Handbuch Ambulante Einzelbetreuung

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Wenn die Arbeitsbedingungen für die ambulante Einzelbetreuung am Lebensort des jungen Menschen zu ungünstig sind, ist es gerade im ländlichen Raum schwierig eine Alternative zu finden, um sich zu treffen, Gespräche zu führen und zu arbeiten. In [39]Städten bietet der Träger der Maßnahme den Betreuungspersonen manchmal Büro- und Gesprächsräume zur Nutzung. Auf dem Lande können Jugendräume, Jugendzentren, Gemeinderäume oder Räume in kirchlicher Trägerschaft eine Ausweichlösung sein. Auf die Dauer sollte überlegt werden, wie die räumliche Situation für den betreuten jungen Menschen verbessert werden kann. Hat er kein eigenes Zimmer oder ist dieses nicht entsprechend ausgestattet, so dass er dort ungestört Besuch empfangen und seine Hausaufgaben machen kann, sollte ein Zimmer in der Familie ausgeräumt und renoviert, sollten Möbel besorgt und das Zusammenleben den Bedürfnissen des jungen Menschen entsprechend umgestaltet werden. Die Umsetzung dieses Handlungsplans beinhaltet notwendig die Einbeziehung der ganzen Familie und die Bearbeitung von Widerständen gegen diese Veränderungen.

Einschränkender als ungünstige oder beengte räumliche Gegebenheiten können sich die eingespielten Verhaltensweisen einer Familie auswirken. Vor dem Hintergrund von Familienkulturen, die in deutlichem Widerspruch zu gesellschaftlichen Normen, zu den Ansprüchen der Bildungsinstitutionen und sogar zu geltendem Recht stehen, lässt sich die individuelle Unterstützung eines jungen Menschen manchmal kaum ansatzweise verwirklichen. Die Fördermöglichkeiten durch ambulante Einzelbetreuung sind also an die Mitarbeits- und Veränderungsbereitschaft des familiären Umfelds gebunden. Es ist nicht sinnvoll gegen die familiären Gegebenheiten anzuarbeiten, weil dieses Vorgehen den betreuten jungen Menschen in einen problematischen Loyalitätskonflikt zwischen seiner Familie und der Betreuungsperson stürzen wird. Die Arbeit mit dem jungen Menschen ist fast immer begleitet von einer beharrlichen Arbeit mit dem sozialen Umfeld.

Ein wesentlicher Teil der Aufträge bei ambulanten Einzelbetreuungen ist das Bearbeiten von Bildungs- und Ausbildungsproblemen. Daher gehören auch die Kooperation mit den entsprechenden Institutionen und das Aufsuchen der entsprechenden Lern- und Ausbildungsorte als essenzieller Teil zur Arbeit dazu.

Setting

Ambulante Einzelbetreuung ist klassische Beziehungsarbeit im Eins-zu-eins-Kontakt. Die Maßnahme richtet sich auf den jungen Menschen aus und ihre Wirksamkeit und ihr Erfolg leitet sich aus dem gelingenden und vertrauensvollen persönlichen Kontakt zwischen Betreuungsperson und dem betreuten jungen Menschen ab. Durch die Art und Weise der Zusammenarbeit kann im besten Fall eine Arbeitsbeziehung entstehen, durch die der junge Mensch in seiner Persönlichkeitsentwicklung gefördert wird und die belastende biografische Erfahrungen kompensiert.

Diese Arbeitsbeziehung ähnelt in ihrer ganzheitlichen Charakteristik alltäglichen und manchmal sogar familiären Beziehungen und enthält emotionale wie kognitive Aspekte. Die Sprache ist alltagsnah und richtet sich an den Gepflogenheiten des jungen Menschen und seines sozialen Umfelds aus. Das Verhältnis erscheint Außenstehenden manchmal erstaunlich freundschaftlich (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003). Die Kontaktfrequenz und die Dauer der Kontakte, die Inhalte der Gespräche und die Art der gemeinsamen Unternehmungen werden zwischen Betreuungsperson und betreutem jungen Menschen relativ frei ausgehandelt.

Doch sowohl die große emotionale Nähe als auch die Freiheit der Gestaltung beinhalten viele Verunsicherungsmomente und eine große Verantwortung für die Betreuerinnen und Betreuer, auch weil die personellen Aspekte die Arbeit sich kaum anhand[40] methodischer Richtlinien und Standards absichern lassen. Die in freier Aushandlung gefundenen Umgangsweisen und Interventionen werden durch die Fachkraft persönlich verantwortet. Die Wirksamkeit der jeweiligen Maßnahme ist eng an die Betreuungsperson und ihr Handeln gebunden. Während der praktischen Arbeit im Kontakt zum betreuten jungen Menschen kommen viele Fragen auf, deren Antworten in keinem Methodenhandbuch zu finden sind, wie die Frage, ob man sich siezen oder duzen soll, ob es unprofessionell ist, Adressatinnen oder Adressaten mit nach Hause zu nehmen und wie viel Einblick man ihnen in das eigene Privatleben gestatten soll. Die Verhaltensformen, die gültigen Regeln und Übereinkünfte des Miteinander-Umgehens sind nicht aus Konventionen und extern vorgegebenen Regeln ableitbar. Dabei ist die Grenze zwischen Privatperson und Berufsrolle schwer zu ziehen. An welchen Stellen muss man auf Einhalten der Form und Respekt bestehen, um nicht ins Laienhaft-Unprofessionelle abzudriften? Der Verlust der „professionellen Distanz“ als Signal mangelnder Expertise ist so berüchtigt wie undefiniert (vgl. Dörr, Müller 20072). Wodurch unterscheidet sich letztlich der private vom professionellen Kontakt, wenn sich die Anreden und Gesprächsformen, die Themen, die Kontaktformen annähern?

Auch aus der Perspektive des jungen Menschen ist die Situation nicht leicht einzuschätzen. Er hat ebenfalls Schwierigkeiten die Beziehung zu fassen und zu greifen: Wer ist die Betreuungsperson für ihn eigentlich? Ist er oder sie Freund, erwachsener Berater, emotionaler Elternersatz? Wie ist dieser Mensch einzuordnen, der biografische Relevanz für sich beansprucht? Mit welchen emotionalen Ansprüchen darf man ihm begegnen? Welches Vertrauen kann man ihm entgegenbringen und wie vertraut soll man sich ihm gegenüber verhalten? „Du bekommst doch Geld dafür, dass du bei mir bist!“ Dieser kritische, manchmal fragend, manchmal fordernd, manchmal auch provozierend geäußerte Hinweis junger Adressatinnen und Adressaten ist Ausdruck einer tiefen Verunsicherung, der Befürchtung, dass nichts als Geld die Beziehung zusammen hält, wodurch wichtige Kategorien wie persönliche Wertschätzung, Anerkennung und Sympathie entwertet werden. Dass die Betreuungsperson nur für Geld anwesend ist, beinhaltet eine persönliche Kränkung und verweist auf die unaufhebbare Kälte und prinzipielle Auswechselbarkeit und Beliebigkeit jeder professionellen Hilfebeziehung. Das Interesse der Fachkraft scheint nicht dem jungen Menschen als Person, sondern nur als Klienten zu gelten. Damit wird die Mühe der Betreuung anscheinend nicht um seiner selbst willen, sondern um eines beruflichen Arbeitsauftrags willen geleistet. Diese Erkenntnis kann die Bereitschaft eines jungen Menschen einschränken, sich auf die Betreuungsbeziehung rückhaltlos einzulassen, vor allem wenn er in seinem Leben viele unzuverlässige und enttäuschende Beziehungen erlebt hat.

Jede ambulante Einzelbetreuerin und jeder ambulante Einzelbetreuer muss einen eigenen Weg suchen, persönliche Nähe und professionelle Distanz zu verbinden. Leicht auflösen lässt sich dieser Widerspruch zwischen einem kühl-abwägenden, professionellen Blick und der Lebensweltnähe zu den Adressatinnen und Adressaten, der Orientierung an ihren Bedürfnissen, Wünschen und Zielen und einem vertrauensvollen Umgang mit ihnen nicht.

Die Problemlagen in der ambulanten Einzelbetreuung

Ambulante Einzelbetreuung wird selten problemspezifisch eingesetzt. In vielen Fällen bilden die Problemlagen zu Beginn der Hilfe eine diffuse und undurchsichtige Anhäufung einander verstärkender Schwierigkeiten, bei denen ein Ansatz für Veränderung[41] kaum erkennbar ist. Die Beteiligten drängen auf Unterstützung, weil es „so“ nicht weiter gehen kann. Die Eingangssituation ist durch Sachzwänge – ein drohender Schulverweis, der unbedingt abgewendet werden soll, eskalierte Konflikte, eine zugespitzte Drogenproblematik oder eine drohende Haftstrafe – dominiert. Daraus resultiert ein starker Handlungsdruck. Die Gefahr einer an schneller Entlastung orientierten und wenig inhaltlichen Hilfeindikation ist dann groß. Vielleicht wären weiter gehende Hilfemaßnahmen sinnvoller. Dafür konnte man aber weder die Eltern noch den jungen Menschen gewinnen. Eventuell war vor Ort kein geeignetes Gruppenangebot vorhanden, der junge Mensch schien zu alt für die sozialpädagogische Familienhilfe oder die Eltern stimmten dem Hilfeangebot nur deshalb zu, weil sie sich davon Erleichterung versprachen. Ambulante Einzelbetreuung wäre somit ein Kompromiss, der kleinste gemeinsame Nenner oder – das wäre die ungünstigste Variante – die Hilfeform, von der die Beteiligten annehmen, dass sie ihnen am wenigsten Engagement abverlangt. Dies kann auch für den Verhandlungspartner Jugendamt gelten: Ambulante Einzelbetreuung ist wegen der verhältnismäßig geringen Kosten und des geringen internen Begründungsaufwands leichter durchsetzbar als andere Hilfen.

Zielgruppe

Abgesehen von der Betreuungsweisung, die ein spezifisches Angebot für straffällige Jugendliche darstellt, wird ambulante Einzelbetreuung relativ alters- und zielgruppenunspezifisch eingesetzt – bei einer Präferenz für (männliche) Jugendliche.

Auf der Ebene der Hilfeindikation findet also kaum problembezogene Selektion statt. Nach welchen Kriterien die Allgemeinen Sozialdienste eine Abgrenzung der verschiedenen Hilfeangebote leisten ist unbekannt. Wünsche beziehen sich häufig auf persönliche Eigenschaften und Kompetenzen der einzusetzenden Betreuungspersonen wie Geschlecht, Alter oder bestimmte Kompetenzen und Interessen. So ist vor allem ab Vorpubertät eine gleichgeschlechtliche Kombination von Betreuungspersonen und betreuten jungen Menschen üblich. Dies wird damit begründet, dass Betreuerinnen und Betreuer des gleichen Geschlechts eine Vorbildrolle hinsichtlich der Geschlechtsrollenidentität einnehmen und bei sexuellen Fragen als Beraterinnen und Berater fungieren können. Gleichgeschlechtliche Zusammensetzungen gelten in der Beziehungsarbeit als wirksamer und unproblematischer. Auch ein eigener Migrationshintergrund, zum Fall passende spezielle sprachliche oder fachliche Kompetenzen und besondere professionelle Vorerfahrungen spielen häufig bei der Einsatzentscheidung einer bestimmten Person in einem bestimmten Fall eine Rolle. Das Alter der Betreuungsperson und persönliche Charakteristika und Interessen können ausschlaggebend sein. Dass die individuelle „Passung“ von Betreuungsperson und betreutem jungen Mensch die Wirkung der Hilfe erheblich bestimmt, ist in der Fachliteratur unumstritten (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003, Rätz-Heinisch 2005). Ein Problem stellt aber nach wie vor die mangelnde Greifbarkeit der Faktoren dar, die eine persönliche Passung ermöglichen.

 

Funktion der Hilfe

Ambulante Einzelbetreuung ist multifunktional. Maßnahmen nach § 30 und § 35 SGB VIII vereinigen Sozialisations-, Bildungs-, Unterstützungs-, Kontroll- und – bei Betreuungsweisungen[42] anstelle strafrechtlicher Sanktionen – auch Resozialisierungsfunktionen. Diese Funktionen sind nicht klar voneinander abzugrenzen.

Der Unterstützungsgedanke steht bei allen Jugendhilfemaßnahmen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz im Vordergrund. Dies beinhaltet Freiwilligkeit und Partizipation bei der Hilfeplanung. Obwohl das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) den Partizipationsgedanken auch für Minderjährige stärkt, ist er noch nicht befriedigend umgesetzt, weil Minderjährigen nach wie vor kein eigenes Antragsrecht auf Jugendhilfemaßnahmen zukommt (vgl. Urban 2004, Münder 2006, Pluto 2007). Beantragen Eltern eine ambulante Einzelbetreuung „für“ einen jungen Menschen, die von ihm abgelehnt wird, kann die Hilfe aus seiner Sicht als unfreiwillig, erzwungen und gegebenenfalls als Kontrollmaßnahme erscheinen.

Kontroll- und Eingriffsaufgaben gehören vor allem dann zum Pensum ambulanter Einzelbetreuungen, wenn ein Verdacht der Kindeswohlgefährdung aufkommt (s. Kap. Grenzsituationen der Jugendhilfe: Kindeswohlgefährdung).

Sozialisationsaufgaben stehen bei einem familienergänzenden Einsatz an erster Stelle. Dies gilt nicht nur für die Betreuung kleinerer Kindern, sondern kann auch bei Jugendlichen erforderlich sein, die durch Vernachlässigung und Alltagsstrukturprobleme altersentsprechende Kompetenzen nicht erworben haben.

Auch die Vermittlung von Bildungsinhalten kann zum Aufgabenbereich der ambulanten Einzelbetreuung gehören, zum Beispiel, um in der Schule den Anschluss wieder zu ermöglichen.

Diese vielfältigen Funktionen sind in der Praxis nicht zu trennen. Typisch für natürliche soziale Kontexte ist immer eine gewisse Rollen- und Funktionsmischung. Dies gilt auch für die kontroll- und unterstützungsorientierten Anteile der Arbeit. Freiwilligkeit zu Beginn eines Jugendhilfeangebots erhöht möglicherweise die Kooperationsbereitschaft. Aber das Entstehen einer konstruktiven Arbeitsbeziehung wird durch eine Zwangs- und Eingriffsstruktur nicht automatisch verhindert.

Gerade der auf den ersten Blick unproblematische Unterstützungsaspekt einer Jugendhilfemaßnahme kann für Jugendliche, die Wert auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit legen, unakzeptabel erscheinen. Ein junger Mensch kann es als Ausdruck persönlichen Versagens und Bedrohung von Souveränität empfinden, wenn ihm in der Hilfeplanung die Formulierung eines expliziten persönlichen Hilfebedarfs abverlangt wird. So kann es dazu kommen, dass ein eigentlich akzeptiertes und sogar gewünschtes Unterstützungsangebot allein infolge unannehmbarer Formulierungen nicht in Gang kommt oder abgebrochen wird

Intensität

Ambulante Einzelbetreuungen werden überwiegend mit einer wöchentlichen Stundenzahl von durchschnittlich fünf bis sieben Stunden pro Woche durchgeführt. Daraus ergeben sich etwa zwei Kontakte pro Woche. Zusätzlich finden Gespräche mit Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und bei Bedarf weiteren institutionellen oder informellen Netzwerkpartnerinnen und -partnern statt. Bei ländlicher Struktur kommen längere Fahrzeiten hinzu und je nach der Organisationsstruktur und dem Abrechnungsmodus des Trägers Teambesprechungen. Die eigentliche Kontaktzeit ist also im Durchschnitt relativ kurz und erlaubt rein zeitlich keine zu enge Beziehung. Die in diesem Rahmen umsetzbaren Kontrollmöglichkeiten sind gering, weil der weitaus umfangreichere Teil des Alltags selbst gestaltet bleibt. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist eine[43] intensivere Betreuung oft gar nicht umsetzbar, weil sie als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden wird.

Zwischen dem zeitlichen Umfang der Kontakte und der Wirkung der Maßnahme besteht oft kein direkter Zusammenhang. Wichtig für die Wirkung scheint zu sein, dass die jungen Menschen die gemeinsam verbrachte Zeit schätzen und Anregungen durch die Hilfe für ihre persönliche Weiterentwicklung nutzen.

Persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen

Die Wirkung, die eine Einzelbetreuung erzielen kann, hängt damit zusammen, ob und wie weitgehend es der Fachkraft gelingt, für den jungen Menschen biografisch relevant zu werden und damit zu einer Person, deren Meinung zählt, die um Rat gefragt und ins Vertrauen gezogen wird, die als Orientierung für das eigene Leben dient und mit deren Einstellungen man sich auseinandersetzt, ja, deren Haltungen man zu übernehmen geneigt ist, der man gefallen und vor deren Urteil man bestehen will. Es gibt einige persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die eine solche Wirkung unterstützen: Glaubwürdigkeit, Authentizität, Sympathie, Anerkennung, Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Klarheit, Respekt, Höflichkeit, Interesse, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme.

Glaubwürdigkeit

Glaubwürdigkeit entsteht einerseits, wenn die Äußerungen eines Menschen in sich widerspruchsfrei und vom Ausdruck her glaubhaft sind, aber vor allem auch dann, wenn dieser Mensch für das, was er äußert, mit seinen Taten einsteht. Handelt ein Mensch deutlich sichtbar im Sinne seiner Einstellungen, gewinnt er an Glaubwürdigkeit und Autorität für andere und wird für sie überzeugend. Bei den eigenen Eltern und bei anderen pädagogisch Einfluss nehmenden Personen orientieren sich junge Menschen oft mehr am handelnden Beispiel als an ausdrücklichen Belehrungen und nehmen Widersprüche deutlich war.

Authentizität

Carl Rogers, der Begründer der Klientzentrierten Gesprächsführung, bezeichnete Kongruenz, die emotionale Echtheit und Transparenz des Therapeuten, als eines der drei wichtigsten Wirkungsmechanismen in der Therapie (die anderen beiden sind Akzeptanz und Empathie – s.u., vgl. Rogers 19813). Kongruent bzw. authentisch sein bedeutet seine eigenen Gefühle nicht zu verbergen, sondern sie im Umgang mit den Adressatinnen und Adressaten zu zeigen und zu thematisieren. Gemeint ist ein ehrliches, akzeptierendes, reflektiertes und ruhiges Umgehen mit den eigenen Gedanken und Gefühlen wie mit denen der Interaktionspartner.

[44]Sympathie

In seiner Studie über ambulante Einzelbetreuung verweist Fröhlich-Gildhoff darauf (2003), wie wichtig betreute junge Menschen die persönliche Sympathie zur Betreuungsperson und das Vorhandensein gemeinsamer Interessen nehmen. Gegenseitige Sympathie bildet offenbar die unverzichtbare emotionale Basis der Betreuung.

Anerkennung

Nach einer Erkenntnis von Klaus Wolf (2001) zeichneten sich Familienhelferinnen, denen es gelang ihre Adressatinnen und Adressaten wirksam zu Verhaltensänderungen anzuregen, dadurch aus, dass sie deren Kompetenzen aufspürten, diese hervorhoben, anerkannten und sie ermutigten, diese zu erproben und zu entwickeln. Übertragen auf die ambulante Einzelbetreuung bedeutet das, dass die jungen Menschen zur selbst verantworteten Entwicklung ermutigt werden müssen. Dies geschieht durch ein realistisches Erkennen und der Anerkennung dessen, wer sie sind, wozu sie fähig sind und wohin sie sich entwickeln könnten.

Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit, Klarheit

Bemüht sich die Betreuungsperson ehrlich um berechenbares und voraussehbares Verhalten, ist dies für die Adressatinnen und Adressaten ein wichtiger Faktor, um die Hilfe annehmen zu können. Ein alltagsnahes Jugendhilfeangebot beinhaltet immer eine Grenzüberschreitung, die dann akzeptabler wird, wenn sie nach transparenten Regeln stattfindet. Ebenso wenn das Hilfeangebot zuverlässig erbracht wird. Der informelle Kontext der ambulanten Einzelbetreuung kann Betreuungspersonen mangels Kontrolle und Rahmen zum nachlässigen Umgang mit Strukturen und Grenzen verführen. Regelmäßige und zuverlässige Termine, Pünktlichkeit im Rahmen des Möglichen, das Ankündigen und die Absprache von Änderungen und das Einhalten von Plänen von Seiten der Betreuungspersonen sollten selbstverständlich sein. Je klarer und offenbarer die Umgangsregeln der Maßnahme, desto geschützter sind die Integrität und die Partizipationsmöglichkeiten der Adressatinnen und Adressaten. Ambulante Einzelbetreuer sollten sich zum Sachwalter von Klarheit, Transparenz und Zuverlässigkeit der Maßnahme machen vor einem Lebenshintergrund, der diese Merkmale oft vermissen lässt.

Respekt, Höflichkeit

Von Herzen kommendes respektvolles und höfliches Verhalten ist nicht nur ein unübertroffener Türöffner, es ist ebenfalls Garant eines partizipativen, gewaltfreien Umgangs miteinander und wirkt auch in extrem hoch gekochten Situationen deeskalierend bzw. die Eskalationen verlangsamend, wenn nicht gar sie verhindernd. Darüber hinaus regt respektvolles Verhalten zur Nachahmung an.

[45]Interesse

Rogers (19813) Begriff der Empathie setzt sich aus einem echten Interesse am Gegenüber, dem Wunsch sie oder ihn zu verstehen, und der Fähigkeit der Perspektivenübernahme zusammen (s.u.). Interesse am anderen mobilisiert in der professionellen Fachkraft Engagement und Energie. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, dem widerständigsten Problem länger auf der Spur zu bleiben als die Adressatin oder der Adressat selbst, die oder der zwar das Problem hat, aber vorzeitig an der Lösungsarbeit ermüdet. Ambulante Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen Durchhaltevermögen, Geduld und ausreichend Energie, den Dingen auf den Grund zu gehen. Diese Energie wirkt auf die betreuten jungen Menschen ermutigend. Interesse und Neugier sind starke und nachhaltige Impulsgeber für die Betreuungsbeziehung, weil das Suchen nach Lösungen – beinahe mehr als das Finden von Lösungen – von Entdeckerfreude und Glück begleitet ist.

Einfühlungsvermögen, Perspektivenübernahme

Sich in die Perspektive eines anderen zu versetzen, sich wortwörtlich in die Schuhe einer anderen Person zu stellen – to put yourself in somebody’s shoes – ist eine anspruchsvolle kognitive Leistung, die nicht allen Menschen gleichermaßen gegeben ist, aber systematisch geübt werden kann. Ein Schritt dabei ist, nichts, was man verstanden zu haben meint, für sicher zu halten und alles, was gehört und beobachtet wird, zu überprüfen. Das Bemühen darum, sich die Perspektive des anderen zu erarbeiten und deshalb im Zweifel immer wieder nachzufragen, wie etwas gemeint war, wirkt glaubwürdig und vertrauensbildend, weil die Adressatinnen und Adressaten damit die Deutungshoheit darüber behalten, wie sie wirken und wahrgenommen werden.

Partner und Akteur: der junge Mensch

Drei authentische Beispielfälle für ambulante Einzelbetreuungen zeigten unterschiedliche Ausgangslagen:

Die 17- jährigen Zwillinge Dennis und Christian schwänzten seit einiger Zeit die Schule und verbrachten ihre Zeit ausschließlich mit Computerspielen. Julia war in der Schule durch ihr stilles Verhalten im letzten halben Jahr aufgefallen. Dies stand möglicherweise mit einer Ehekrise von Julias Eltern in Zusammenhang. Rina war sehr dünn und wegen ihres starken Untergewichts schon mehrmals in der Klinik gewesen. Sie nahm dort zu, aber ihr erreichtes Gewicht ließ sich jeweils nicht halten, nachdem sie nach Hause zurück gekehrt war. Aus Sicht der meldenden Ärztin hatte Rinas Untergewicht inzwischen lebensbedrohliche Züge angenommen.

Bei allen drei Fällen war der Zugang zum Jugendamt unterschiedlich gewesen: Bei den Zwillingen hatten die Eltern um Beratung gebeten, bei Julia hatte die Lehrerin angerufen und bei Rina ihre Ärztin. In keinem Fall war es der junge Mensch selbst, der beim Jugendamt um Beratung ersucht hatten. Bisher – dies hat sich auch nach der Umformulierung des § 8 SGB VIII durch das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) im Januar [46]2012 nicht geändert22 – haben Minderjährige nur im Ausnahmefall das Recht, eine Beratung durch das Jugendamt ohne ihre Eltern in Anspruch zu nehmen.

Unabhängig vom Zugang und der Ausgangsproblematik werden die Hilfeangebote des Jugendamts durch das Verfahren der Hilfeplanung gesteuert, das alle Betroffenen, auch die jungen Menschen, an der Beratung, der Festlegung der Hilfe und der Interventionsplanung beteiligen soll. In der Praxis der Beratungs- und Erstgespräche tragen in der Regel die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialdienstes des Jugendamtes (ASD) zusammen mit den jungen Menschen und ihren Eltern die vorläufigen Ziele und Aufgaben für die zukünftige Jugendhilfemaßnahme zusammen.

 

In den Gesprächsprotokollen der oben genannten drei Fälle wurde unter der Überschrift „Was braucht der junge Mensch (notwendige Veränderungen)? Welche Ziele sollen mit der Hilfe erreicht werden?“ unter anderem Folgendes protokolliert:

„Christian und Dennis brauchen Stabilität und Konsequenz in der Erziehungshaltung. Es soll ein regelmäßiger Schulbesuch erreicht werden. Voraussetzung dazu ist die Erarbeitung einer Alltagsstruktur und ein Wiedererlangen des normalen Tag- Nacht- Rhythmus. Der ambulante Einzelbetreuer sollte den Zwillingen sinnvolle Möglichkeiten der Freizeitgestaltung vorstellen und sie ermutigen, sich sportlich zu betätigen, Kontakte zu knüpfen und sich ggf. in einem Verein zu engagieren.“

„Julia braucht eine ruhige und verlässliche Kommunikationspartnerin, der sie sich anvertrauen kann und an deren Seite sie mittelfristig lernt, sich zu öffnen und auf andere zuzugehen. Zunächst sollte die Einzelbetreuung hauptsächlich im Eins- zu- eins- Kontakt stattfinden. Da Julia in der Schule in ihren Leistungen zurückgefallen ist, sollte die Begleitung der Hausaufgaben mit zu den Aufgaben der Einzelbetreuerin gehören. Julia möchte gerne reiten lernen und wünscht sich, dass die Einzelbetreuerin ihr hilft, einen Verein zu finden, und sie anfänglich dorthin begleitet.“

„Rina soll vor allen Dingen an Gewicht zunehmen und in der Schule wieder Anschluss gewinnen. Die Einzelbetreuerin soll mit ihr eine gesunde Ernährung erarbeiten und mit ihr darauf achten, dass sie sie umsetzt. Die Jugendhilfemaßnahme soll darüber hinaus Rinas Eltern bei der Gesundheitsfürsorge unterstützen, nach Bedarf Rina zum Arzt begleiten und den Eltern vermitteln, was für Rinas Entwicklung und Förderung notwendig ist. Eine ständige Gewichtskontrolle Rinas ist erforderlich. Zu diesem Zweck soll engmaschig mit ihrer Ärztin kooperiert werden. Rina braucht Zuhause die Möglichkeit sich zurück zu ziehen und zum Beispiel in Ruhe ihre Hausaufgaben zu machen. Hierfür sollte die ambulante Einzelbetreuerin in Kooperation mit der Familie die Bedingungen schaffen.“

Auffällig an diesen Protokolltexten ist, dass sie einen starken Erwartungsgestus und zahlreiche Soll-Formulierungen in Bezug auf den jungen Menschen zeigen. Dessen Perspektive scheint gegenüber den Perspektiven der anderen Akteure nachgeordnet zu sein.

Es kommt leider nicht selten vor, dass in Hilfeplanprotokollen, Aufträgen und Zielformulierungen der ambulanten Einzelbetreuung und anderer Jugendhilfeangebote die betreuten jungen Menschen nicht als Subjekte betrachtet und angesprochen, sondern mit Forderungen der Eltern, Anpassungswünschen des Bildungssystems und gesellschaftlichen Ansprüchen auf Normerfüllung konfrontiert werden, hinter denen ihre eigenen [47]Vorstellungen, Planungen und Ziele unformuliert bleiben. Weder im Protokolltext zu den Zwillingen noch in dem zu Rina wird die Perspektive der jungen Menschen berücksichtigt. Auch wenn in Rinas Text anscheinend ihre Interessen formuliert werden, wird doch nur der gesellschaftliche Standard eines eigenen für die Anfertigung von Hausaufgaben angemessen ausgestatteten Zimmers mit ihren Bedürfnissen gleich gesetzt. Nur im Text, der sich auf die kleine Julia bezieht, kommen deren Wünsche als eigenständiger Auftrag an die Einzelbetreuung vor.

Wird die ambulante Einzelbetreuung zum Agenten der Interessen und Aufträge anderer Personen und Institutionen, kann dies die Möglichkeit verstellen, Ansatzpunkte, Motivation und Ziele beim jungen Menschen und seiner Perspektive zu finden. Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer werden zum reinen Transporteur der Anforderungen Dritter an ein als passiv aufgefasstes Erziehungsobjekt.

Dies ist dann besonders heikel, wenn die Problemursache gar nicht beim jungen Menschen liegt. Nach den empirischen Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik werden nur etwa bei einem Drittel aller Jugendhilfemaßnahmen und bei weniger als der Hälfte der ambulanten Einzelbetreuungen die Gründe für die Beantragung der Hilfe in den Problemen des jungen Menschen gesehen. Dies können Verhaltensauffälligkeiten, eine von der Norm abweichende Entwicklung, schulische Schwierigkeiten oder Probleme bei der Ausbildung sein. Bei den übrigen zwei Dritteln aller Jugendhilfemaßnahmen und mehr als der Hälfte aller Einzelbetreuungen kommen elternbezogene Defizite als Hilfeanlass in Betracht: Junge Menschen werden durch die konfliktbeladene häusliche Situation, durch die Sucht der Eltern oder deren psychische Erkrankung, durch Erziehungsdefizite oder durch den Ausfall von Bezugspersonen infolge von Krankheit, Tod oder unbegleitete Einreise in ihrer Entwicklung beeinträchtigt und sogar gefährdet.23 Während bei den kindbezogenen Hilfeanlässen familienunterstützende Maßnahmen sinnvoll sind, wirkt Jugendhilfe bei den elternbezogenen Hilfeanlässen hauptsächlich familienergänzend: in Ersatzfunktion für eine ausgefallene oder disfunktionale elterliche Sozialisation und Erziehung. Trotzdem setzt – anders als bei der sozialpädagogischen Familienhilfe, bei der alle Beteiligten in ihrer Eigenverantwortung angesprochen werden – die ambulante Einzelbetreuung nicht auf eine direkte Einflussnahme bei den Eltern, sondern versucht eine elternunabhängige Förderung und Unterstützung des jungen Menschen unter Erhalt der familiären Strukturen. Den jungen Menschen wird die hauptsächliche Veränderungsverantwortung angelastet, ohne dass sie als Subjekte der Hilfe angemessen positioniert würden.

Neben diesem Widerspruch zwischen Veränderungsverantwortung und mangelndem Subjektstatus ist die methodische Position der ambulanten Einzelbetreuung auch deshalb unbefriedigend, weil die Problemursachen, die bei den Eltern liegen, im Konzept der Hilfe nicht ausreichend bedacht sind. Während die sozialpädagogische Familienhilfe sich methodisch eindeutig im systemischen Denken verorten konnte, alle Akteure zur Mitarbeit verpflichtet und eine vermittelnde, überparteiliche Einstellung einnimmt, bleibt die ambulante Einzelbetreuung auf den jungen Menschen fixiert.

Wenn der Veränderungsimpuls und die alleinige Verantwortung zur Problemlösung beim jungen Menschen angesiedelt ist, beinhaltet dies eine grundsätzliche Überforderung und kann als ungünstigen Nebeneffekt bewirken, dass Eltern vorschnell aus ihrer Verantwortung für die Problemlösung entlassen werden. Veränderung ist aber häufig nur als Entwicklung der ganzen Familie denkbar. Dies gilt besonders für Kinder, aber auch für [48]Jugendliche und sogar für junge Erwachsene, die meist auf ihre Herkunftsfamilien bezogen bleiben, selbst wenn der Kontakt nur selten stattfindet.

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz gesteht Kindern und Jugendlichen eine aktive Rolle im Prozess der Hilfeplanung zu. Doch dies wird bisher nicht umfassend umgesetzt (vgl. Pluto 2007). Die übergeordnete Aufgabe der ambulanten Einzelbetreuung wie jeder Jugendhilfemaßnahme besteht in der Ermöglichung von Partizipation und gesellschaftlicher Teilhabe des jungen Menschen. Dies bedeutet: