Obscuritas

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Obscuritas

Ulrike Minge

Copyright: © 2015 Ulrike Minge

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-3301-0

Vorwort

Wie dieses Buch mit seinen Geistern entstand, ist eigentlich nebensächlich.

Nur so viel ist zu berichten, dass es nichts mit Mardern, dunklen Metropolen, kleinen Kratzen und wertvollen Schätzen zu tun hat. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, sind Bücher, die man in den Händen halten kann, um mit ihnen eine fantastische Reise zu unternehmen, auch Schätze.

Kapitel 1
MARGRET CHOCLAIR

Es gab eine Zeit.

Eine Zeit, in der das Sonnenlicht ganz von der Erde verschwunden war und diese ohne Erbarmen von Finsternis und undurchdringlicher Dunkelheit heimgesucht wurde.

Die Kerze, die auf dem kleinen hölzernen Tisch stand, begann wild mit ihrer Flamme zu flackern, als Margret den Fensterladen öffnete. Ein eisiger Luftzug pfiff in das Zimmer und die Eiseskälte schlüpfte bis in die hinterste Ecke des Raumes. Ein flüchtiger, aber dennoch ungebetener Gast.

Hinter der Dachluke und allen anderen Fenstern herrschte schon seit scheinbar endloser Ewigkeit die Dunkelheit. Sie hatte sich dort draußen ein dichtes Nest gebaut, um sich auf alles zu setzen, wie eine Glucke auf ihre Eier. Margret hatte es nie anders kennen gelernt, noch nie hatte sie Tageslicht gesehen.

Jetzt stand sie hinter dem Fenster und wollte eine oder zwei der weißen Flocken, die vom Himmel fielen in ihr Zimmer locken, das ganz oben unter dem alten knarrenden Dach lag.

Sie mochte die flüchtigen Kristalle, denn wenn sie genau hinhörte und eine Flocke an ihrem Ohr vorbeischwebte, glaubte sie ein leises Wispern zu hören. So, als erzählten sie ihr von unbekannten Geheimnissen aus fernen Welten. Die weißen Sterne schwärmten von Himmelsgeistern, mit denen sie gespielt hatten, von hohen Bergen und bezaubernden Landschaften, über die sie geflogen waren, bevor sie in diese Welt hineinfielen und hinab zur Erde trudelten. Manchmal flüsterten sie von der Königin des Schnees, von der sie über die ganze Welt verteilt worden waren.

Wenn die leichten Daunen dann gen Erdboden schwebten oder von den Launen des pustenden Windes hin und her geschaukelt wurden, saß Margret, wie so oft, vor einem großen Fenster und schaute hinaus in das Treiben.

Seicht und ganz leise setzte sich der Schnee auf das Fensterbrett. Jene Flocken, die nicht so viel Glück hatten, landeten auf dem Fensterglas und verloren von einem Moment auf den anderen ihre bezaubernde Schönheit, geschmolzen zu einer kleinen glitzernden Perle, die bald zu Eis wurde.

Diesmal trudelten so viele von ihnen durch die Luft, dass sich eine dünne, flaumige Schicht auf allem bildete, was nicht rechtzeitig den Weg in das Innere des wohlig warmen Hauses fand. Drinnen brannte immer ein knisterndes Kaminfeuer, das mit seinen orange-gelben Flammen in den Schacht hinein züngelte.

Margret schickte in ihren Gedanken einen Gruß an die Königin des Schnees, die ihr diesen bezaubernden Anblick beschert hatte.

Die flaumige Schicht ließ die ewig herrschende Nacht ein wenig heller erscheinen, als würde ein fremdartiges Glühen von ihr ausgehen, aber Margret wusste, dass es eigentlich nur die Reflektionen der alten Laternen war, die an der Fassade des ehrwürdigen Hauses leuchteten.

Ihr bronzenes Gehäuse hatte eine grüne Patina durch die Witterung angesetzt. Die gläsernen Scheiben der Laternen zeigten sich von ihrer schönsten Seite, besetzt mit kristallenen Eisblumen.

Sie begannen immer zur selben Zeit zu leuchten, um die neue Nachtgleiche zu begrüßen und erloschen wieder, wenn ihre Zeit gekommen war. Zuerst ähnelten sie nur kleinen Glühwürmchen, die in einem Glaskasten vor sich hin flirrten und glimmten, bis ein kräftiger Leuchtkegel von ihnen ausging. Die Laternen bestimmten nun den Verlauf des Lebens. Seitdem die ewige Dunkelheit herrschte, gab es keinen Tag mehr, sondern nur noch die Nachtgleiche.

Margret liebte ihr kleines Refugium, das sie seit ihrem dreizehnten Geburtstag bewohnte, als sie aus der ersten Etage bis unters Dach ziehen durfte.

Ihr großes Bett aus altem, dunklem Holz mit ornamentalen Schnitzereien und verzierten Kugeln an den Bettecken liebte sie am meisten, weswegen es auch den schönsten Platz in diesem Zimmer am Fenster bekommen hatte.

In schlaflosen Zeiten legte sie sich die Kissen so unter den Kopf, dass sie hinauf in die Dunkelheit schauen und ihre Gedanken zu den kleinen funkelnden Lichtern am stets verdunkelten Himmel schweifen lassen konnte.

Neben dem Bett stand ein kleiner Nachtschrank, in dem sie immer ein Buch und andere persönliche Dinge, die ihr lieb und teuer waren, verwahrte. Daneben füllten ein Schreibtisch, ein massiver Kleiderschrank und ein mannshohes Bücherregal mit ihren Lieblingsromanen das Zimmer.

Margret verkroch sich schon als kleines Mädchen gern hinter vollgeschriebenen Bücherseiten und liebte es, immer eines von den Exemplaren, die sie schon gelesen hatte, in ihrem Regal stehen zu haben. Manchmal stand sie gedankenverloren vor ihrer ansehnlichen Sammlung, strich über die samtenen Buchrücken und dachte an all die entlockten Geschichten.

Mit jedem von ihnen teilte sie sich ein Geheimnis.

In ihrem Lieblingsbuch, von einem zu Weilen melancholischen Poeten verfasst, stand ein Vers, den sie immer im Kopf hatte, egal wie sehr sie sich auch manchmal wünschte, in die Welt aus schwarzer Tinte und weißen Papier hineinzuschlüpfen:

Bücher sind die Welt, in der wir niemals die Chance haben, leben zu können! Was gut ist, denn sie zeigen einem nicht immer die Wahrheit. Denn hinter jeder phantastischen Geschichte lauert immer die Realität mit gebleckten Zähnen, bereit zum Sprung.“

Wenn sie vor ihrer Bücherwand stand, beschlich sie der Gedanke ebenfalls ein Geheimnis zu sein. Sie war eine Hybride, ein Bruch des Gesetzes, das nicht hätte existieren dürfen.

Ihre Mutter Elisa stammte aus einer Stadt in der Nähe dieses Hauses, doch ihre Vater Arthur war ein Choclair.

Er entstammte der purpurnen Blutlinie der Caesarier, Königswesen, die vor Jahrhunderten auserwählt wurden, das Gleichgewicht der Erde zu wahren. Er war gezeichnet mit einem zarten blassblauen Ornament hinter seinem rechten Ohr, das jedoch nur dann zu sehen war, wenn eine seiner lockigen Haarsträhnen nach hinten geschoben wurde.

Seit jeher war eine derartige Beziehung verboten. Jahrhundertelang brannte schon ein abgrundtiefer Hass zwischen Menschen und Caesariern. Doch nichts tarnte diese Liebe besser, als die unerbittliche Dunkelheit.

Margret bedauerte es, nicht wie ihr Vater zu sein: caesarisch. Früher, als sie noch klein war, stand sie oft vor einem der großen Spiegel in den langen Gängen des Anwesens und versuchte den Hauch feiner blauer Linien hinter ihrem Ohr zu erkennen.

Aber es war nichts zu sehen, nur die runde Vollkommenheit einer Ohrmuschel und dahinter rosafarbene zarte Haut.

Noch nie hatte sie ihre Großeltern kennen gelernt. Elisa, eigentlich Elisabeth hieß, und Arthur sprachen nie über sie.

Das Einzige, worüber ihre Mutter von früher sprach, war die goldgelbe Kugel, die jeden Morgen über den Himmel wanderte und Wärme spendend die Erde erhellte.

Sie erzählte auch von einer weißen Kugel, die zu jener Zeit mit den Sternen zog und zeichnete mit ihren Worten ein Gesicht von einem Mann, der auf der weißen Kugel, die sie Mond nannte, wohnte.

Der Mond soll seine Form von einer Sichel, in eine runde Kugel und wieder zurück gewandelt haben, bis einige Nächte nichts mehr von ihm zu sehen war. Elisa erzählte ihr, dass er in dieser Zeit fortreiste in andere bezaubernde Welten, doch etwas schien ihn immer wieder hierher zurückgezogen zu haben.

Elisa konnte immer so gut Geschichten erzählen, dass Margret direkt in sie hineintauchte.

Kapitel 2
DAMALS

Das erhabene Anwesen, das inmitten eines verwunschenen Gartens mit Ranken und Sträuchern lag, war ein paar Minuten von einer verschlafenen Stadt entfernt. In dieser Stadt floss ein anderes Leben auf den Straßen dahin, seit die Dunkelheit herrschte. Huschend und geduckt gingen die Bewohner durch die Straßen.

Margret vermutete, dass ihr Vater das Anwesen von seinen Eltern vor einiger Zeit geerbt hatte.

Von Zeit zu Zeit erzählte er, dass er damals unzählige prunkvolle Feste und Maskenbälle mit festlichsten ausladenden Kleidern und venezianischen Masken gegeben hatte.

Kostüme mit schwarzen langen Schnäbeln und traurigen Augen versammelten sich in dem großen Saal.

Zu den Empfängen war nur Caesarier geladen, um bis in die Morgenstunden zu tanzen und edle Getränke aus kristallenen Gläsern zu trinken. Damals, vor zwanzig Jahren, als noch Sonnenlicht die Erde erhellte.

Eines Tages schlenderte Arthur in dem kleinen Städtchen umher, auf der Suche nach einem neuem Buch für geistige Zerstreuung. In einer antiken Buchhandlung stieß er beinahe mit einem jungem Mädchen zusammen, das schüchtern durch die Reihen schlich, einen ganzen Stapel Bücher mit sich herumtragend. Diese Begegnung sollte alles ändern. Er war es gewohnt von schönen Musen umringt zu sein, die nach seiner Aufmerksamkeit gierten. Alle himmelten den Erben der mächtigsten Choclair-Familie an, wie einen jungen, strahlenden Gott. Doch dieses Mädchen hob nicht einmal den Blick, sondern huschte wortlos an ihm vorbei, anstatt standesgemäß einen Gruß an ihn zu richten. In dieser Stadt genoss er das höchste Ansehen aufgrund seines Standes. Politische Schnippchen und Kabalen interessierten ihn nicht, sodass er gleich, nachdem er das Anwesen bezogen hatte, einen Vertreter eingesetzt hatte, um die städtischen Angelegenheiten zu klären, denen er verpflichtet war.

 

Den langen Zwist zwischen Menschen und Caesariern hatte er nie verstanden, seit ihn damals sein Privatlehrer in den geschichtlichen Gegebenheiten und angemessenem Verhalten unterrichtet hatte.

Er genoss sein Leben in vollen Zügen.

Aus seinem Spiegelbild schaute ihm ein gut aussehender, eleganter, junger Mann entgegen. Tiefblaue Augen schauten wachsam auf die Welt, weiche rosafarbene Lippen formten ein atemberaubendes Lächeln. So, wie dieses Mädchen ihm gegenüber getreten war, hatte es sich bis jetzt keine zuvor getraut. Dies war es, was sein Interesse weckte. Aber sie war so schnell aus dem Laden geflohen, dass er kein ihr ein Wort hinterherrufen oder sie gar nach ihrem Namen fragen konnte. Irritiert von seinen Gefühlen lief er zurück durch den Park zu seinem Anwesen, vor dem schon sein vertrauter Butler Albert stand und auf ihn mit dem Tee wartete. Abwesend griff er nach dem Teeglas, in dem die Pfefferminzblätter schwammen und ging in das Innere des Hauses, um das nächste Fest ins Leben zu rufen und seine Gedanken zu zerstreuen.

Einige Wochen vergingen und alles schien vergessen, was ihn in dem antiken Buchladen gepackt hatte, als er in dem Laden wieder dem Mädchen gegenüberstand, das ihn diesmal mit großen Augen musterte.

Elisabeth wusste um die Geschichten Arthurs, die von den Mädchen herumerzählt wurden. Es ging um geheimnisvolle Feste, die ein junges Mädchen erröten ließen.

Doch auch Elisa war die letzte Begegnung nicht aus dem Kopf gegangen, bei der sie ihn aus einem Versteck in einer Seitenstraße beobachtet hatte, als er aus dem Laden gestürmt kam. Nach rechts und links hatte er hektisch seine Blicke geschwenkt, um sie vielleicht noch zu entdecken. Selbst wenn sie es gewollt hätte, aber auf eine solche Beziehung zu einem Caesarier stand die Todesstrafe.

Wie durch eine unbekannte Kraft gedrängt, gab Elisa ihren Gefühlen nach. Sie versuchte sich einzureden, dass es nur eine kleine Liaison sei, die nur des Nachts zum Leben erwachte und mit den ersten Sonnenstrahlen wieder endete. Heimlich schlich sie jeden Morgen durch den bewachsenen Garten, im Schutz der vielen Sträucher und Bäume nach Hause, um dort in einem anderen Leben den Alltag zu durchleben, immer darauf wartend, dass sich die Dämmerung wieder auf den Landstrich legte.

Nach einiger Zeit wagte Elisabeth sich unter die Ballgesellschaften zu mischen, in den schönsten Kleidern, die ihr Arthur von seinem Hauspersonal auf den Leib schneidern ließ. Die Zeit verging und zwischen beiden begannen Liebe und Leidenschaft zu wachsen, bis sie merkten, dass es nicht mehr nur eine Liaison war.

Auch wenn die plötzliche Dunkelheit des Himmels an einem sonnigen Vormittag im Mai das Schlimmste für alle Lebewesen war, so wussten Arthur und Elisa, dass ihre einzige Chance gekommen war, zusammenleben zu können. Denn nicht nur Elisa kam nie wieder nach Hause, als sich der Schatten auf die Welt gelegt hatte, sondern auch viele andere junge Mädchen fanden nie wieder ihren Weg nach Hause. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt und selbst kleine Gruppen, die in der ersten Verwirrung gebildet wurden und nach den Verschwundenen suchten, brachten keinen Erfolg. Es war schwer für Elisa, ihre Mutter und ihren Vater zu verlassen und sie in dem Glauben zurückzulassen, dass ihr die furchtbarsten Dinge geschehen waren. Sie sah, wenn sie sich im Schutz der Dunkelheit in die Stadt stahl, wie sich graue Ringe unter den Augen ihrer Mutter bildeten, bis sie es nicht mehr aushielt und ihr einen kleinen, gefalteten Zettel zukommen ließ und ihr versicherte glücklich und gesund zu sein.

Es vergingen die Monate und niemand konnte das Mysterium um die Dunkelheit lüften. Vielen selbsternannten und studierten Forschern, Alchimisten, Beschwörern oder Rittern gelang es nicht das Sonnenlicht oder die Mädchen in diese Welt zurückzubringen. Die Monate vergingen und Elisabeth und Arthur führten ein glückliches, aber ungewisses Leben in der Angst entdeckt zu werden.

Als sich das dritte Jahr dem Ende neigte, begann der flache Bauch der schönen Elisa zu wölben und zu wachsen.

Neun Monate später, in die Dunkelheit hinein, wurde die kleine Margret geboren, während weiße Schneeflocken gegen die Scheiben rieselten.

Kapitel 3
HUBERTUS VON MARBIUS

Es war ein Tag, an dem nichts Aufregendes geschah. Es fand kein Unterricht bei Master Crispin, dem Privatlehrer von Margret, statt.

Er hatte sich kurzfristig unpässlich gemeldet.

Er war ein sehr pedantischer Lehrmeister, immer korrekt und nie nachgiebig, wenn Margret eine Möglichkeit suchte, aus dem Unterricht früher, als es der tägliche Stundenplan zuließ, zu entkommen.

Sie wurde auf Wunsch ihrer Eltern, in caesarischen Fächern, der Sprache und Geschichte des großen Geschlechtes, unterrichtet. Master Crispin war ein Freund der Familie, sodass auch er, ebenso wie der Butler Albert, zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet war.

Margret liebte vielmehr die Rolle einer mutigen Entdeckerin, die im Schein einer Kerze durch die Hallen des Hauses streifte. Die Kerze warf dabei geheimnisvolle Schatten auf die Wände. Damals als sie noch klein war, genügte es ihr, die Parterre und die erste Etage zu erforschen. Sie mochte die großen schweren Türen, hinter denen sie sich gefährliche Abenteuer vorstellte, die es zu meistern galt. Besonders, wenn sie eines der dunklen Zimmer betrat und sie mit einem leisen Knarren des Pakets begrüßt wurde.

An vielen Wänden hingen Gemälde, goldgerahmt, von edel gekleideten Caesariern, mal mit einem tierischen Begleiter, mal auf einen Stock gestützt oder in einem Ohrensessel sitzend. Vorfahren aus mehreren Jahrhunderten waren auf den Portraits verewigt worden, alle aus dem Familienstamm der Choclairs.

Sie ließ sich vor einem der Bilder nieder und bewunderte ihr majestätisches Auftreten, wie sie Macht und Erhabenheit durch ihre Augen versprühen konnten, sodass sich in Margret ein eigenartiges Gefühl regte. Auf vielen anderen Bildern waren wunderbar verträumte Landschaften zu sehen, die Margret zu gern besucht hätte. Viele dieser Szenerien wisperten von geheimnisvollen Abenteuern und schienen sie regelrecht verführen zu wollen, mit hineinzuspringen und auf den Flügeln der Geschichte zu entgleiten.

Mittlerweile war sie während ihrer Streifzüge bis unter das Dach vorgedungen, jenseits ihres eigenen kleinen Refugiums.

Ihr gefielen die verstaubten Kartons, in denen ausrangierte Gegenstände und alte Bücher lagerten, die keinen Platz in der Bibliothek des Westflügels gefunden hatten. Wenn sie einen Deckel hochhob und den Staub wegpustete, stoben kleine Wirbel durch die Luft. Ihr stieg der Geruch von altem Leder und vergilbten Seiten in die Nase, die nur allzu willig waren, die Geschichten preiszugeben, die sie schon seit Jahren zwischen den Buchdeckeln sicher aufbewahrt hatten.

Manche von den Folianten fielen bereits auseinander, wenn sie nur versuchte sie aus einer Kiste herauszuheben. Andere wiederum zeugten von Besuchern, die nicht allzu sorgsam mit ihnen umgegangen waren. Sie fand Spuren von Bücherwürmern, die ihre gelblichen Vorderzähne in die Seiten und den Einband gestoßen hatten. Einige der Folianten schienen so begehrt, dass sie halb aufgefressen waren.

Doch heute wollte Margret sich weiter vorwagen, wollte mehr über das Herz des Gemäuers kennen lernen.

Sie schaute sich kurz um, doch wie üblich war ihr Vater zu dieser Zeit in seinem Arbeitszimmer zu finden und ihre Mutter in der Bibliothek des Westflügels oder in der Küche.

Für Margret gab es also keinen Grund, ihren Streifzug ins Unbekannte nicht sofort zu starten.

Eigentlich war es ihr verboten in die Katakomben des Gebäudes zu gehen. Schon früher hatte sie ihren Vater Arthur darum angefleht, sie einmal die Treppe hinunterschleichen zu lassen, doch jedes Mal, wenn sie es wagte zu fragen, wurde er ungehalten und versperrte die Tür.

Nach ein paar Minuten kam er dann in ihr Zimmer, während sie auf der Bettkante saß und mit den Beinen baumelte, um sich zu entschuldigen und ihr nur seine Sorgen zu gestehen. Als Margret klein war reichte ihr eine solche Begründung aus, denn in ihren Träumen malte sie sich die schlimmsten Kreaturen aus. Doch jetzt war sie älter und machte sich keine Gedanken mehr um diese Gestalten, die sie früher als kleines Mädchen in ihre Träume verfolgt hatten.

Zu Margrets Glück war heute die Tür in Katakomben nicht verschlossen. Alle Möglichkeiten standen ihr offen.

Die massive hölzerne Tür mit dem schweren geschmiedeten Schloss knarrte bedrohlich in ihren Angeln, als Margret sie mit Mühe einen Spalt breit öffnete. Gerade so viel, dass sie unbemerkt hineinschlüpfen konnte.

Verstohlen ließ sie noch einmal einen Blick durch den Raum schweifen, um zu prüfen dass sie auch keiner bei ihrem Vorhaben erwischte. Sie hatte zwei Stunden, sich hinunterzuschleichen, sich umzuschauen und wieder heraufzukommen, als wäre nichts gewesen. So, als hätte sie sich, wie sie es gesagt hatte, in ihr Zimmer zurückgezogen, um dort vertieft in ein spannendes Buch den ausgefallenen Unterricht zu nutzen.

Sie zündete sich eine Kerze an, die auf einem Tisch neben der Tür stand, konnte jedoch nicht das Ende des Tunnels sehen, sondern nur einen schwarzen Rachen, der sie angähnte.

Schon nach kurzer Zeit stand sie vor einer steinernen gewundenen Treppe, die sich hinunter gen Erdmittelpunkt wand.

Sie konzentrierte sich auf die ausgetretenen Stufen, um nicht hinabzustürzen und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

Ewig erschien ihr der Abstieg, bis sich das Ende im Kerzenlicht abzeichnete. Je weiter sie ging, desto kälter wurde es. Sie ärgerte sich, keine Jacke mitgenommen zu haben, doch sie hatte nicht damit gerechnet, soweit ins Innere der Erde einzudringen.

Oben im Haus war es immer angenehm warm, nur wenn man einen Fuß ins Freie setzte, war es wichtig, sich einzumummeln.

„Wie konnte ich nur so unvorbereitet aufbrechen?“, sagte Margret im Flüsterton zu sich selbst. Wenn dies eine ihrer Helden und Heldinnen getan hätte, hätten sie dies bei den fürchterlichen Gefahren mit ihrem Leben bezahlt.

Margret zog die Arme um den Körper, soweit es die brennende Kerze zuließ und rief sich in Erinnerung, dass sie nicht mit einem Seil in eine Schlucht hinabgestiegen war, auf der Suche nach einer seltenen Fledermausart, die eine besondere Vorliebe für süßes Blut hatte und in solchen Höhlen lebte, sondern nur in den sicheren Katakomben des Hauses umherschlich. Auf einem Streifzug, der nur die Entdeckung unzähliger Wollmäuse zur Folge hatte. Wenn sie an ihnen vorbeiging, flüchteten sie in die Ecken. Die Wand, an der Margret mit ihrer Hand entlang streifte, bestand derweil aus massiven Steinquadern, die schon vor langer Zeit ihren Platz hier unten gefunden hatten. Auch der Fußboden bestand aus schweren Steinplatten, die bereits an einigen Stellen gerissen waren. Schließlich endete der Gang und Margret stand in einem kleinen Raum. In ihrer Vorstellung war dies hier immer ein riesiger Saal, der sich unter dem gesamten Anwesen erstreckte. Aber allein der Weg hier herunter war spannender gewesen, als der Ort an dem sie jetzt stand. Sie schlich durch die vergessenen Schätze die alle ihre letzte Ruhestätte in diesem Kellerreich gefunden hatten. Manche Dinge kannte sie, andere wiederum nicht. Doch sie erinnerte sich, dass es damals aufregender gewesen war, das Dachgeschoss zu erkunden.

Margret wünschte sich eine der riesigen Laternen von draußen hier herein. Mit ihrer Leuchtkraft würde sie mehr erkennen können, als nur mit dieser Kerze, die sie dabei hatte. Gerade als sie enttäuscht auf dem Absatz umdrehen wollte, ließ ein Windhauch die orangerote Zunge erzittern. Margret glaubte ihn auch verspürt zu haben, doch wahrscheinlich kam dieser von der offen stehenden Tür am Ausgang zum Flur. Da hörte sie ein leises Knistern, kaum von ihren Ohren wahrzunehmen. Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. Doch dann noch einmal, ein Knistern von Papier.

Ein Schaben auf dem Steinboden.

Margret runzelte die Stirn, vermochte jedoch keinen Laut von sich zu geben und drehte sich dem Raum wieder zu. Langsam hob sie die Kerze, sodass der Raum ein wenig mehr erhellt wurde und geheimnisvolle Schatten flackerten.

„Ist da jemand?“, rief Margret zu laut, sodass sie vor ihrem eigenen Echo zusammenfuhr.

„Hallo? Ist da irgendjemand?“, versuchte sie es erneut.

Doch nichts.

Einsame Stille, so wie sie gedämpft bis unter die Decke reichte. Sie wollte sich gerade dem Ausgang erneut zudrehen, da hörte sie ein leises zirpendes Geräusch. Es kam von einem Stapel Kartons, die sich rechts vor ihr auftürmten. Als sie die Kerzenflamme in die Ecke hielt, entdeckte sie die Quelle des Geräusches.

 

Es war ein Käfer, gerade so groß wie ein Teelicht, aber in einem so wunderschönen schimmernden Maigrün, wie sie es nur in den Gemälden im ersten Stock gesehen hatte. Ihr pochendes Herz beruhigte sich schnell wieder.

„Du bist ja ein hübsches Exemplar“, flüsterte Margret und ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. Die glitzernden Farben faszinierten sie. Margret streckte vorsichtig ihre Hand aus, um ihn auf ihren Finger zu locken.

„Was heißt denn ‚hübsches Exemplar‘?“, kam es von dem Käfer. Margrets Augen wurden groß und sie zog voller Schreck ihre Hand zurück.

„Das kann nicht sein“, raunte sie, doch der Käfer ignorierte ihre Reaktion.

„Habt ihr noch nie von den Smaragdkäferlingern gehört? Wir sind ähnlich den Königswesen und nur sie können unsere Klänge, unsere Sprache verstehen.“

Margret wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, sie hatte sich immer erträumt, solch ein geheimes Wesen aus Geschichten kennen zu lernen, doch jetzt, wo sie sich einem dieser Geschöpfe gegenüber sah, wusste sie sich nicht, was sie sagen sollte.

„Ich bin Margret und wohne hier mit meinen Eltern in diesem Anwesen. Ich bin keine aus der Blutlinie der Caesarier, bei meinem Vater reißt diese ab. Ich habe kein reines Blut!“, versuchte Margret ihre Überraschung zu überspielen.

„Das ist wahrhaft rätselhaft“, antwortete der Käfer, „denn nur reines Blut ist dazu befähigt. Doch dies soll vorerst nicht unser Rätsel sein. Mein Name ist Hubertus, Hubertus von Marbius. Ich bin Begleiter des Prinzen von Hartolius. Haben Sie schon jemals von dem Königspaar Hartolius und ihrem Prinzen gehört?“

„Nein“, antwortete Margret, mehr konnte sie nicht hervorbringen. Die Situation war zu grotesk.

Während der geheimnisvolle grüne Käfer sprach und Zirplaute von sich gab, wippten seine zwei dünnen Fühler auf und ab.

An den Spitzen dieser, saß je eine leuchtende Perle. Sie änderten ihre Farben wie die des Regenbogens.

„Es ist sehr schön, Sie kennen zu lernen, Miss Margret, und ebenso ein Wunder, Sie hier anzutreffen. Ich überlege seit langem, wie ich mit Ihnen Kontakt aufnehmen könnte. Doch auch wenn diese Aufgabe gemeistert wurde, noch ist die Zeit nicht reif, Sie in unser Vorhaben einzuweihen“, antwortete Hubertus.

Margret fiel es schwer, dem Ganzen zu folgen.

„Versprechen Sie mir, Miss Margret, dass wir uns hier noch einmal wiedersehen, sodass ich Sie dann in unseren Plan einweisen kann. Kommen Sie in drei Tagen zur frühen Nachmittagsstunde wieder hier hinunter in die Katakomben! Ich bitte Sie im Namen aller, deren Schicksal auf dem Spiel steht“, sprach er und drehte sich hektisch zur Steinwand um, durch die er im Bruchteil einer Sekunde entschwand.

Margret stand verwirrt in dem kalten Raum und achtete auf das kleinste Geräusch. Doch es herrschte Totenstille.

Über dieses ungewöhnliche Gespräch hatte sie die Zeit vollkommen vergessen. Sie rannte mit der Kerze in der Hand, deren Flamme zu erlöschen drohte, die Treppe hinauf, sich einredend einer Sinnestäuschung erlegen zu sein.

Oben angekommen zeugte jedoch nichts von ihrer unerlaubten Abwesenheit. Sie zog sich unbemerkt in ihr wohlig warmes Dachzimmer zurück, das ihr wie eine paradiesische Insel vorkam, nachdem sie das feuchte Gewölbe verlassen hatte. Sie setzte sich auf das Bett, das ein leises Knarren von sich gab und zwang sich tief durchzuatmen.

Dies war eines ihrer Rituale, was sie immer dann anwandte, wenn eine Geschichte in ihren Büchern zu nervenaufreibend war. Danach schien ihr alles leichter zu fallen.

Als Margret jedoch den letzten Atemzug getan hatte, löste sich ihre Anspannung nicht. Ihre Muskeln zitterten vom Rennen und in ihrem Kopf war immer noch die Erinnerung an den grünen Käfer, der sich ihr in dem Gewölbe im Kerzenlicht vorgestellt hatte und sie bat, in drei Tagen ein weiteres Mal hinabzusteigen. „Das kann doch nicht sein, ich muss geträumt haben“, murmelte Margret vor sich hin und strich mit den Fingern über die Stirn. „Du wirst verrückt, liest zu viele Bücher und kannst die Realität nicht mehr von der Phantasie unterscheiden!“

Mit diesen Worten schüttelte Margret heftig ihren Kopf, sodass ihre Haare herumflogen, als versuchte sie die Erinnerung so aus ihrem Gedanken zu vertreiben.