Ohne Norden

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I

Hier bin ich. Habe gerade meine Volljährigkeit erreicht. Liege im Bett, aber nicht flach, sondern lehne mich an der Bettkante an. Habe die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Denke ein bisschen nach. Lasse die Gedanken schweifen, wie man so schön übertrieben sagen kann. Aber in irgendeiner Weise stimmt das ja. Sobald einmal die Maschinerie oben angeworfen worden ist, schießen einem Dinge in den Kopf, die zwei Augenblicke davor noch Lichtjahre entfernt waren. Bin irgendwie stolz auf meinen eigenen Gedanken gerade. Zwei Augenblicke davor noch Lichtjahre entfernt, das klingt irgendwie verdammt gut. Das hätte ich meinem schläfrigen und verkaterten Kasten da oben, wenn ich ehrlich bin, eigentlich gar nicht zugetraut an so einem Morgen, an dem der Wodka nach dem Aufwachen leicht gegen die Schläfe pocht und sobald man sich aufsetzt, zu einem Vorschlaghammer wird, der mit einer gnadenlosen Frequenz versucht, sich vom Inneren des Schädels einen Weg nach draußen zu bahnen. Der nächste Gedanke ist, dass Rührei nicht schlecht wäre und wenn man das nicht „Gedankenschweifen“ nennen kann, dann weiß ich auch nicht. Von wodkagetränkter Tiefsinnigkeit zum bevorstehenden Katerfrühstück, das kriegt nur ein achtzehnjähriges Gehirn hin, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich versuche aufzustehen, aber ich kapiere schnell, dass der Vorschlaghammer etwas dagegen hat und es wohl noch eine Zeit dauern wird, bis ich dem Traum, in dem eine Pfanne, zwei Eier und ein Schneebesen eine ganz wesentliche Rolle spielen, näher kommen kann. Und so schweife ich weiter. Treffe mich wieder vor ein paar Jahren, mit zwölf, dreizehn, vierzehn vielleicht. Es klingt sehr unlogisch, für mich selbst sogar, aber es kommt häufig vor, dass ich mich selbst nicht verstehe. Also noch einmal: Es klingt sehr unlogisch, dass man mit gerade einmal achtzehn Lenzen auf dem Buckel morgens im Bett liegt und so über sein Leben nachdenkt, reflektiert, beurteilt und vielleicht sogar schon bedauert. Das sollte eigentlich neunzigjährigen Lebemännern auf dem Sterbebett vorbehalten sein, wenn ihr komplettes ausschweifendes Leben noch einmal an ihnen vorbeizieht, ehe sie glücklich und zufrieden den Gang nach Woauchimmer antreten können. Dass das achtzehnjährigen Gymnasiasten passiert, entspricht irgendwie nicht der Regel, aber auch hier gilt wohl festzuhalten: Keine Regel ohne Ausnahme. Und ich weiß, beziehungsweise vermute, oder egal, eigentlich bin ich mir auch ziemlich sicher, dass ich nicht der einzige bin, der hin und wieder, ab und zu daliegt und mal über das nachdenkt, was so war und was vielleicht noch so kommt. Hoffentlich kommt. Ich bin nicht so der Typ, der sich Horrorszenarien in der Zukunft ausmalt, eher der, der die Augen zumacht und sich selbst in einem Ferrari 458 Italia durch Monte Carlo brausen sieht, auf dem Weg zu seiner Yacht, vielleicht auch nur zu einem kleinen Dinner, man will ja bescheiden und realistisch bleiben. In so einem Moment huscht mir dann ein kleines Schmunzeln über die Lippen. Natürlich wird nichts davon passieren und ich werde auch nicht zukünftig in Depressionen verfallen, wenn ich merke, dass dieser kurze Tagtraum sich eines Tages in Luft auflösen wird, aber an solch einem Morgen sehe ich nichts Verwerfliches daran und außerdem lenkt es ein bisschen vom Vorschlaghammer ab. Sich die Zukunft auszumalen, ist auch überhaupt kein Problem. Es ist eher das Problem, das Passierte noch einmal neu durchzugehen und immer wieder zu bewerten. Ich habe es ja eben schon mit dem Sterbebett verglichen, aber mir kommt es so vor, als wäre es eine Krankheit der heutigen Gesellschaft und vielleicht auch meiner Generation, - oh Gott, ich habe nicht nur Gedanken eines Neunzigjährigen, ich rede auch noch so: Meiner Generation. Ich höre mich an wie mein Uropa, Gott hab‘ ihn selig – dass wir viel zu sehr in der Vergangenheit leben und dabei das Hier und Jetzt vernachlässigen. Krankheit ist vielleicht die falsche Bezeichnung. Ich bin noch nicht dazugekommen, diesen Umstand, der meiner Meinung nach so ist, zu bewerten. Aber was auffällt, ist, dass sich viele Menschen darüber beklagen, dass man zu viel über Dinge nachdenkt, die man sowieso nicht mehr ändern kann, statt in der Gegenwart zu leben. Zu denen ich dann ja wohl auch gehöre, da ich hier liege und meine Vergangenheit begutachte. Wieder ein Schmunzeln. Vor meinem geistigen Auge taucht eine Tafel auf, auf der noch einmal alle wichtigen Ereignisse meines Lebens aufgelistet sind, ich davorstehend mit nachdenklicher Miene, die Tafel begutachtend. Vielleicht war begutachten das falsche Wort. Aber ich habe es halt gedacht. Zumindest denke ich über den letzten Abend nach, meinen achtzehnten Geburtstag. Das ist die Vergangenheit, das ist Fakt. Und auch ein bisschen über mein Leben davor. Aber vernachlässige ich deshalb die Gegenwart? Ich lebe im Hier und Jetzt und versuche alles mitzunehmen, aber noch im Moment des Erlebens zu wissen, dass dieser in der Zukunft, wenn man über die Vergangenheit nachdenkt, was Besonderes sein wird, das ist schwer und auf Anhieb kann ich nicht sagen, ob mir das schon passiert ist. Vielleicht macht erst ein gewisser temporärer Abstand Dinge besonders. So liege ich hier und denke, was für eine geile Zeit es war mit meinen Jungs damals auf dem Bolzplatz. Das ist vielleicht sechs, sieben Jahre her. Und ich bin nicht traurig. Ich lebe in dieser Zeit, nicht in der Vergangenheit. Aber mich jetzt daran zu erinnern, das gibt mir irgendwie ein Gefühl im Bauch - ich kann nicht sagen, dass es unangenehm ist. Am besten könnte man es wohl mit dem Wort Wehmut beschreiben. Aber ich empfinde das nicht als etwas Negatives, sondern als etwas Schönes. Eine schöne Wehmut, ja so könnte man es nennen. Und was soll daran verkehrt sein, wenn man sich schöne Erlebnisse bewahrt und sie ab und zu, wenn der Wodka dann und wann gegen die Schläfe pocht, wieder auftauchen. Ich verwerfe das Wort Krankheit meiner Generation und ersetze es durch Merkmal, hoffe aber irgendwie, noch ein besser geeignetes Wort dafür zu finden. Was damit gemeint ist, mit in der Vergangenheit leben, das ist mir natürlich auch klar: Wenn man über Dinge nicht hinwegkommt oder einfach nicht loslassen kann. Und so lieg ich hier auch und denke: „Verdammt, wär’s nur wieder manchmal wieder wie früher.“ Und sicherlich ist das eng mit Personen verknüpft die meinen Weg gekreuzt haben, vielleicht auch mit einer bestimmten Person, vielleicht auch mit einem besonderen Mädchen, dass wenn du mir auf der Straße begegnen würdest und mich danach fragen würdest, ich vielleicht als gar nicht so speziell bezeichnen würde. Aber wir sind nicht auf der Straße, sondern in meinem Kopf, durch den Blut fließt - mit beträchtlichem Alkoholanteil. Man könnte auch sagen, durch den Alkohol fließt - mit einem beträchtlichen Blutanteil. Und jetzt sind die Gedanken wieder in Richtung In-der-Vergangenheit-leben abgeschweift. Zur Krankheit meiner Generation, unserer Gesellschaft. Wie erwähnt, ich bevorzuge schöne Wehmut. Und Rührei. Es gibt nichts was ich im Moment mehr bevorzugen würde als Rührei.

Im nächsten Moment, den ich aktiv miterlebe, realisiere ich, dass es wohl in nächster Zeit mit meinen Frühstücksplänen nichts wird. Ich bin für eine gute halbe Stunde wieder eingeschlafen und bin gerade im Begriff wieder die Augen zu öffnen. Wenn nach man einer durchzechten Nacht nach dem ersten richtigen Aufwachen wieder unvorsichtig eindöst, kann das zwei Möglichkeiten zur Folge haben: Entweder die halbe Stunde Schlaf gibt dem gerade in Schwung kommenden Kreislauf so richtig schön eins auf die Fresse oder sie tut einem gut und man fühlt sich danach viel besser. Um bei mir zu bleiben: Mein Kreislauf hatte zwölf Runden gegen Klitschko hinter sich, wobei ihm dabei die Arme auf den Rücken gebunden wurden und die Klitschko Brüder sich Runde für Runde abgewechselt hatten. Da ich weiß, dass ruckartiges Aufsetzen zu ungewollten Nebenwirkungen bis hin zum Erbrechen auf den nahegelegenen heiß geliebten Zockersessel führen kann, blieb ich lieber liegen. Beim ersten Mal hatte es vier Tage gedauert, bis der Geruch mein Zimmer zu hundert Prozent verlassen hatte. Immerhin, wenn ich die Augen offen halte, kommt es mir nicht mehr so vor, als würde ich Kettenkarussell fahren und es erfordert noch nicht einmal meine ganze Konzentration. Vielleicht habe ich den Alkohol von gestern doch besser vertragen als zuerst vermutet, aber der nächste Versuch mich aufzurichten, versichert mir auf sehr bestimmende Art und Weise, dass ich meinen achtzehnten Geburtstag mit einer für ein solches Ereignis angemessenen Menge an Alkohol verbracht habe. Deshalb fühlte ich mich auch nicht irgendwie elend oder scheußlich, wie man es manchmal hört, wenn Leute, die vor zwei Stunden noch auf der Theke ihres lokalen Lieblingsclubs mit einem alkoholhaltigen Mischgetränk in der linken Hand Mischung wahrscheinlich 50:50 - ab drei Uhr werden auch die Personen hinter der Theke in dieser Hinsicht erstaunlich lockerer - und die rechte Faust zu einem Mikro geballt, lauthals irgendeinen Oldie, der natürlich nur ihr Lied ist, grölend, drei Stunden später in ihrem Bett aufwachen und sich selbst, den Alkohol und alles auf dieser ganzen Welt verfluchen, sich schwören, nie mehr Alkohol zu trinken, nur um am nächsten Samstag wieder auf derselben Theke zu tanzen, denselben Oldie zu krächzen. In meiner Vorstellung ist es irgendwie ein weibliches Feierbiest, das da auf der Theke versucht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, aber das ist kein Pauschalurteil. Die Erfahrung hat nur gezeigt, dass die männlichen Nachtschwärmer meistens die sitzende Position eines Barhockers vorziehen, ihren gestörten Gleichgewichtssinn durch das Festhalten an der Bar ausgleichen und hin und wieder einen Schluck an ihrem vierten letzten Bier nehmen. Das ist wohl der Kreislauf der Jugend. Ich sage nicht, dass es schlecht so ist, ich sage nur, dass es so ist. Ich komme ganz gut damit klar. Auch, weil ich, wie gesagt, und worauf ich auch eigentlich hinaus wollte, kein Problem mit den Schmerzen im Kopf und dem Scheißgefühl am nächsten Tag habe. Es gehört irgendwie auch dazu und angemessene Nächte verdienen einen angemessenen Kater. Das ist wohl bitterer Fakt, aber man kann nicht viel daran ändern und ohne Alkohol wäre es ja auch irgendwie blöd. Ich habe es zweimal versucht, aber geklappt hat es nicht so wirklich. Um hier vielleicht mal ein bisschen mehr Struktur reinzubringen - insofern das überhaupt möglich ist, wenn man sonntagmorgens halbtot im Bett liegt - müsste man sich vielleicht ein Ereignis herauspicken, mit dem alles angefangen hat. Wieder kommt mir das Bild dieser Tafel oder Pinnwand vor Augen, auf dem die wichtigsten Punkte meines Lebens fein säuberlich dokumentiert sind. Aber anstatt Überschriften oder angepinnten Bildern sieht man ganze Ereignisse vor sich laufen. Ganze Tage und vor allem Nächte sind auf dieser Pinnwand dokumentiert und ich brauche nur länger auf eines zu blicken, bis mir noch einmal alle Einzelheiten bewusst werden. Diese Pinnwand ist mein Gedächtnis. Achtzehn Jahre, aber die Tafel hat sich im Moment etwas komprimiert. Sie bezieht sich mehr auf die letzten zwei, zweieinhalb Jahre und mir kommt der Begriff Zeitalter in den Sinn, aber irgendwie finde ich diesen maßlos übertrieben. Zweieinhalb Jahre - ein Zeitalter? Das Mittelalter, das war ein Zeitalter. Oder das Zeitalter der Renaissance – das sind Epochen die über Jahrzehnte, zum Teil Jahrhunderte andauerten und ich beschreibe die letzten zwei Jahre meines unbedeutenden Lebens als Zeitalter? Scheißegal, ich lasse den Begriff so stehen. Irgendwie gefällt er mir und irgendwie markiert dieser Morgen ja auch das Ende meiner jugendlichen Ära. Ich bin ja jetzt offiziell ein erwachsener Mann, auch wenn ich mich beim Gedanken daran so lächerlich finde, dass ich fast anfange mich selbst auszulachen. Denn wie ich so daliege, fühle ich mich alles andere als reif und erwachsen. Mit fünfzehn sieht man sich selbst in drei Jahren als coolen Typen, der von allem den Plan hat. Bei dem es läuft. Sportlich und erfolgreich bei den Frauen. Das restliche Jahr Schule ist nur noch Zeitvertreib, bis das richtige Leben an der Uni losgeht. Die bittere Wahrheit ist: Mit fünfzehn fühlt man sich genauso planlos wie achtzehn. Und mit einundzwanzig vielleicht auch wie mit achtzehn. Aber das kann ich euch vielleicht in drei Jahren bestätigen. Bisher ist es nur eine Vermutung. Vielleicht hat man mit dreißig den Plan. Aber mit fünfzehn ging mein letztes großes Zeitalter irgendwie los. Ich kann nicht sagen warum, aber wenn ich auf diese Pinnwand, die mein Gedächtnis ist, blicke, dann sehe ich mich selbst mit fünfzehn Jahren und neun Monaten an einer Bierzeltgarnitur unter freiem Himmel sitzen und trinken. Es war kein normaler Himmel an einem normalen Abend. Das damals war der klarste und hellste Sternenhimmel, den ich bis dahin kennenlernen durfte. Vielleicht lag es daran, dass ich alles vierfach sah, das könnte diesen Umstand schon verstärkt haben. Im Endeffekt aber blieb mir dieser verdammt klare Himmel, obwohl sich der Rest des Abends nur noch in Bruchstücken darstellt, in Erinnerung. Passend irgendwie. Ich liege hier, der Pegel steht noch von letzter Nacht und das erste einschneidende Erlebnis, dass mir in den Sinn kommt, ist mein erster Vollrausch. Es war der sechzehnte Geburtstag einer meiner besten Freunde. Um dies kurz zu erläutern: Wenn ich einer meiner besten Freunde sage, schließt das mit ein, dass es mehrere gibt - insgesamt zwei. Wir waren ein Dreiergespann, das durch dick und dünn ging und immer noch geht und hoffentlich immer gehen wird. Ich gebe mir selbst eine gedankliche Backpfeife. Durch dick und dünn gehen. Das klingt so Grundschulfreundebuchmäßig und überhaupt nicht angemessen für das, was wir zusammen ausgestanden haben. Beide waren übrigens an jenem besagten Abend, der den Beginn etwas, von dem ich jetzt noch nicht weiß, was es ist, einläuten sollte, dabei. Thomas Bach – Thommy und später nach Ausstrahlung einer gewissen Fernsehsendung auch noch Der Bachelor genannt, weil es sich aufgrund seines Nachnamens halt anbot und weil ihm ab diesem Tag ein gewisser Schlag beim weiblichen Geschlecht attestiert wurde - hatte an einem Freitag Geburtstag und feierte auf dem Sportplatz seines Heimatdorfes. Ein richtiges Kaff, das sogar mit der Einwohnerzahl aus unserer Kleinstadtgegend negativ hervorstach. Der Sportplatz lag mitten im Wald und war schön weit vom eigentlichen Dorf entfernt. Lautstärkebeschwerden oder Sonstiges würde es also nicht geben. Das war allen klar. Freitags in der Schule unterhielten wir uns schon ein wenig über das bevorstehende Event und klärten ab, wann wir kommen und wie lange wir bleiben würden. Ich nahm Thommys Angebot, in der Wirtschaft des Vereinsheimes zu pennen, dankend an und verabredete mich mit Konstantin Baumgarten, Sohn eines Lehrerpärchens mit alternativem Lebensstil und Haus in einer etwas besser gestellten Gegend unserer Stadt, für sechs Uhr bei mir, um vorher noch etwas zu zocken und dann irgendwann von meiner Mutter zur Party gefahren zu werden. Viele aus der Klasse würden da sein, auch einige Mädels mit denen ich mich gut verstand, aber keine, die mich ernsthaft interessiert hätte, war dabei. Es war ein angenehmer Spätsommertag, es würde also kein Problem darstellen, den ganzen Abend und falls erforderlich die ganze Nacht im Freien zu verbringen. Meine Mutter wies mich aber bestimmt darauf hin, dass ich auf jeden Fall ein „Jäckchen zum Überwerfen“ mitnehmen solle, da es nachts frisch würde. Die Jacke in der rechten und einen Umschlag mit zehn Euro in der linken Hand stieg ich um halb neun an besagtem Sportplatz aus dem Auto. Es fing langsam an zu dämmern und die Sonne war schon hinter den Bäumen, die die Anlage umrundeten, verschwunden. Der gesamte Eindruck des Platzes war - nett ausgedrückt - ein Desaster. Es war ein in die Jahre gekommener Aschenplatz, aus dem an einigen Stellen schon Unkraut wucherte und der mit einem einzigartigen Höhenunterschied von der linken zur rechten Eckfahne aufwarten konnte. Selbst im Halbdunkel konnte ich erkennen, dass es mindestens vier Meter Gefälle waren, die der Platz aufwies. Die meisten der eingeladenen Gäste saßen schon an langen Bierzeltgarnituren neben der zugehörigen Grillhütte. Einige hatten schon Biere vor sich stehen und aßen Würstchen und Nudelsalat. Ich begrüßte meine Freunde per Handschlag, nahm mir auch einen Teller und schlug ordentlich am Grill zu. Damals mit noch wenig Feiererfahrung war ich der Ansicht, dass Grillen der Inbegriff einer Sommerfete war. Diese Ansicht hat sich bis heute nicht geändert. Der Abend plätscherte so vor sich hin. Wir unterhielten uns, machten Scherze. Es war eine lustige Runde mit vielen Leuten, die ich mochte und ich war eigentlich ganz zufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Abends. Um halb zehn kam das Geburtstagskind zu mir und Konstantin und verkündete mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete: „Wir trinken jetzt einen zusammen.“ Weder Konstantin noch ich waren bisher besonders erprobt in dieser Disziplin, aber ich fühlte auch kein Unbehagen als Thommy drei Becher voll mit irgendeinem süßlichen Likör schüttete, mit uns anstieß und wir alle unsere Becher in einem Zug leerten. Es brannte in der Kehle, aber schmeckte nicht schlecht. Ich hustete ein bisschen und Thommy lachte. Er ging weiter zu den nächsten Gästen, um auch mit diesen auf sich selbst anzustoßen. Die Flasche ließ er jedoch bei Konstantin und mir stehen und im Laufe des Abends wurde sie immer leerer. Meine bisherige Alkoholkarriere beschränkte sich bis dato auf einen Radler bei meiner Firmung oder einen Sekt anlässlich der Silberhochzeit meiner Eltern. Aber es fühlte sich gut an und ich hatte nichts dagegen, immer mehr zu trinken, da mein Zustand sich vorerst auch nicht verschlechterte. Ich war verdammt gut drauf, hatte Spaß mit allen Leuten. Nach einer Weile konnte ich mich nicht mehr in dem Maße verständlich machen, in dem ich es eigentlich geplant hatte. Aber das tat der ganzen Sache keinen Abbruch. Jetzt, wenn ich so rückblickend drüber nachdenke, stelle ich fest, dass man immer zwei Möglichkeiten hat, wenn man zum ersten Mal trinkt. Möglichkeit eins: Erst einmal ein Gefühl dafür bekommen und sich selbst und seine Grenzen austesten. Möglichkeit zwei: Alles hinunterkippen was geht, bis es vorne doppelt und dreifach wieder herauskommt. Der Entschluss für eine dieser beiden Möglichkeiten fällt nicht mit dem dritten oder vierten Likör. Nein, dieser Entschluss fällt mit dem ersten. Und mein Entschluss fiel deutlich für Möglichkeit zwei aus. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, war, wie ich über der Reling des Sportplatzes hänge und abkotze, was das Zeug hält. Zuvor war es schon ziemlich schwer gewesen, wenn ich aufstand, um im Wald meine Blase zu entleeren. Relativ schnell war das nur noch möglich, indem ich mich am nächsten Baum abstützte und vor mich hin pfiff. Keine Ahnung wieso, aber pfeifen hilft mir irgendwie immer, wenn mir schwindlig ist. Meine nächste Erinnerung ist, dass ich mit einem abscheulichen Gefühl in Mund, Bauch und Kopf in einem eiskalten Sportheim aufwache. In diesem Moment wollte ich sterben. Aber wenn ich daran zurückdenke, finde ich es irgendwie amüsant. Es war kein schönes Erlebnis und es ist auch nichts Bedeutsames passiert an dem Abend, außer dass ich mich zum ersten Mal königlich besoffen und danach übergeben habe, aber das als bedeutsam zu bezeichnen wäre vielleicht etwas überzogen. Aber trotzdem habe ich mir selbst diesen Abend irgendwie ausgesucht. Als den Beginn von etwas, von dem ich noch nicht einmal selbst weiß, was es ist und irgendeinen Grund muss das ja haben. Es fühlt sich beim Zurückdenken gut an, auch wenn die Übelkeit bei diesem guten Gefühl keine Beachtung findet. Ich erinnere mich einfach gerne an diesen Abend. Und irgendwie macht das diesen Abend bedeutsam. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, wie er mit dem, was danach passiert ist, in Verbindung steht, er taucht doch als erster auf meiner Pinnwand auf und vielleicht nur deshalb, weil ich gern noch einmal dieses Gefühl haben wollte, welches ich an diesem lauen Sommerabend empfand, weil es ein schönes war. In derselben Nacht oder am Tag danach hätte ich mir sicher nicht ausmalen können, am Morgen nach meinem achtzehnten Geburtstag dazuliegen und wieder mit einem guten Gefühl über diese Nacht nachzudenken. Und was er mit dem ganzen großen Rest zu tun hat, ist mir in diesem Moment - ehrlich gesagt - ziemlich egal. Auch wenn die Art Party zu feiern sich geändert hat, die Getränke härter geworden sind und die Nächte länger, so kann ich sagen, dass ich vor ungefähr zweieinhalb Jahren am sechzehnten Geburtstag von Thommy, dem Bachelor, eine unvergessliche Nacht hatte. Das fühlt sich irgendwie gut an. Ich grinse. Schöne Wehmut. Die angebliche Krankheit meiner Generation.