Floria Tochter der Diva

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Alex

Floria genoss die Einsamkeit und die Stille am Kanal. Wie oft war sie hier mit Emma gegangen? Diese Landschaft hatte für sie einmal Geborgenheit bedeutet. Diese Geborgenheit spürte sie auch jetzt.

In der Schulzeit hatte Floria nicht viele Freundinnen. Sie war gerne alleine. Ihr besonderes Interesse für Musik schloss sie in gewisser Weise aus. Sie sang im Schulchor und ihr Lehrer hatte bald ihr Talent entdeckt. Immer öfter sang sie die Soli. Emma hatte sie, nach einem Gespräch mit dem Musiklehrer, zusätzlich zu ihrem Klavierunterricht bei einer Gesangslehrerin angemeldet. Nein, für Freundschaften hatte Floria wenig Zeit gehabt.

Der Kanal glich einem silbernen Band, das sich schier endlos neben ihr herschlängelte. Auf der anderen Seite des Kanals standen Schafe so dicht am Wasser, dass sie sich darin spiegelten. Floria stieg die Holzstufen zu einem kleinen Steg hinab, an dem ein gelbes Boot vertäut lag. Sie blieb lange dort sitzen, horchte auf das Gluckern des gekräuselten Wassers und die leisen Rufe, die aus dem Schilf zu ihr drangen. Ein paar Enten paddelten zwischen den Halmen.

Sie saß so lange, bis sie die Kälte spürte. Steif stieg sie die Stufen zum Ufer hoch und begann zu laufen. Floria hatte nicht bemerkt, wohin sie lief, bis sie vor seinem Haus stand. Neben der blau gestrichenen Eingangstür hing ein neues Praxisschild.

Doktor Alex Mendel praktizierte seit Jahren nicht mehr. Der alte Arzt, der Emmas und Florias Hausarzt gewesen war, wohnte noch über seiner ehemaligen Praxis und ging seiner Liebhaberei nach. Er züchtete hinter dem Haus Rosen. Alex Mendel mochte etwa fünf Jahre jünger als Emma sein. Floria lehnte gebückt, die Hände auf den Knien, am Zaun, um wieder zu Atem zu kommen.

»Sieh einer an«, hörte sie seine Stimme hinter sich. Sein Bass war unverkennbar.

»Alex!« Sie öffnete das Gartentor und fiel ihm um den Hals. Er ließ die Schubkarre los und erwiderte ihre Umarmung.

»Emma wird sich freuen, dich wieder hier zu haben. Komm mit in den Garten. Ich glaube, es ist noch etwas Kaffee da. Oder möchtest du etwas Stärkeres?« Er blinzelte ihr zu.

»Nein, Alex, keinen Alkohol.« Sie sah auf die Uhr. »Ich bin seit Stunden unterwegs und habe noch nichts gegessen.«

Er hatte sich gut gehalten. Sein weißes welliges Haar war dicht, sein Gang aufrecht. Obwohl der Oktober schon recht fortgeschritten war, gab es noch blühende Rosen. Er war offensichtlich dabei gewesen, die gelben Blätter von den Stängeln zu entfernen.

»So halten sie sich länger«, meinte er und zupfte im Vorbeigehen Laub von einem Rosenbäumchen.

»Wie geht es dir, Flo? Wirst du eine Weile bleiben?« Er klang besorgt. Sie hatte den Eindruck, dass hinter der Frage eine Besorgnis mitschwang, die nicht ihr galt.

»Ich denke, ja. Meine Ärzte haben mir Ruhe verordnet, keinen Stress.«

»Ich weiß, was passiert ist. Es tut mir wirklich leid, Kindchen.«

Er trank einen Schluck Kaffee, der inzwischen eiskalt sein musste, und verzog das Gesicht.

»Du bist jung, du wirst dich erholen«, meinte er. »Emma macht mir Sorgen.«

Floria erschrak. »Sie sieht sehr zart aus, aber sie macht mir nicht den Eindruck, als sei sie krank, Alex. Sie ist fast neunzig Jahre alt.«

»Ich weiß, wie alt sie ist!« Er sah sie zornig an.

Ich weiß, dass du sie liebst, dachte sie.

Er war, so lange sie denken konnte, an Emmas Seite gewesen. Zehn Jahre nach dem Krieg hatte er sich in eine Praxis hier in der kleinen Stadt eingekauft und war geblieben.

Zu der Zeit musste ihre Mutter elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein und Emmas Mann hatte noch gelebt. Er war der Bürgermeister des Ortes gewesen. Emma hatte selten von ihm gesprochen. Ihre Mutter nie. Es gab kein Bild von ihm, weder in Emmas Haus, noch in der Wohnung ihrer Mutter.

Es war, als habe es ihn nie gegeben.

»Hast du meinen Großvater gekannt?«

Der Doktor hob die Brauen. »Wie kommst du jetzt auf ihn?«

»Keine Ahnung, vergiss es. Für mich warst immer du Emmas Partner.«

Aber Floria wusste sehr genau, warum sie jetzt darauf kam. Mit seiner Bemerkung über Emma hatte er ihr gründlich Angst eingejagt. Emma würde eines Tages sterben. Eine entsetzliche Vorstellung. Für sie war ihre Großmutter unsterblich. Wo würde sie beerdigt werden? Sie hatten nicht ein einziges Mal das Grab ihres Großvaters besucht. Sie wusste nicht einmal, ob es eines gab.

Erst auf dem Heimweg fiel ihr auf, dass Alex ihre Frage nach dem Bürgermeister nicht beantwortet hatte.

Als sie sich Emmas Haus näherte, erfasste sie Panik. Sie rannte los.

Emma, ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.

Sie konnte sie doch nicht alleine lassen. Floria rannte in die Kammer, schleuderte die Stiefel von sich und warf die Jacke über einen Eimer.

»Da bist du ja«, sagte Emma, ohne sich nach ihr umzudrehen. Sie stand am Herd und sprach in einen großen Kochtopf hinein. »Es gibt Kartoffelsuppe mit viel Muskat. Ich hab sie auf Schinkenknochen gekocht, wie du sie am liebsten magst.«

Floria betrachtete die alte Frau. Sie war kleiner als in ihrer Erinnerung. Konnte sie wirklich in den wenigen Monaten, in denen sie Emma nicht gesehen hatte, so abgebaut haben? Oder übertrieb sie in ihrer Sorge? In den letzten vier Jahren war sie immer nur wenige Tage geblieben. Hatte sie nur ihre Karriere im Kopf gehabt und nicht gesehen, was um sie herum vorging?

»Wunderbar, ich habe einen Wolfshunger.«

»Kein Wunder, du bist nach dem Frühstück aus dem Haus gegangen und nun ist es schon wieder dunkel.«

Floria umarmte Emma. »Ich soll dich grüßen.«

»Von wem?«

»Auf dem Rückweg stand ich plötzlich vor Alex’ Haus. Er hat mir einen Schnaps angeboten.«

Emma lachte. »Lass mich los. Wenn ich nicht rühre, brennt die Suppe an. Was sagt der alte Mann?«

»Emma, Alex ist einige Jahre jünger als du.«

»Ich weiß, Kind. Das macht ihn aber noch nicht jung, nicht wahr?« Floria musste lachen. Ihre Großmutter hatte einen Hang zur Sachlichkeit, die ihr selbst fremd war. Sie mochte es blumiger, gefühlvoller, leidenschaftlicher.

»Apropos, was hörst du von deinem Dirigenten?«

»Wenig, er hat mich in Rom angerufen. Er ist sehr beschäftigt.«

»Kann er nicht mal, wenn es seiner Frau schlecht geht …?«

»Das hatten wir doch schon, Emma. Er kann nicht einfach seine Termine hinschmeißen, Verträge brechen, um seine ‚kleine Frau’, die im Übrigen schon lange nicht mehr seine Frau ist, in die Arme zu nehmen und zu trösten.«

Sie dachte an ihren zukünftigen Ex-Mann. Antonio war ein gefragter Dirigent. Ihre intensive Zusammenarbeit hatte zu mehr geführt. Sie hatten sich verliebt und vollkommen unüberlegt geheiratet.

Er war ein charismatischer Mann. Für jedes Orchester eine Zumutung. Er verlangte viel, zu viel, und sein Wunsch nach Vollkommenheit hatte auch sie manches Mal an den Rand gebracht.

Seine Auffassung von der Ehe hätte einem Sultan alle Ehre gemacht. Vielweiberei war der Begriff, der ihr dazu einfiel.

»Wir lassen uns scheiden, Emma.«

»Jetzt schon?«

Floria musste lachen. »Das klingt, als hättest du fest mit einer Scheidung gerechnet. Nur nicht schon nach zweieinhalb Jahren.« In Wahrheit, dachte sie, war ihre Ehe schon nach drei Monaten nur noch eine Farce.

»Hab ich auch.« Emma rührte heftiger. »Du musst geliebt werden, nicht einem hässlichen Zwerg als Schmuck dienen.«

»Emma!«

Ein schöner Mann war Antonio in der Tat nicht. Aber er war erfolgreich und allein das schien die Frauen zu beeindrucken. Er war nicht groß und versuchte diese Tatsache mit hohen Absätzen zu kaschieren. Sein Haar trug er lang und gelockt, was ihn ein paar Zentimeter größer aussehen ließ. Aber Emma hatte nicht recht. Körperlich klein war er als Dirigent doch ein Riese. Damit hatte er auch sie betört.

»Ich zieh mich um.«

»Wir haben Besuch zum Abendessen.«

Floria hörte Emma nicht mehr. Sie duschte lange und heiß. Dann wühlte sie in ihrer Kommode und förderte sehr bequeme Hosen und ein warmes kariertes Männerhemd zutage. Dazu zog sie dicke geringelte Wollsocken über die Füße. Das Haar fiel ihr feucht über den Rücken. Floria setzte eine riesige Brille auf die Nase. Ihre Kontaktlinsen ließ sie im Bad liegen.

Nach einem Blick in den Spiegel dachte sie, wie gut, dass keine Fotografen in der Nähe sind.

Nein, Fotografen würden sie hier vermutlich nicht finden, aber sie musste zugeben, dass der Hype um ihre Person ihr geschmeichelt hatte. Solange sie erfolgreich gewesen war, hatte es nicht an Kontakten gemangelt. Würden die alten Freunde sich noch melden? Oder fiele sie in das tiefe schwarze Loch, das Vergessen hieß? Von ihrer besten Freundin Susan hatte sie noch nichts gehört. Floria ließ das Handy liegen und flüchtete zu Emma in die Küche, bevor die Verzweiflung sie überfiel.

Julian

Schon auf der Treppe hörte sie Emma. »Lass mich sofort hier runter, du unverschämter Kerl.«

Katjas helles Lachen. Dann Klappern von Geschirr und Besteck. Was tat die Kleine um diese Zeit hier? Hatte sie kein Zuhause?

Floria öffnete die Küchentür. Emma saß auf dem halbhohen Schränkchen zwischen zwei Fenstern an der linken Küchenwand. Ihre Füße baumelten fünfzig Zentimeter über dem Küchenboden. Katja verteilte Suppenteller auf dem Tisch. Ein Mann mit einem Brotmesser in der Hand stand vor ihrer Großmutter.

»Du wirst da sitzen bleiben, Emma, bis wir den Tisch gedeckt haben.« Er drehte sich um und blickte direkt in Florias aufgerissene Augen. Sie starrte auf das Messer in seiner Hand.

 

Er legte es, ohne den Blick von ihr zu nehmen, neben den Brotlaib auf der Anrichte. Langsam verzog sich sein Gesicht. Floria war sich nur allzu bewusst, was er sah.

»Ah, Sie besitzen wenigstens eine Brille«, sagte er.

»Floria, das ist Julian, Katjas Vater. Und nun lass mich endlich hier runter. Was soll denn meine Enkelin denken?«

»Ich glaube, sie denkt gar nichts.«

Floria hatte sich noch nicht gerührt.

»Ich besitze selbst ein Auto und an Frauen bin ich nicht interessiert.«

Floria dachte an die erste Begegnung mit ihm. Wie hatte er denn diesen Kobold zustande gebracht?

»Guten Abend«, stieß sie endlich hervor und kam sich unendlich dämlich dabei vor.

»Emma hat Kartoffelsuppe gekocht, meine Lieblingssuppe. Isst du mit uns?«

Katja fragte ganz unbefangen. Floria fühlte sich plötzlich von diesem Kind ausgeschlossen.

Das ist meine Lieblingssuppe und Emma gehört mir, nicht dir.

Floria ließ sich auf einen Stuhl fallen. Mein Gott, was denke ich denn nur. Bin ich etwa eifersüchtig auf ein kleines Kind, das wie alle Kinder glaubt, die Welt gehöre ihm? Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie am Morgen mit der Frage erwacht war, was der Tag für sie bereithielte. Sie fühlte sich plötzlich alt. Alt und hässlich.

Floria wünschte sich weit weg. Weg aus dieser Küche, in der sie sich wie ein Eindringling vorkam.

»Deine Socken gefallen mir«, sagte Katja ernsthaft.

»Ja, meine Tochter hat einen exzellenten Geschmack, die gefallen mir auch.«

Wie reizend sie aussieht, dachte Julian. Riesig saß die Brille in ihrem ungeschminkten Gesicht. Die kräftigen Farben ihres Hemdes ließen ihre Wangen schimmern. Die Schlabberhosen über den dicken Ringelsocken waren an Garstigkeit kaum zu überbieten. Er stellte den schweren Suppentopf auf den Tisch.

»So, Emma, jetzt darfst du dich zu uns setzen.« Er hob ihre Großmutter von der Kommode, als sei sie gewichtslos.

Wieder kroch die Angst, sie zu verlieren, in ihr hoch.

Wie eine Herbergsmutter teilte Julian die Suppe aus. Er gab einen Klacks Creme fraiche auf jeden Teller. Die eiserne Pfanne mit den in Butter gebratenen Brotwürfeln stellte er mit einem Untersetzer ebenfalls auf den Tisch.

»Nein, Katie, du wartest bis Emma anfängt.« Die Kleine ließ den Löffel sinken.

»Warum?«

»Weil dies Emmas Küche ist und hier ist sie die Bestimmerin wie du in deinem Kinderzimmer.«

Sie nahm Katjas unbefangenes Geplauder wahr. Sie hörte Emmas Gelächter und Julians Stimme. In Gedanken war sie weit weg. In den letzten Jahren hatte sich alles um sie gedreht. Floria Mura. Ein neuer Stern am Opernhimmel. Es hagelte Preise. Kein Tag, an dem nichts über sie in der Zeitung stand, nicht ein Bild erschien oder Rezensionen über ihren letzten Auftritt auf einer der großen Bühnen der Welt. Sie hatte nicht den Eindruck, dass dieser Julian je von ihr gehört hatte. Er kannte sie nur als Emmas Enkelin. Sie war nicht sicher, ob ihr das gefiel. Jetzt, in diesem Aufzug, hätte sie sowieso kein Mensch erkannt, dachte sie in einem Anfall von Selbstironie.

»Du musst lauter sprechen, Liebling. Floria sieht schlecht und hören tut sie offenbar auch nicht so gut.«

Als sie ihren Namen hörte, hob sie den Kopf.

»Was?«

»Man sagt, wie bitte.«

Emma lachte. »Das hab ich Floria auch immer gesagt, Katja, aber sie gehorcht manchmal nicht, genau wie du.«

»Zeigst du mir dein Zimmer?« Katja wiederholte ihre Frage.

»Nicht heute, Katja, ein andermal.« Floria fror trotz der heißen Suppe und war unendlich müde.

Emma stand auf. »Ich habe einen Pudding im Kühlschrank.« Katja war sofort abgelenkt.

»Für mich nicht mehr, Emma. Ich gehe schlafen.« Floria schleppte sich die Treppe hoch und stieg, so wie sie war, in ihr Bett.

Thomas

Am nächsten Morgen wachte Floria verschwitzt und zerschlagen auf. Immer wieder träumte sie diesen Traum: Sie stand auf der Bühne und starrte in einen dunklen Zuschauerraum. Sie musste singen, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle.

Floria setzte sich auf. Ihr war schwindelig, sie hatte Kopf und Halsschmerzen.

Das kann ja heiter werden, dachte sie unglücklich.

Sie hatte jahrelang an nichts anderes als an ihre Stimme gedacht. Sie mied klimatisierte Räume, ging nur gelegentlich in Restaurants und umarmte selten jemanden. Erkältungen konnte sie sich nicht leisten. Sie versuchte sich so gut wie möglich vor Ansteckungen zu schützen.

In ihrer Tasche wühlte sie nach Medikamenten.

Leises Klopfen ließ sie hochblicken.

»Ja?«

Emma öffnete die Tür und blieb erschrocken stehen. Die Hand, die einen Becher hielt, zitterte ganz leicht.

»Flo, wie siehst du denn aus?«

Sie kam herein, stellte den Becher ab und meinte resolut: »Du legst dich sofort wieder hin. Ich lasse den Doktor kommen.«

Floria wurde wieder zum Kind. Sie ließ sich ohne Widerstand in die Kissen drücken, hob brav den Kopf und trank ein paar Tropfen Tee, die Emma ihr einflößte.

Floria spürte die Hand ihrer Großmutter auf der Stirn und dämmerte wieder weg. Ein Gefühl, als ob sie flöge. Sie ließ sich treiben, hörte nicht mehr, dass Emma das Zimmer verließ, nicht das Knarren der drittletzten Stufe und auch nicht Emmas Stimme, die ins Telefon brüllte.

Sie könne ihre Gesprächspartner auch ohne Telefon erreichen, behauptete Alex Mendel immer. Aber Emma lachte nur und meinte ungerührt: »Sicher ist sicher.«

Während sie Ingwer raspelte, dachte Emma über ihre Enkelin nach. Ihr eigenes Leben ging zu Ende, Florias begann erst. Flo sah so entsetzlich traurig aus, blass und ohne ihren sprühenden Witz war sie kaum wiederzuerkennen. Floria hatte sich verändert. In ihren dunklen Augen sah Emma den Schmerz und sie fragte sich besorgt, was sie tun könnte, um ihre einzige Enkelin aufzuheitern. Ihr einen Weg zu zeigen, auch ohne Gesang, wenn das sein müsste, glücklich zu werden. Ihre Ehe war gescheitert, sie hatte ihre große Liebe verloren, ihre Stimme …

Mein armes Mädchen, dachte sie.

Floria hatte den tödlichen Unfall des jungen Komponisten, seit sie zurück war, mit keinem Wort erwähnt. Sie hatte nicht über ihren Kummer gesprochen. Aber Emma las Zeitung. Sie las alles, was über Floria Mura geschrieben wurde. Und ihre Enkelin war für sie ein offenes Buch.

Ich muss dich zum Reden bringen, meine Kleine. Wenn du nicht über deine Gefühle sprichst, kannst du nicht gesund werden.

Ohne es zu ahnen, kam Emma zu dem gleichen Schluss wie Florias Spezialist in New York.

Als das Wasser kochte, gab sie den geraspelten Ingwer mit einem Löffel Honig zusammen in den Topf und ließ alles gut zwanzig Minuten köcheln.

Emma schloss ihre Türen am Tage nie ab. Alle, die zu ihr kamen, standen unvermittelt in ihrer Küche oder gingen in den Garten hinter dem Haus. Sie hatte einen guten Ruf als Kräuterhexe, wie die Leute sagten, wenn sie nicht in der Nähe war. Heilerin war der Begriff, den sie selbst verwandte.

Was heilte, konnte auch töten, dachte sie, als sie den Topf mit dem Ingwersud vom Herd zog.

»Das duftet sehr gesund. Guten Morgen, Emma.« Doktor Thomas Müller umarmte die alte Frau vorsichtig. »Ich sehe, du brauchst mich gar nicht.« Er betrachtete die Kräuter. Lindenblüten, Salbei und Thymian lagen auf dem Tisch. Er hob den Deckel von ihrem Kochtopf.

»Setz dich, Thomas, und nimm die Finger von meinem Topf. Kaffee?«

»Gerne.« Er stellte seine Arzttasche neben einen Stuhl. Emma war noch sehr beweglich. Aber er musste aufpassen, dass sie sich nicht übernahm. Sie war nicht unsterblich, wie er mit Bedauern feststellte. Er mochte diese kluge Frau, wie alle in der kleinen Stadt. Sie gehörte einfach dazu und würde eine schmerzhafte Lücke hinterlassen, wenn sie einmal nicht mehr war.

Genau wie der alte Gauner, sein Vorgänger, Doktor Alex Mendel. Thomas spielte am Abend gerne mit ihm Schach. Er trank seinen ausgezeichneten Brandy und hörte die Geschichten an, die Mendel erzählte.

Das dröhnende Gelächter der beiden hörte man oft nach Praxisende aus den geöffneten Fenstern bis auf die Straße. Der Doktor und sein Nachfolger, Mendel und Müller, sagten die Leute und blieben einen Moment stehen. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hatte sich Emma etwas Mädchenhaftes bewahrt. In ihrer Jugend musste sie eine sehr anziehende Frau gewesen sein. Diese Anziehungskraft hatte sie nicht verloren. Er konnte Mendel gut verstehen. Der Alte war immer noch in sie verknallt.

»Was ist?«

»Ich soll dich von Alex grüßen. Er kommt heute noch vorbei.«

»Und, ist das ein Grund frech zu grinsen?«

»Ich hab mich nur über eure junge Liebe gefreut.« Bevor sie ihm das Handtuch an den Kopf werfen konnte, schnappte Thomas sich seine Tasche und verschwand nach oben.

»Ich seh mal nach der Patientin.«

»Mach das.« Emma sah ihm nach. Junge Liebe? Ja, sie liebte Alex Mendel. Wenn er nicht gewesen wäre … Ihr Leben hätte eine andere Wendung genommen, nach dem Tod des Bürgermeisters, vor fast sechzig Jahren. Damals hatte Alex gerade in der Praxis eines älteren Kollegen angefangen, der einen Nachfolger suchte. Alex hatte den Totenschein für den Bürgermeister ausgestellt. Tod durch Herzversagen.

Dein Herz hat versagt, dachte sie, in jeder Beziehung. Falls du überhaupt eines hattest.

Diane war zwölf, als der Bürgermeister starb.

»Warum weinst du nicht, Mamá?«, hatte sie gefragt, während sie selbst in Tränen zerfloss.

»Ich weine innen drin, Diane. Meine Tränen sieht man nicht.«

Aber Emma weinte nicht, jetzt nicht und auch später nicht. Diane war untröstlich und nahm ihrer Mutter übel, dass es ihr nicht genauso erging. Ihre Entfremdung hatte damals begonnen. Manches Mal hatte sie sich gefragt, was ihre Tochter wahrgenommen hatte.

Emma räumte die Kaffeetassen vom Tisch. Sie lauschte den Schritten des jungen Arztes, hörte, wie oben eine Tür geöffnet wurde.

Er erinnerte sie mit den dunklen Haaren und den fast schwarzen Augen ein wenig an den Jungen, den sie als Siebzehnjährige geliebt und verloren hatte. Damien. Ein französischer Kriegsgefangener auf der Flucht. In einem Verschlag hinter seinem Atelier hatte ihr älterer Bruder Theo den Franzosen versteckt und verpflegt. Kurz vor Ende des Krieges waren sie aufgeflogen. Trotz seines Schwures, es nicht zu tun, hatte der Bürgermeister die beiden jungen Männer verraten. Dass er es war, hatte sie erst gut zwölf Jahre später erfahren. Nach zwölf Jahren Ehehölle.

Ihr großer Bruder war für Emma alles gewesen. Nachdem ihre Eltern nicht mehr lebten, hatte er für seine kleine Schwester gesorgt.

Sie sah Theos hagere Gestalt in seinem Atelier vor der Staffelei stehen. Den Pinsel wie einen Taktstock in den schlanken Händen. Er dirigierte die Farben auf die Leinwand.

Immer wieder hatte er sie gemalt. Sie war sein Modell gewesen.

Sie blickte auf, als sie den Doktor kommen hörte. »Ich fürchte, Emma, nur mit Kräutern kommen wir hier nicht weiter. Ich werde ein paar Medikamente aufschreiben. Ich lasse sie dir schicken.«

Er sah sie an. »Im Zimmer deiner Enkelin hängt ein zauberhaftes Mädchenbild.«

»Ich weiß, eines der vielen Bilder, die mein Bruder von mir gemalt hat.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, es zu verkaufen?«

»Nein, Thomas.«

»Falls du je darüber nachdenkst, Emma, denk an mich.« Er zog sich seine Jacke über.

»Du kannst deiner Enkelin mit deinen Hexenkünsten die Schmerzen erleichtern. Aber das Heilen überlässt du diesmal mir.«

Er umarmte sie kurz. »Ich komme morgen wieder.«

Emma hörte die Haustür zufallen.

Floria fühlte sich immer noch zerschlagen und müde. Sie war mager geworden. Der Doktor kam jeden Tag. Er konnte sich nicht erklären, warum seine Patientin sich nicht erholte.

»Gibt es etwas, was Sie bedrückt?«

»Ich fühle mich schon viel besser, Doktor.«

Thomas glaubte ihr kein Wort. Sie machte einen depressiven Eindruck.

»Wenn Sie reden wollen …«

Floria schloss die Augen und wandte den Kopf ab. »Danke, Doktor.«

 

Als er ihr Zimmer verließ, fiel sein Blick wieder auf das Portrait. Ein junges Mädchen oder schon eine junge Frau im Halbprofil. Er sah noch einmal zurück zu Floria und erkannte nicht zum ersten Mal die Ähnlichkeit zwischen Emma und ihrer Enkelin.

Emma saß am Küchentisch. Darauf ausgebreitet lagen farbige Gartenkataloge, die sie konzentriert studierte. Als Thomas die Küche betrat, nahm sie die Brille von der Nase und legte ein großes rundes Vergrößerungsglas zur Seite.

»Ich mach mir Sorgen um deine Enkelin. Mir scheint, sie will nicht gesund werden.«

Er nahm den Kaffee, den Emma ihm reichte.

»Danke.«

»Aber das Fieber ist runter?«

»Ja. Eben deswegen verstehe ich ihre Apathie nicht. Sie könnte wieder für ein paar Stunden aufstehen. Sie schläft zu viel.«

»Ich weiß«, sagte Emma. »Aber ich habe keine Ahnung, wie ich daran etwas ändern kann.«

»Gibt es etwas, das ich wissen müsste?«

Emma zögerte. Sollte sie über etwas reden, worüber Floria sich weigerte zu sprechen?

»Keine Antwort ist auch eine.«

»Thomas, du musst verstehen, dass ich nicht …«

»Emma, ich verstehe. Ich werde versuchen, sie zum Reden zu bringen. Mach dir keine Gedanken.«