Wohnzimmer, oder das was es darstellen soll, ist über und über mit Büchern gefüllt. Eine Dreier-Couch, eine Zweier-Couch und ein Sessel dienen als Sitzgelegenheit, wobei nur die Dreier-Couch genutzt werden kann, weil die anderen beiden Möbelstücke mit Büchern überfüllt sind. Nicht ein Zentimeter der Sitzfläche ist noch als solche zu erkennen.

 

Vom Boden aus sind im Laufe einiger Jahre unzählige Bücherstapel gewachsen. Man sieht keinen Türrahmen mehr, man sieht kaum noch eine Wand. Irgendwie wuchsen einige Stapel sogar mitten im Weg. Es ist unfassbar. Überall in diesem Raum wuchsen Bücherstapel aus dem Boden, die bis zu einer Höhe von fast ein Meter vierzig gezüchtet wurden.

Neben dem Kamin, in dem ein wärmendes Feuer lodert, stapeln sich ebenfalls Bücher und wirken wie Säulen.

»Haben Sie die Bücher etwa alle gelesen?«, stottert Ava erstaunt.

»Jedes einzelne«, antwortet Miss Jercy beiläufig und wandert weiter durch das Haus. Ava schaut ihr stattdessen positiv entsetzt hinterher.

Hast du auch noch andere Hobbys?

»Mein Name ist Doktor Nora Jercy, aber das wissen Sie ja sicherlich. Ich dulde allerdings nur die Anrede Miss Jercy und verbiete Ihnen mich zu duzen«, stellt die Doktorin eiskalt klar und zieht eine imaginäre Grenze, die auch nur im Ansatz etwas mit Menschlichkeit zu tun haben könnte.

Du verbietest es mir? Huch, habe ich dich eben etwa geduzt? Hach, das tut mir aber leid.

Bissig schaut Ava der Psychiaterin hinterher.

Kann mir jemand verraten, wie ich das mit dieser Schreckschraube aushalten soll?

Nora zeigt auf eine Zimmertür zu ihrer rechten Seite.

»Nein!« Die Hand wandert zur linken Seite und gleich darauf wieder zur rechten.

»Nein! Nein!«

Ok ok, ich habe es verstanden. Alles deins, super.

Die Doktorin öffnet eine Tür auf der linken Seite und zeigt auffordernd hinein.

»Ihr Zimmer. Sie werden an der Ausstattung absolut nichts verändern, alles bleibt so wie es ist. Sehe ich auch nur die minimalste Veränderung, misten Sie den Pferdestall mit einer Kuchengabel aus. Haben Sie mich verstanden?«

Jetzt wird es ja richtig gut.

»Aber bewegen darf ich mich noch, oder?« Bevor die Doktorin wegen dieser nuschelnden Aussage nachfragen kann, betritt Ava das Zimmer und möchte am liebsten auf der Stelle wieder kehrtmachen.

Meine Güte, in welcher Zeit ist diese Frau stehengeblieben? 1789?

Schon fast entsetzt, starrt die Journalistin um sich. Ein Metallbett aus dem ersten Weltkrieg, ein Kleiderschrank der bedrohlich erdrückend in dem eigentlich großzügigen Zimmer wirkt, eine Kommode mit fünf Schubladen in denen man jemanden getrost drin verschwinden lassen könnte, ein runder Holztisch aus der Kreidezeit, ein Holzstuhl der seine beste Zeit auch schon hinter sich hat und ein alter Kamin.

»Versorgen müssen Sie sich selbst, schließlich ist das hier kein Hotel. Hier gibt es keinen Strom und kein fließendes Wasser. Ach und ich gebe Ihnen noch einen gut gemeinten Rat: Wenn Sie nachts pinkeln müssen, verkneifen Sie es sich. Noch ist es nachts relativ warm und die Mücken sind dementsprechend aggressiv.«

Mit einem Ruck wirbelt Ava herum. Als sie die Doktorin anstarrt, treten ihre Augen fast aus den Höhlen.

»Was? Wie jetzt? Mücken? Kein fließendes Wasser? Kein Strom?« Avas Stimme quietscht unkontrolliert.

»Wie soll ich ohne Strom das Buch schreiben, oder mir irgendwelche Notizen machen?«

Unbeeindruckt zeigt Nora an Ava vorbei. Diese folgt dem Finger der Doktorin und sieht auf dem Tisch eine mechanische Typenhebel-Schreibmaschine die vor fünfzig Jahren beliebt war. Daneben liegt ein Block mit einem Bleistift. Avas Kinn klappt herunter. Mit offenem Mund keucht sie atemlos.

Das ist ein schlechter Scherz. Das kann doch nicht ihr Ernst sein.

»Ich kann nicht mit Schreibmaschine schreiben.« Avas Gedanken spielen Ping Pong. Noch nie in ihrem Leben hat sie eine Schreibmaschine aus der Nähe gesehen. Und dann soll sie auch noch mit so einem Teufelswerk aus dem Mittelalter ein ganzes Buch schreiben? Das kann man nicht von ihr erwarten.

»Können Sie mit einem normalen PC arbeiten?«

Mechanisch nickt Ava und starrt die Schreibmaschine noch immer fassungslos an.

»Dann können Sie auch mit einer Schreibmaschine arbeiten.« Mit diesen kurzen Worten dreht sich die Doktorin um und lässt ihren ungebetenen Gast im Zimmer zurück.

»Äh«, mit einem Satz hechtet Ava aus dem Zimmer in den Flur hinaus.

»Wo kann ich mich denn frischmachen?«

Oder mir auf diesen Schock die Pulsadern aufschneiden.

Ava sieht wie die Doktorin stehenbleibt, den Kopf ein kleines Stück in den Nacken wirft, genervt schnauft und kehrtmacht. Sie betritt das Zimmer, geht an das Fenster und zeigt hinaus.

Das Bad ist draußen in einer anderen Hütte? Kann es eigentlich noch besser werden? Hat die schon mal etwas von Fortschrittlichkeit gehört?

Ava tritt an die Seite der Doktorin und blickt hinaus. Suchend schaut sie sich um. Nichts, sie sieht rein gar nichts. Keine Hütte, kein nichts. Noch nicht einmal einen kleinen Verschlag, der einer Telefonzelle ähnelt. Nur ein paar Büsche und Sträucher. Sonst herrscht dort draußen Ruhe.

»Ähm, … .« Ohne ein weiteres Wort ausgesprochen zu haben, scheint die Doktorin zu wissen was Ava gerne fragen würde. Sie schnauft und drückt ihren Zeigefinger deutlicher gegen das Fenster.

»Blind sind Sie aber nicht, oder?« Ava drückt ihre Nase an dem Fenster fast platt, kann aber noch immer nichts erkennen, was einer Zivilisation ähnelt.

»Sehen Sie denn nicht den Fluss dort hinten? Dort können Sie sich frischmachen. Einen schönen Abend noch.« Mit diesen Worten verlässt die Doktorin endgültig Avas Zimmer.

Ein weiteres Mal innerhalb weniger Minuten klappt Avas Kinnlade herunter. Starr blickt sie aus dem Fenster.

Natürlich hat sie den Fluss gesehen. Sie hätte nur nicht gedacht, dass dies der Ernst der Doktorin ist.

»Auf gar keinen Fall!«

Nach Luft schnappend schießt Ava herum, hechtet zu ihren Sachen und fischt hibbelig ihr Handy aus der Handtasche. Die Finger zittern als sie den Kontakt ihres Chefs auswählt und die Anruftaste drückt. Das blinkende Antennensymbol zeigt ihr allerdings, dass es mit dem Empfang in dieser Gegend tatsächlich nicht sehr gut bestellt ist.

»Komm schon. Lass mich nicht im Stich.« Fluchend stolpert Ava im Zimmer umher, findet aber keinen Fleck wo der Empfang besser wird. Im Gegenteil, jede Zimmerecke scheint sich gegen sie verschworen zu haben. In einer ist es schlechter, als in der anderen.

»Fuck!« Wütend rennt Ava aus dem Zimmer und hechtet zur Haustür. Sie muss raus, dort wird sie sicher besseren Empfang haben. Sie ignoriert die Doktorin, die mit einer dampfenden Tasse im Türrahmen zum Wohnzimmer steht und ihr offensichtlich amüsiert hinterherblickt.

»Im Umkreis von fünf Meilen werden Sie keinen Empfang kriegen«, ruft sie der Journalistin zu, die mit großen Schritten in Strumpfhose auf die Wiese läuft.

Schnauze!

Ava rennt im zick zack von einer Himmelsrichtung zur anderen. Immer wieder richtet sie das Handy nach oben, schiebt es soweit hoch wie es ihre Körperlänge zulässt und hüpft sogar hin und wieder auf und ab, nur um einen Fetzen Empfang zu erhaschen.

Erst nach fast einer halben Stunde und einer zerrissenen Strumpfhose, muss sie der Doktorin recht geben. Nichts, dieses Fleckchen Erde scheint tot zu sein. Ava kann nicht glauben, dass es in Amerika tatsächlich noch Regionen gibt, die vom technischen Standpunkt aus völlig von der Außenwelt abgeschnitten sind. Wie ist das nur möglich? Wie kann man bloß so verantwortungslos sein?

Erschöpft geht sie in die Hütte zurück. Die Füße sind von der Wiese völlig verdreckt. Ava wird heute also noch Bekanntschaft mit ihrem Badezimmer machen müssen.

»Wie können Sie bloß so leben? So abgeschnitten von der Außenwelt, ohne irgendwelche Kommunikationsmittel?«, stöhnt Ava als sie beim Wohnzimmer stehenbleibt und die Doktorin auf der Couch sitzen sieht. Diese dreht sich um und blickt über eine Lesebrille hinweg zu Ava.

»Ich verabscheue die Menschen. Weshalb sollte ich mir also irgendwelche Geräte anschaffen, mit denen ich Kontakt mit diesen widerwärtigen Wesen halten könnte? Wenn man mich erreichen will, kennt man den Weg zu meinem Haus.«

Wow.

Ava ist nicht mehr im Stande klar zu denken. Doktor Jercy verabscheut die Menschen? Sie will keinen Kontakt zu ihnen? Diese sind widerwärtige Wesen?

Und was bist du dann? Ein Einhorn mit Glitzerfurz, oder was?

»Aaah, Sie können mich schon jetzt nicht leiden. Das gefällt mir.« Lächelnd dreht sich die Doktorin um. Ava weitet die Augen.

Woher … ?

»Ich habe es an Ihren Augen ablesen können. Mich kann keiner leiden und das ist auch gut so. Ich will auch nicht gemocht werden.«

»Wie machen Sie das?«

»Was? Wissen was Sie denken?« Ava nickt, obwohl ihr bewusst ist, dass Miss Jercy das nicht sehen kann, weil diese ihr den Rücken zukehrt.

Die Doktorin dreht sich erneut zu ihr um und schiebt die Lesebrille ihre Nase etwas herunter.

Herrje, das sieht jetzt irgendwie süß aus.

»Sie wollen doch diese beschissene Biografie über mich schreiben, nicht wahr? Dann werden Sie in naher Zukunft sehr viel von mir kennenlernen. Von mir als Person und als Doktorin. Glauben Sie mir, Sie werden mich danach verabscheuen und verachten. Sie werden mich hassen und ich werde mich an diesem hasserfüllten Gefühl laben. Bis dahin werden Sie aber lernen, wie ich an wenigen Gesichtszügen und Reaktionen die Gedanken der Menschen erahnen kann. Und jetzt …«, die Doktorin wendet sich wieder von Ava ab »verschwenden Sie nicht weiter meine kostbare Zeit. Ich wünsche später eine angenehme Nacht.«

Kostbare Zeit? Du sitzt auf der Couch, hast ein kuscheliges Feuer an und machst keine Ahnung was. Kostbare Zeit, schon klar.

»Wo ist denn die Toilette, wenn ich Sie noch einmal belästigen dürfte?« Die Doktorin streckt einen Arm aus und zeigt gegen eine Wand.

»Draußen.« Mit rollenden Augen geht Ava auf nackten und wunden Füßen zu ihrem Zimmer.

Während sie beginnt einige ihrer Sachen aus den Koffern zu holen, spürt sie ein gähnende Leere in ihrem Magen.

Heute wirst du nirgendwo mehr hingehen. Erniedrige dich also und bitte deine nette Gastgeberin um Wasser und Brot.

***

Mit Duschgel und einem Handtuch ausgestattet, trottet Ava um die Hütte herum. Erstens muss sie ihre Blase entleeren und zweitens muss sie ihre Füße waschen. Sie wird mit diesen dreckigen Stelzen unter keinen Umständen schlafen gehen. Und wenn sie in Naturwissenschaften richtig aufgepasst hat, deutet die untergehende Sonne das Ende eines Tages an. Also eben schnell die Toilette aufsuchen, dem durchaus naturbelassenen Badezimmer einen Besuch abstatten und dann zusehen um aus der ganzen Situation das Beste zu machen.

Suchend blickt sich Ava um.

Toilette, Toilette, wo zum Teufel versteckst du dich?

Unsicher schleicht sie zu einer großen Hütte, wo sie das Pferd der Doktorin vermutet. Das Wiehern und der Geruch verraten dies eindeutig.

Langsam betritt Ava den Stall. Er wirkt innen größer, als er von außen aussieht. Als sie an der Box der Stute vorbeistolpert, steckt die Gute ihren großen Kopf heraus und schnaubt.

»Ja ja, bin gleich wieder weg. Ich suche nur die Toilette«, erklärt Ava ihren unangekündigten Besuch und trottet weiter durch den Stall. Nichts. Super.

Genervt verlässt sie den Stall und marschiert zu einer weiteren Hütte. Diese ist aber um einiges kleiner als das Haus und der Stall. Vielleicht hat sie da ja mehr Glück.

Mit vollgepackten Armen rüttelt sie an der Tür. Verschlossen.

»Man oh man. Ist das hier Alcatraz, oder was? Wieso ist das verschlossen? Was ist denn dort kostbares drinnen, dass es vor der Außenwelt versteckt wird?« Ava blinzelt zwischen zwei Holzstreben. Nur mit Mühe kann sie eine große Plane erahnen, die über ein Fahrzeug geschlagen wurde.

»Ah, die tolle Doktorin hat also einen Führerschein? Schön und wie fährst du über Stock und Stein ohne stecken zu bleiben?« Diese Frage beantwortet sich von ganz alleine, kaum das Ava um die Scheune herumgeht. Von dort führt eine plattgefahrene Schotterstraße zu einer weiteren Straße, die in einiger Entfernung etwas abgelegen angelegt wurde.

 

»Hätte ich das gewusst, hätte ich mir die Blöße nicht geben müssen.« Grummelnd blickt Ava die Schotterstraße entlang. Diese führt tatsächlich von der anderen Straße direkt bis zur Hütte. Es gibt keine Abzweigung, nichts. Eine Strecke die exakt zum Ziel führt.

Ok, ich suche aber noch immer nach der Toilette.

Allmählich beginnt die Blase zu schmerzen als Avas Aufmerksamkeit erregt wird. Sie richtet ihren Blick auf einen Eimer, der an der Wand der Hütte steht. Auf dem schmalen Rand des Blecheimers, der sicherlich schon einige Kuheuter von unten gesehen hat, liegt eine Rolle Toilettenpapier gegen die Hütte gelehnt.

»Was?« Quietschend starrt Ava auf den Eimer.

»Das ist nicht dein Ernst!« Fast kreischend starrt sie zum Haus zurück.

Das kann unmöglich dein Ernst sein! Ich kann doch nicht in so einen beschissenen Eimer …. Wo, zum Teufel, ist die Zivilisation geblieben?

Kopfschüttelnd wendet sich Ava von dem Eimer ab. Unter keinen Umständen wird sie dort ihr Geschäft verrichten. Selbst dann nicht, wenn ihre Blase und ihr Darm fast dabei sind zu platzen. Wie sollte sie den Eimer auch entleeren? Und wo? Nein, so weit wird sich Ava nicht erniedrigen lassen. Etwas Stolz besitzt sie schon noch.

Mit jedem Schritt, den sie Richtung Fluss macht, schmerzt ihre Blase. Ihr kommt diese wie ein stürmischer Seegang vor. Der Urin schwabt von einer Seite zur anderen und reizt die Blasenwände.

Endlich beim Fluss angekommen, blickt Ava um sich. Sie sucht einen Busch der einigermaßen blickdicht ist. Wenn sie von ihrem Zimmerfenster aus diesen Fluss schon sehen konnte, wird die Doktorin sie sicherlich auch sehen können. Und das will Ava auf gar keinen Fall.

Dribbelnd hechtet sie hinter einen Busch, öffnet die Hose und erfreut sich gedanklich daran endlich die Blase entleeren zu können. Sie zieht die Hose herunter, hockt sich hin und will gerade ihre Muskeln entspannen, als ihr etwas einfällt. Blitzschnell verkrampft sie ihre Muskeln.

»Scheiße!« Fluchend blickt sie um sich.

»Man, du hättest wenigstens das Toilettenpapier mitnehmen können. Herrgott nochmal.« Suchend tastet Ava die Gegend ab, um sich nach dem urinieren mit irgendetwas abwischen zu können. Nichts. Hier gibt es nichts außer Sand, Stein, Stöcker und Blätter. Und bevor sie sich eines davon zwischen die Beine schiebt, muss ihr Gehirn schon völlig zersetzt sein. Nein, unter keinen Umständen.

Ava schaut zu dem Handtuch auf dem Boden.

Nein, damit musst du dich gleich noch abtrocknen.

Ihre Augen fliegen zum Fluss. Ruhig plätschernd fließt er in eine Richtung. Das plätschern hilft Ava keineswegs die Blase noch länger unter Kontrolle halten zu können.

Wirr blinzelt sie über den Busch Richtung Haus. Dort regt sich nichts. Gut, also los.

Hektisch und nervös steigt Ava ganz aus der Hose, rupft, zupft und zerrt an der Strumpfhose, bis sie mit blankem Arsch zum Fluss watschelt.

Kaum berührt ein Fuß das Wasser, quiekt sie auf.

»Scheiße ist das kalt.« Fluchend, wimmernd und nach Luft schnappend kämpft sich Ava langsam weiter in den Fluss hinein. Das Wasser umspült ihre Waden und kriecht langsam an den Knien hoch. Sie blickt noch einmal zum Haus zurück und ist sich sicher. Miss Jercy kann sie so nicht sehen.

»Gott, was tut man doch nicht alles für seine Karriere.«

Brummend blickt sich Ava noch einmal um, geht in die Hocke und kneift die Augen zusammen.

»Es tut mir leid, Fischis.« Kaum entspannt sie ihre Blase und geht diesem langersehnten natürlichen Bedürfnis nach, wird sie etwas ruhiger. Die Blase entleert sich langsam, während in Ava Scham aufsteigt.

»Ich muss mir irgendetwas einfallen lassen. Ich kann nicht jeden Tag den Fluss als Toilette benutzen. Das kann man nicht von mir verlangen.«

***

Avas Beine fühlen sich an, als wenn sie jeden Augenblick absterben. Das kalte Flusswasser hat sie innerhalb weniger Minuten völlig unterkühlt. Sie wird Stunden brauchen, bis sie wieder warm ist und etwas von der unteren Partie ihres Körpers spüren kann.

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie nochmal stören muss, aber haben Sie eventuell etwas zu essen für mich? Ich habe nicht damit gerechnet mich selbst versorgen zu müssen. Ich werde morgen früh also als erstes einkaufen gehen.«

Auch wenn Ava eigentlich keinen Grund weiß, weshalb sie im Augenblick so kuscht, glaubt sie, dass es besser für ihre Gesundheit wäre, den unschuldigen Hund zu mimen. Sie muss erstmal richtig ankommen, sich einrichten, einleben und dann kann sie der Doktorin auch eine andere Seite von sich zeigen. Die Seite die sie ist - die sie ausmacht.

Mit einer schnellen Bewegung pfeffert die Doktorin ihr Buch zur Seite, steht ruckartig von der Couch auf und geht achtlos an Ava vorbei. Sie beachtet sie nicht einen Augenblick lang.

Treudoof trottet die Journalistin hinter ihr her und betritt die K… Kü… Küche.

Ok, damit kommst du auch noch klar.

Mit rollenden Augen durchquert sie die Räumlichkeit und nimmt alles um sich herum auf. Eine Küchenhexe aus Omas Zeiten dominiert eine Ecke der Küche.

Ava kann es nicht kontrollieren und schlägt sich eine Hand gegen die Stirn, als sie auf dem Küchenherd einen Wasserkessel aus Messing und zwei Gusseisenpfannen erspäht.

Die kocht damit doch nicht etwa, oder?

Die Küchenzeile, mit gut erhaltenen alten rustikalen Hängeschränken, nimmt eine Raumseite ganz für sich ein. Ava kann nicht ein elektronisches Gerät erkennen. Keine Kaffeemaschine, keine Mikrowelle, nichts. Es steht nur ein hölzerner Brotkasten in der Mitte der dicken Arbeitsplatte.

An diesen tritt die Doktorin heran, öffnet die Klappe und holt ein Körbchen mit Brot heraus. Sie greift über sich, öffnet mit einem quietschen einen Schrank und holt ein Glas heraus. Dieses befüllt sie mit Wasser.

Als sie den Wasserhahn, der älter als Ava ist, öffnet, glaubt die Journalistin die Wasserleitung gurgeln zu hören.

Mit dem Glas Wasser und dem Brotkorb in der Hand dreht sich die Doktorin zu ihr um, stellt beides auf den antiken Eiche-Tisch und schaut Ava bestimmend an.

»Lassen Sie es sich schmecken.«

Bitte was?

Das dritte Mal an diesem Abend klappt Ava die Kinnlade herunter. Entgeistert starrt sie auf Wasser und Brot.

Hat sie vorhin meine Gedanken gehört, oder was? Diese Frau ist unheimlich. Das kann sie doch nicht ernst meinen, verdammt.

Ohne ein weiteres Wort, lässt die Doktorin Ava in der Küche stehen. Diese blickt noch immer fassungslos auf das Nahrungsmittel, das noch nicht einmal Insassen eines Gefängnisses bekommen würden. Doch, in Korea vielleicht, aber nicht im guten alten Amerika. Den Gefangenen dort geht es besser, als jemandem von der Straße. Sie haben ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung und drei Mahlzeiten am Tag.

Wo wir gerade bei Mahlzeiten sind … .

Entsetzt blickt Ava noch immer auf das Wasser, zieht einen Stuhl vom Tisch und setzt sich. Auf diesen Schock muss sie sich erstmal setzen. Das ist doch alles nur ein schlechter Scherz. Wie kann diese Frau nur so herablassend sein? Ava kann es ja verstehen, wenn Miss Jercy sie nicht hierhaben will, aber muss das gleich so ausarten? Was hat sich Ava da bloß aufgehalst?

»Habe ich Ihnen erlaubt sich an meinen Tisch zu setzen?« Miss Jercys scharfe Stimme erwischt Ava so hart, dass sie einfach nur agiert und blitzschnell vom Stuhl aufspringt. Erst ein paar Sekunden später registriert sie die Situation.

Bist du bescheuert? Was soll der Scheiß?

Miss Jercys Augen funkeln Ava wütend an. Langsam, ganz langsam wendet sie sich von der Journalistin ab und wandert Richtung Wohnzimmer.

»Wieso glauben die Menschen immer, das alles selbstverständlich ist? Sie haben keinerlei Respekt mehr dem Eigentum anderer Menschen gegenüber«, hört Ava die Doktorin schimpfen.

Ich habe mich nur auf einen Stuhl gesetzt. Ich wollte ihn nicht stehlen, Herrgott.

Ava blickt zu dem Wasser und dem Brot zurück.

Gut, dann beiße ich mich da jetzt im wahrsten Sinne des Wortes durch. Ich habe zumindest etwas zum Essen und muss nicht mit leerem Magen ins Bett.