Veyron Swift und der Schattenkönig

Text
From the series: Veyron Swift #3
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Nun fiel auch Toink stöhnend aus dem Sattel, schlug auf den Planken auf und würgte einige Male deutlich hörbar.

Floyd warf seinem Chefmechaniker einen angewiderten Blick zu. »Also, das ist ziemlich widerlich! Toink, schäm dich was! Verhält sich so ein ausgewachsener Zwerg, der Gorgonen, Kobolden, Schraten und Monsterpanzern gegenüberstand?«

»Wahnsinn, echter Wahnsinn«, rief Tom begeistert und umrundete die Giganthornisse einmal, ehe er vor Floyd stehen blieb und dem König Talassairs die Hand schüttelte. »Wo haben Sie denn eine Giganthornisse her?«

Der König fuhr herum. »Tolle Sache, was? Eine Leihgabe der Simanui, von Großmeister Taracil persönlich. Als Dank für unser Engagement gegen das Piratenvolk. Außerdem habe ich um einen Flug mit diesem Tier gebeten. Ich war ja damals schon richtig neidisch auf dich und Veyron. Drum wollte ich die Gelegenheit beim Schopf packen. Taracil ist ein wirklich netter Mensch«, plapperte Floyd drauflos, noch immer sichtlich vom Adrenalin berauscht.

»Dieser Großmeister hat wohl eher gehofft, dass wir uns dabei den Hals brechen!«, schimpfte Toink hinter dem König. Der rotbärtige Zwerg hatte sich wieder aufgerafft und strich sich über seinen Bart und den grauen Mechanikerkittel. Auf seinem Rücken trug er ein portables Funkgerät, von dem er sich jetzt ächzend befreite.

»Nicht auszuschließen«, stimmte Veyron dem Zwerg zu.

Tom erinnerte sich sofort wieder daran, wie merkwürdig sich der Großmeister der Simanui während ihres letzten Abenteuers in Elderwelt verhalten hatte. Taracil durfte man nicht einfach vertrauen.

Floyd verdrehte die Augen und winkte ab. »Ach was! Ist doch gleichgültig. Was für ein rasanter Ritt! Das will ich unbedingt bald wieder machen. Außerdem konnte ich auf diese Weise schneller hierher zurückkehren. Captain, was machen die Vorbereitungen zum Auslaufen?«

»Die Kessel sind heiß, der Druck stimmt. Wir warten auf Ihren Befehl, um die Leinen zu lösen«, antwortete Haddock.

Floyd rieb sich zufrieden die Hände. »Feine Sache. Sind auch alle an Bord?«

Farin drängt es sich an Haddock und den anderen vorbei, um seinem Herrn zu antworten. »Ja, Sire. Euer Hofstaat ebenso wie die Begleiter, Berater und Unterhändler der Regierung.«

Floyd nickte und warf dann einen nachdenklichen Blick auf Veyron, Danny und Hunter. Erst jetzt schien ihm ihre Anwesenheit wirklich bewusst zu werden. »Moment mal! Veyron, ich hatte dich gar nicht eingeladen. Na so was! Was führt dich also hierher?«

»Eine heikle Mission, mein guter Floyd. Wir sind dabei, das Horn des Triton aufzuspüren, und hoffen, es zu finden, bevor dies dem Schattenkönig gelingt. Farin war so frei, uns diese Reisemöglichkeit anzubieten«, erklärte Veyron.

Floyd grinste breit. »Ein hervorragender Plan, und es klingt auch viel spannender als diese langweilige diplomatische Mission zu den Küstenländern des Binnenmeers. Farin, wir machen die Suche nach dem Horn des Triton sofort zu unserer obersten Priorität! Ach, und wer sind die beiden da?«

»Danny Darrow. Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Ramer. Also, für einen Toten machen Sie einen ziemlich lebendigen Eindruck«, sagte Danny. Er spielte dabei auf den inszenierten Tod Floyds vor zehn Jahren an. Das musste Floyd tun, um hier in Elderwelt den Königsthron zu besteigen. Tom erinnerte sich an die Schlagzeilen von damals: Selbstmord des Ramer-Milliardenerben. Natürlich wusste er schon seit geraumer Zeit um die Wahrheit, aber für Danny und Hunter war das alles neu.

Floyd blickte verunsichert zu Farin, dann brachte er ein leicht verlegenes Lächeln zustande. Er zuckte mit den Schultern. »Tja, so läuft das hier auf Talassair. Tod in Langweilwelt und in Elderwelt quicklebendig. Genau wie mein Palast hier. Und wer sind Sie, meine Dame?«

»Gwen Hunter«, stellte sich die Agentin steif vor.

Floyd nahm ihre Rechte und deutete einen Handkuss an. »Ich bin entzückt, Gwen. Willkommen auf Palast Nr. 4.«

»Sie ist vom MI-6«, fügte Tom an. Das war vielleicht ein wenig gemein, aber er wollte, dass Floyd und die anderen Bescheid wussten, mit wem sie es hier zu tun hatten.

Floyd zeigte jedoch nichts anderes als kindliche Begeisterung. »Das finde ich toll! In welcher Funktion, wenn ich fragen darf? So wie Miss Moneypenny?«

»Könnte ihr durchaus blühen«, konnte Tom sich nicht verkneifen zu sticheln. Es gefiel ihm, wie Hunters Gesichtsfarbe zu Dunkelrot wechselte.

»Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Gwen ist eine sehr fähige Feldagentin und hat uns vor dem Schattenkönig beschützt, Mr. Ramer«, mischte sich Danny ein und schob Tom grob zur Seite.

Floyd hob staunend die Augenbrauen. »Ja, wenn das so ist … Farin? Farin, führe Miss Hunter nach unten in die Schneiderei. Sie braucht dringend etwas Besseres zum Anziehen. So ein langweiliger Büro-Blazer steht Ihnen nicht, Miss Hunter. Wir finden für eine schöne Lady, wie Sie es sind, sicher was Adäquateres. Farin, du kümmerst dich persönlich darum«, sagte er und schnippte ungeduldig mit den Fingern.

Schatzkanzler Farin, zweiter Mann im Staate Talassair, ballte beide Fäuste und raunte: »Verflucht sei dieser Irre!« Doch dann setzte er ein diplomatisches Lächeln auf, verbeugte sich gehorsam, reichte Hunter die Hand und führte sie von den anderen weg.

Floyd klatschte fröhlich in die Hände. »Schön, schön, schön! Alles ist gut. Captain, die Leinen lösen und dann mit Volldampf hinaus aufs Meer. Was ist gleich wieder unser erstes Ziel?«

»Achaion, Majestät.«

»Ah ja, das Land der Dichter und Denker, zumindest war es das früher einmal – bevor das Imperium Maresium das Reich besetzt hat. Also los, gehen wir nach unten und begrüßen erst einmal die anderen Gäste. Ich muss euch unbedingt meinen Hofstaat vorstellen, Veyron, auch wenn er diesmal etwas klein geraten ist. Normalerweise feiern immer so an die eintausend Leute mit mir, aber auf diese Reise wollten mich nur achtzehn meiner Getreuen begleiten. Na ja, besser als nichts. Auf geht’s!«, rief Floyd begeistert und machte sich auf dem Weg ins Innere.

Tom schickte sich eben an, dem König und seiner Entourage zu folgen, als er von Danny festgehalten wurde. Zornig funkelte ihn der junge Mann an. »Mach das nie wieder! Klar, Kleiner?«

»Aber sie …«, protestierte Tom, doch Danny hob mahnend den Zeigefinger.

»Nie wieder, hörst du? Wir sind ein Team, klar? Als Team hält man zusammen, auch wenn man nicht alle Teammitglieder leiden kann. Wir stellen niemanden vor den anderen bloß, klar? So gewinnt man nämlich als Mannschaft kein Spiel. Hast du schon mal im Team gespielt, Tom?«

Tom trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Nein«, musste er zugeben.

Danny nickte langsam. Dann kehrte das Lächeln auf sein Gesicht zurück. Er klopfte Tom auf den Rücken. »Dann solltest du das nachholen, wenn wir wieder zurück sind. Bis dahin folgender Ratschlag: Halt dich einfach mit deinen Weisheiten ein bisschen zurück. Um Agent Hunter kümmere ich mich schon. Du sorgst dafür, dass uns Vampire und Schattenkönige vom Hals bleiben, okay?«

Nun mussten sie sich beeilen, den anderen zu folgen. Als sie die Gruppe um Floyd erreicht hatten, klärte Veyron den König gerade über die wichtigsten Details in Sachen Horn des Triton auf.

Tom ärgerte sich darüber, eben so schnell klein beigegeben zu haben. Danny war dieser listigen Hunter ja voll auf den Leim gegangen. Konnte denn niemand sehen, dass man ihr nicht vertrauen durfte? Dabei war Danny doch selbst schon Opfer ihrer Lügen und Tricks geworden. Vielleicht hat Veyron recht, und die Liebe macht aus den Menschen wirklich Idioten, dachte er finster. Hinter sich hörte er jemanden heranschnaufen. Gleich darauf stellte Toink sich neben ihn und raffte seine Hose. Der Zwerg machte überhaupt unruhig an sich zu schaffen, bis Tom ihn verärgert anfahren wollte.

Da blitzte ein breites Grinsen aus dem roten Bart hervor. »Ich weiß zwar noch nicht genau, um was es bei der ganzen Sache geht, aber wenn Veyron und du hier seid, steht uns gewiss wieder eine Menge Ärger ins Haus. Das wird sicher ein Spaß!« Der Zwerg rieb sich mit grimmiger Begeisterung die Hände.

Tom zuckte nur mit den Schultern und hoffte inständig, dass Toink mit seiner Prophezeiung in Sachen Ärger nicht recht behielt. Mit dem Schattenkönig als Gegner war jedenfalls eines klar: Sie würden schon bald wieder mit ihm rechnen müssen.

5. Kapitel: Eine königliche Kreuzfahrt

Eine halbe Stunde, nachdem das letzte Besatzungsmitglied an Bord gegangen war, legte die RMS Olympic ab. Die Leinen wurden gelöst, und unter dem Jubel des versammelten Volkes zogen die Hafenschlepper das fast dreihundert Meter lange Stahlmonster von der Kaimauer auf den richtigen Kurs, hinaus aus dem Hafen Talassairs. Als sich die drei Schrauben der Olympic aus eigener Kraft zu drehen begannen, wühlten sie den Schlick des Hafenbeckens auf. Obwohl die ans Ufer schwappenden Wellen die Zuschauer mit Gischt besprühten, klatschten und jubelten sie dem riesigen Dampfer hinterher, der sich allmählich von der Küste entfernte. Zum Abschied blies das Schiffshorn dreimal. Tom verspürte ein Prickeln. Die Olympic war unterwegs, zum ersten Mal seit ihrer vermeintlichen Verschrottung in Fernwelt.

Sobald sie auf offener See waren, besichtigten Tom und Veyron ihre Eichenholz getäfelte Erste-Klasse-Suite auf dem C-Deck. Sie bestand aus zwei Schafzimmern mit Bad samt Wanne und Toilette, dazu einem geräumigen Salon mit Sofa und mehreren Sesseln. Von den Decken hingen glitzernde Kronleuchter. Auch wenn Tom natürlich den Film Titanic gesehen hatte, war er von so viel Prunk überwältigt und kam sich selbst schon vor wie ein König. Aufjuchzend warf er sich auf sein Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Mann, ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal in so einem bequemen Bett gelegen habe. Floyds Vorväter haben keine Kosten gescheut«, sagte er und schloss für einen Moment zufrieden die Augen. Endlich wieder Abenteuer – und diesmal auf denkbar komfortabelste Weise.

 

Veyron inspizierte die Suite dagegen mit wissenschaftlicher Genauigkeit und ließ sich dann, sichtlich erschöpft, auf die Couch im Salon sinken.

Tom hatte erwartet, dass sein Patenonkel irgendetwas auf die Aussage ›zum letzten Mal‹ erwidern würde. Veyron war bei Zeitangaben eigentlich immer sehr pedantisch, doch Tom hörte nichts. Rasch stand er auf und ging hinüber in den Salon. Veyron hatte die Augen geschlossen, aber er schlief nicht, das wusste Tom sofort. Jetzt, wo sie für die nächsten paar Tage etwas Ruhe haben würden, war es an der Zeit, einigen Dingen auf den Grund zu gehen. »Darf ich Sie was fragen?«, sagte er und fuhr fort, ohne Veyrons Antwort abzuwarten. »Was hat es mit dem Schattenkönig auf sich? Wann hatten Sie mit ihm zu tun, und was ist damals geschehen? Sie meinten, Sie hätten das letzte Mal gegen ihn verloren. Wie? Was hat er getan?«

Veyron antwortete nicht sofort, sondern atmete erst einmal tief durch, öffnete die Augen und blickte Tom einen Moment lang an. »Das ist jetzt schon ein paar Jahre her. Der Schattenkönig hatte meine Schwäche herausgefunden und sie ausgenutzt.« Sein Tonfall war so lapidar, als hätte Tom gefragt, wer von ihnen zuletzt den Müll herausgebracht hatte. Offenbar wollte er nicht darüber reden, doch Tom hielt es für immens wichtig, mehr zu erfahren.

»Und? Was für eine Schwäche ist das?«

»Das ist unwichtig, mein lieber Tom. Diese Schwäche existiert nicht mehr.«

»Ach so. Warum hatten Sie dann so große Angst, als uns der Schattenkönig in der Ramer-Stiftung aufgelauert hat? Leugnen Sie das nicht! Ich hab es genau gesehen, Sie sind regelrecht erstarrt.«

Veyron musterte Tom mit einem Ausdruck des Erstaunens. Anschließend bemühte er sich um ein unbekümmertes Lächeln. »Das stimmt, das ist mir tatsächlich passiert. Ich hatte meine Emotionen für einen Moment nicht unter Kontrolle. Vermutlich, weil ich nicht damit rechnete, dass uns der Schattenkönig selbst am helllichten Tage nachstellen würde. Es tut mir leid, das war ein unachtsamer Moment. Ich werde es in Zukunft besser kontrollieren«, sagte er.

Tom spürte, dass sein Pate ihm nicht die Wahrheit sagte, und schaute ihn vorwurfsvoll an.

Veyron fing diesen Blick auf und fügte hinzu: »Ich versichere dir, es verläuft alles nach Plan.«

»Was für ein Plan, Veyron? Sie haben ihn immer noch nicht genauer erläutert«, hielt Tom sofort dagegen.

Veyron schaute ein Weilchen an die Decke und schniefte einmal. »Es wäre zu kompliziert, dir alle Zusammenhänge zu erläutern. Tatsache ist zudem, dass ich noch nicht alle Fakten beisammenhabe, um eine abschließende Analyse vorzunehmen«, erklärte er.

Tom nickte und glaubte zu verstehen. »Einfach ausgedrückt: Sie haben gar keinen Plan, zumindest keinen echten. Nicht wahr? So ist es doch. Wir stürzen uns hier ins Abenteuer, und Sie wissen gar nicht, was Sie tun sollen und was auf uns zukommt.«

»Das weiß man prinzipiell eigentlich nie. Letztlich ist jeder Plan immer nur ein Ratespiel«, relativierte Veyron die Angelegenheit mit einer Seelenruhe in der Stimme, die Tom schier wahnsinnig machte.

»Okay. Nur mal so gefragt: Haben Sie überhaupt einen Ansatz, wo wir das Horn des Triton suchen sollen?«

»Nein, nicht den geringsten.«

Tom stieß ein entnervtes Stöhnen aus. »Veyron!«, rief er. »Das ist Irrsinn! Und gar nicht Ihre übliche Vorgehensweise. Normalerweise gehen Sie nicht mal ohne Plan aufs Klo!«

Veyron legte die Fingerspitzen aneinander und dachte einen Moment nach. Zumindest nahm Tom das an, als er die Blicke seines Paten von links nach rechts huschen sah. »Auch das ist eine zutreffende Feststellung. Schön zu sehen, dass du bei klarem Verstand bist. Das ist in deinem Alter nicht immer selbstverständlich. Fakt ist jedoch auch, dass der Schattenkönig kein gewöhnlicher Gegner ist. Er ist ebenso brutal wie gerissen. Ich versichere dir, dass ich durchaus einen Plan verfolge. Jedoch ist er abhängig von Ereignissen, die erst stattfinden müssen, damit er greift. Achaion wird unser erster Ansatz sein«, erklärte er sachlich.

Tom schaute seinen Paten skeptisch an. »Warum gerade Achaion?«

»Was weißt du über dieses Reich?«, wollte Veyron wissen.

Tom lehnte sich zurück und dachte nach. Über Elderwelt wusste er nicht annähernd so viel wie sein Pate, doch ein paar Informationskrumen hatte er während ihrer beiden großen Abenteuer und sonstigen Zusammentreffen mit Bewohnern Elderwelts aufgeschnappt. »Achaion gilt als die Wiege der Kunst und Philosophie, doch es wird seit rund einhundert Jahren vom Imperium Maresium regiert. Zur Zeit des Dunklen Meisters beherrschte Achaion noch das halbe Binnenmeer und führte viele Kriege. Aber das liegt über eintausend Jahre zurück, stimmt’s?«, fasste er sein Wissen zusammen und suchte Veyrons bestätigenden Blick. Der lümmelte nur entspannt auf der Couch und schenkte Tom ein gönnerhaftes Lächeln. »Im Groben zutreffend, Tom. Nur eine entscheidende Information ist dir entgangen: Achaion war zur Zeit des Dunklen Meisters dessen mächtigster Verbündeter. Es war das Reich des Schattenkönigs.«

Tom machte große Augen, was Veyrons Lächeln noch ein wenig breiter werden ließ.

»Ich denke, nun ist dir klar, weswegen ein Besuch in Achaion für uns sehr aufschlussreich sein wird. Jetzt entschuldige mich, ich muss etwas in Erfahrung bringen.« Sagte es und sprang mit einem Satz auf die Füße. Mit fast schon absurd wirkender Fröhlichkeit verließ er die Suite und schlenderte den Korridor in Richtung Treppenhaus.

Tom schaute ihm eine Weile hinterher, dann schloss er die Tür und schlug die Hände vors Gesicht. Das gefiel ihm alles gar nicht. Den Anblick seines verängstigten Paten in den Korridoren der Ramer-Stiftung würde er nicht vergessen. Er ahnte, dass Veyron überhaupt keinen Plan hatte, sondern nur versuchte, seine eigene Schwäche durch zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein zu überspielen. Die Sache mit dem Schattenkönig hatte ihn vollkommen aus der Spur geworfen, das war die Wahrheit. Tom wusste es. Nur das Warum wollte sich ihm nicht erschließen, und Veyron machte daraus obendrein noch ein Geheimnis. Vollkommen überflüssigerweise, wie Tom fand. Es musste mit Veyrons damaliger Niederlage zusammenhängen. Sie schien ihn traumatisiert zu haben, eine andere Erklärung gab es nicht. Aber auf wen sollte sich Tom dann verlassen, wenn nicht auf Veyrons Verstand? Was sollten sie alle nur tun, wenn Veyron Swift nicht mehr in der Lage war, vernünftig zu denken, sondern von seinen Ängsten getrieben wurde? Wie sollten sie alle das nur überstehen? Zum ersten Mal in seinem Leben machte sich Tom ernsthafte Sorgen um Veyron Swift.

Es war bereits weit nach Mittag, als Hunter in die Suite zurückkehrte, die man ihr zugewiesen hatte. Erste Klasse, alles vom Feinsten. Offenbar reisten alle Gäste Erster Klasse, und, soweit sie das in Erfahrung bringen konnte, befanden sich die Suiten alle auf dem B- oder C-Deck. Das ganze A-Deck war nämlich allein für diesen spinnerten Floyd reserviert. Für sie grenzte es an schieren Wahnsinn, einen dermaßen ausgeflippten Tunichtgut als Staatsoberhaupt zu tolerieren. Immerhin schienen die Zwerge rund um Schatzkanzler Farin ihren menschlichen König ganz gut im Griff zu haben.

Ihre Mission dagegen war bis jetzt eine vollkommene Katastrophe. Nicht nur, dass sie dem Horn des Triton noch keinen Schritt nähergekommen waren, nein, ihr blieben obendrein auch noch sämtliche Ausstiegsmöglichkeiten verwehrt. Eine Rückkehr in die Menschenwelt war ausgeschlossen, solange sie auf diesem antiken Ozeandampfer festsaß – aber was für einem! Danny hatte schon recht: Das war ihr Traum, seit sie als junges Mädchen Titanic im Kino gesehen hatte.

Doch selbst wenn sie auf Talassair geblieben wäre, sie bräuchte allem Anschein nach so einen Erlaubnisstein, um die magischen Durchgänge zu passieren. Es würde ihr nicht einmal helfen, den von Tom zu stehlen, weil jeder Erlaubnisstein nur seinem Besitzer diente. So hatte es Farin erklärt. Hinzu kam, dass ihr niemand traute. Swift nicht (dessen geistige Fähigkeiten ihr Angst machten) und sein kleiner Fratz erst recht nicht. Es war ein Fehler gewesen, sich als Ernie Frauds Facebook-Freundin zu outen, das gereichte ihr jetzt zum Nachteil. Eigentlich hatte sie mit der Aktion in der False Lane geplant, Swift und seinen vorlauten Rotzlöffel in der Hand zu haben. Jetzt stand es andersherum. Nicht nur das, Schatzkanzler Farin wusste von Anfang an, dass sie zum MI-6 gehörte. Die misstrauischen Blicke des Zwergs verfolgten sie, hinter ihrem Rücken tuschelte die Besatzung. Farin schien jeden eingeweiht zu haben. Sie war allein auf sich gestellt und fühlte sich vollkommen hilflos.

Aber das war sie ja gewohnt. Ihr ganzes Leben war sie allein gewesen. Mit ihren Eltern hatte sie gebrochen, zu ihren Geschwistern seit Langem keinen richtigen Kontakt mehr. Echte Freunde besaß sie nicht, nur wenige Bekannte, mit denen sie ab und an ausging. Ihre bisherigen Lover hatten sich als wenig vertrauenswürdig erwiesen. Notorische Fremdgeher oder Idioten, die stets nur das Eine wollten. Sie war es gewohnt, Schwierigkeiten oder Probleme mit sich auszumachen. Was sie beruflich tat, musste sie sowieso für sich behalten. Das war auch der beste Weg, denn sie wollte auf keinen Fall durch ein ›Hilfe‹ oder ›Bitte‹ in die Abhängigkeit anderer geraten. Zu oft schon hatte man sie enttäuscht und ihr Herz verletzt. Das würde sie nicht wieder zulassen.

War es da ein Wunder, dass sie in einem Unternehmen arbeitete, dessen Grundprinzipien Misstrauen und Verrat hießen? Mann, was war sie stolz gewesen, als sie eine Einladung zum MI-6 erhalten hatte, so kurz nach ihrem Studium. Die Bezahlung war nicht schlecht, und sie konnte um die ganze Welt reisen. Russland, Afrika, Südamerika – überall war sie schon gewesen, sprach fließend Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch und Deutsch. Nicht zu vergessen eine Ausbildung in Schusswaffen aller Art, im Umgang mit Sprengstoffen, in Nahkampf und allen gängigen Abhörtechniken. Auch Schauspielunterricht gehörte dazu – und vieles mehr. Dies aber war ein Abenteuer, das sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte: Elderwelt! Dorthin war noch kein anderer Agent des MI-6 gelangt.

Was half ihr das?

Gar nichts.

Sie war enttarnt. Eine Gefangene an Bord eines Schiffs voller Feinde.

Außer Danny Darrow.

Seine Zuneigung verwunderte sie. Selbst nach der ganzen Sache in der False Lane zeigte er sich freundlich, er neckte und ärgerte sie, aber nicht boshaft, und schien ihr den Verrat und die Täuschung überhaupt nicht übel zu nehmen. Das fand sie bemerkenswert, aber auch irgendwie störend.

Es pochte an der Tür. Hunter stand auf, atmete tief durch und öffnete. Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie. Da stand, er Danny Darrow, die Stirn in Falten gelegt und sie mit Unschuldsblick anhimmelnd. Auf seinen ausgestreckten Armen präsentierte er ihr einen glänzenden, rot-schwarzen Wasserfall aus Seidensatin, ein so edles Kleid, wie es Hunter noch nie getragen hatte. Es musste ein Vermögen gekostet haben.

»Zimmerservice«, sagte er frech. »Na ja, der ist gerade verschwunden. Ich hab gesehen, wie sich der Steward damit abgeplagt hat, und dachte mir, ich nehm ihm die Last ab. Die armen Kerle werden von Floyd ja genug herumgescheucht.« Er reichte ihr das Kleid. »Ein echter Traum, wenn du mich fragst.«

Sie nahm es ihm ab und bemühte sich, ihre Begeisterung nicht zu zeigen. Offenbar hatte sie das Leuchten ihrer Augen nicht schnell genug gedimmt.

»Schön, es gefällt dir. Ich bin sicher, du wirst eine fantastische Figur darin machen. Nur so als Tipp: Trag dein Haar dazu offen, dann wirst du wie eine wirkliche Prinzessin aussehen«, meinte er breit grinsend.

Hunter erstarrte. »Klar, Sie können das sicher beurteilen mit Ihren mannigfaltigen Erfahrungen, was? Mit wie vielen Prinzessinnen sind Sie denn schon ausgegangen? Jede Nacht eine andere, nehme ich an!«, gab sie zurück.

Danny wirkte für einen Moment verdutzt, dann kratzte er sich verlegen am Hinterkopf. »Na ja, es waren wohl schon ein paar. Aber hey, das hielt alles nicht lange. Und keine von denen besaß ein so fantastisches Kleid.« Er merkte wohl selbst, was für einen Unsinn er daherquatschte, als er die Augen zusammenkniff und abwehrend die Hände hob. »Ich weiß, ich bin blöd.«

 

»Ja, und furchtbar oberflächlich. Wahrscheinlich hielten Ihre Beziehungen deshalb nie sehr lange. Außer flotten Sprüchen und schnellen Autos haben Sie wohl nichts zu bieten, Mr. Darrow.«

Danny lehnte sich gegen den Türrahmen und schaute ihr unverwandt in die Augen. Sie fand es schwierig, diesem Blick lange standzuhalten. Ein wenig wurde ihr heiß.

»Ja, darum bist du auch mit mir ausgegangen, was? Seltsam, ich dachte, du hättest ein wenig Spaß gehabt.«

»Danny, lassen Sie mich das klarstellen: Ich war auf einer Mission und … es ist egal, was da war. Vielleicht war es ein ganz netter Abend, aber da ist sonst nichts. Absolut nichts.«

Danny wölbte die Unterlippe in gespielter Nachdenklichkeit. »Aber du bist mit mir ausgegangen«, beharrte er.

Hunter seufzte. »Danke fürs Vorbeibringen, Mr. Darrow. Wir sehen uns dann zum Dinner?«

»Zu einhundert Prozent!«

Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen. War denn das zu fassen? Dieser Kerl ließ einfach nicht locker! Seltsamerweise gefiel ihr das. Sie mochte es, ihn zu necken, und fand seine Erwiderungen ebenso lustig. Unwillkürlich musste sie lächeln, als sie an seine Unschuldsmiene dachte. Sie hob das Kleid und betrachtete es von Neuem. Vielleicht würde der kommende Abend ja doch ganz amüsant werden.

Mit einundzwanzig Knoten Reisegeschwindigkeit dampfte die RMS Olympic auf geradem Weg nach Osten. Tom wurde es schnell müde, auf die scheinbar unbewegte See hinauszuschauen und regte eine Besichtigungsrunde des Schiffs an, der sich Veyron, Danny und – zu seiner Überraschung – auch Hunter anschlossen. Auf jedem Deck führte sie ein anderes Mitglied der Besatzung herum. Auf dem Maschinendeck war dies Chefingenieur Breki, ein stolzer Zwerg mit langem, schwarzem Bart, den er aus Sicherheitsgründen zu zwei Zöpfen geflochten über den Schultern verknotet trug. Viel zu sehen gab es dort unten nicht, abgesehen von Ruß, schmutzigen Maschinen, jeder Menge Rohre und verdreckten Zwergen. In den riesigen Kesselräumen war der Lärm obendrein so laut, dass man kein einziges Wort verstehen konnte, wenn man nicht unmittelbar neben Breki stand. Tom bekam dennoch einen halbwegs brauchbaren Überblick über die Funktionsweise des Antriebs.

»Nein, nein, nein«, rief Breki gerade Danny zu, der wohl etwas gefragt hatte. »Wir heizen keinen der neunundzwanzig Kessel mit Kohle! Seht Ihr hier irgendwo Kohlenschaufler? Die Olympic wurde bereits in Fernwelt auf Ölfeuerung umgerüstet. Allerdings haben wir kein Heizöl gebunkert, sondern Schrexöl!«

Der Chefingenieur erntete ahnungslose Blicke. Tom konnte nicht hören, was Gwen Hunter fragte, aber Breki schien sie mit seinen kreisrunden Ohren bestens zu verstehen.

»Was Schrexöl ist? Seid ihr in Fernwelt denn so ungebildet? Was Schrexöl ist, weiß doch jeder! Es wird aus dem Schrexzahn gewonnen! Was? Was das wieder ist? Beim Barte des Altzwergs! Wisst ihr denn irgendwas? Der Schrexzahn ist eine scheußlich riechende Wucherpflanze, früher eine regelrechte Plage auf Talassair und auch in anderen Ländern. Aber für das Volk der Zwerge schon seit jeher brauchbar, um damit Feuer zu machen. Das Öl des Schrexzahns ist leicht entflammbar, der Brennwert ist fantastisch. Man kann damit richtig schön heiße Feuer machen. Für Schmelzöfen etwa. Oder für die Antriebe unserer Maschinen. Natürlich mussten wir die Verbrennungsmotoren der Fahrzeuge, Flugzeuge und Schiffe aus eurer Welt ein wenig umrüsten. Schrexöl bringt hervorragende Leistung bei geringem Verbrauch. Über dreißig Prozent weniger als Benzin oder Diesel. Auf Talassair haben wir deshalb viele Schrexfelder angelegt. Die Olympic bunkert eine ganze Zehnjahresernte, das ist natürlich enorm. Aber keine Sorge: Die Öltanks auf Talassair sind ebenfalls gefüllt!«

Nach dieser kurzen Exkursion in zwergischer Maschinentechnologie ließen sie die unteren Decks hinter sich und kehrten nach oben zurück. Dort stieß Schatzkanzler Farin wieder zu ihnen.

Hunter wollte mehr über das Schrexöl erfahren, besonders über diese Pflanze mit den fast schon magischen Eigenschaften, den Schrexzahn, und erkundigte sich bei dem hochrangigen Zwerg danach.

»Ach«, erklärte Farin, »das ist ein wirklich schreckliches Kraut. Man sagt, dass dieses Gewächs einst direkt aus Darchorad kam. Ein Versuch des dunklen Illauri Varaskar, des ersten Dunklen Herrschers, ganz Elderwelt in ein Abbild seines dunklen Reichs zu verwandeln. Ungenießbar, dornig, zäh und das Öl leicht entflammbar, gedeiht diese Wucherpflanze noch auf den undankbarsten und kargsten Böden. Darum ist es auch so einfach, sie anzubauen. Wir haben ein eigenes Schrexamt gegründet, das sich um die Züchtung, aber auch um die Eindämmung dieses Wucherkrauts kümmert. Die Schrexbeamten stellen sicher, dass Schrexzahn ausschließlich auf den königlichen Plantagen wächst und in keinem Garten oder freier Wildbahn. Vor zwanzig Jahren drohte der Schrexzahn, viele andere Pflanzen zu verdrängen, aber unser Heer an Schrexbeamten war letztlich erfolgreich. Bis heute sind die Gärten und Wälder sauber, aber eine dauerhafte Schrexwache ist unabdingbar.«

Tom beobachtete, wie Hunter intensiv nachdachte. Wahrscheinlich spielte sie mit dem Gedanken, dieses Darchorad-Unkraut in die Menschenwelt zu schmuggeln. Allerhöchste Vorsicht war angesagt.

Die Tour ging weiter, doch Tom verlor rasch das Interesse. Denn weder konnte er sich für das altmodische Fitnessstudio noch für das Türkische Dampfbad begeistern. Die Squashhalle fand er langweilig, und der Swimmingpool auf dem F-Deck glich mehr einer Maschinenhalle denn einer einladenden Badeanstalt.

Zurück auf dem A-Deck zeigte ihnen der Chefsteward die opulent ausgestattete Lounge und das heimelige Lesezimmer. Zahlreiche Stewards eilten in den Gängen mit Koffern und Taschen an ihnen vorbei von einem Zimmer zum anderen. Die Männer und Frauen schwitzten vor Anstrengung.

»Was machen die denn da«, fragte er neugierig.

Der Chefsteward seufzte leise. »Seine Majestät beliebt, nach jeder Aktivität, etwa dem Frühstück, dem Mittagessen oder dem Dreiuhrtee, in eine andere Suite umzuziehen. Mindestens viermal am Tag. Mittagessen ist gerade vorbei, also steht ein neuer Umzug an.«

Wie um seine Erklärung zu bestätigen, trat Floyd gerade aus Suite A-20. Nicht nur sein mit Goldbrokat besetzter Gehrock und die Schuhe mit vergoldeten Kappen strahlten – auch er selbst. Händereibend ging er ihnen entgegen. »Fantastisch, fantastisch«, rief er begeistert und klatschte vor Entzücken. »Endlich kann ich in A-21 umziehen. Diese Räumlichkeiten das, A-20, treffen meinen momentanen Geschmack nicht. Vielleicht morgen wieder. Alastor, ich wünsche, nach dem Dinner in Kabine A-15 umzuziehen. Außerdem möchte ich zum Essen einen leichteren Anzug tragen, etwas Luftigeres. Bitte lass in der Bordschneiderei etwas für mich anfertigen. Vielleicht mit Schärpe? Und die ganzen Orden nicht vergessen. Schön poliert, damit sie glänzen. Ich muss Eindruck machen, immerhin bin ich der König«, sagte Floyd zum Chefsteward, der sich höflich verbeugte. Gerade wollte der König weitermarschieren, als er plötzlich stehen blieb und für einen Moment nachdenklich wirkte. »Wie viele Erste-Klasse-Kabinen haben wir eigentlich auf dem A-Deck?«

»Vierunddreißig, Majestät.«

Floyd rechnete kurz nach, dann machte er ein enttäuschtes Gesicht.

»Das bedeutet ja, dass ich in neun Tagen alle Suiten und Kabinen durchhabe. Wie langweilig! Das nächste Mal wird auch das B-Deck für Passagiere gesperrt. Ich brauche mehr Zimmer.«

Tom schüttelte angesichts dieses weltfremden Gebarens den Kopf. Aber so war König Floyd eben, darum wunderte er sich auch nicht weiter. Die kleine Sightseeing-Gruppe wünschte Floyd noch einen fröhlichen Umzug – nicht ohne Sarkasmus. Anschließend verließen sie das A-Deck über die Steuerbordpromenade, um hinauf aufs Bootsdeck zu gelangen. Der König blieb nachdenklich zurück. Sollte der egozentrische und vergnügungssüchtige Floyd etwa bemerkt haben, dass sie seine Umzugsmanie nicht guthießen?

You have finished the free preview. Would you like to read more?