Read the book: «Schwarzer Peter»
Tim Herden, geboren 1965 in Halle (Saale), ist seit 1991 Fernsehredakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk und Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin, er leitet seit 2016 (wie schon von 2003 bis 2008) das MDR-Fernsehstudio dort. 2010 veröffentlichte er seinen ersten Hiddensee-Krimi „Gellengold“, es folgten „Toter Kerl“ (2012), „Norderende“ (2014) und „Harter Ort“ (2016) – alle Bände erschienen im Mitteldeutschen Verlag.
Tim Herden
Schwarzer Peter
Der letzte Fall für Rieder und Damp
mitteldeutscher verlag
Für den ehemaligen Hiddenseer Inselpolizisten
Horst Henk
Dieses Buch ist ein Roman. Die gesamte Handlung ist von A bis Z von mir frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Die im Text erwähnten Bilder des Hiddenseer Künstlerinnenbundes hängen natürlich da, wo sie hingehören. Die verschwundenen und zerstörten Bilder bleiben verschwunden und zerstört.
Kapitän Gustav Drews schaltete die Positionslichter aus. Dann drehte er den kleinen Hebel neben dem hölzernen Steuerrad. Der Motor erstarb. Vorn am Mast löste Bootsmann Henning Just die Vorliekleine. Mit kräftigen Armzügen zog er das Segel nach oben. Der sanfte Südwest bauschte das weiße Tuch und glättete es. Noch ließ die Großschot dem Segel Spiel. Der Wind schob es weit über die hölzerne Bordwand hinaus. Schiffsjunge Björn griff nach der Leine, legte sie um eine Winsche und zog sie fest. Das Segel straffte sich. Sanft neigte sich die pommersche Yacht. Aus dem Rumpf des Schiffes drang ein sanftes Brummen. Die „Hertha“ nahm Fahrt auf.
So mochte es Drews. Locker hielt er das Steuerrad zwischen seinen Händen. Mit sanften Bewegungen pendelte er das Boot aus und hielt es im Wind. Er blickte geradeaus. Viel war nicht zu sehen in der Dunkelheit. Ab und zu zerriss das schnell ziehende dunkle Wolkenband. Dann spiegelte sich das Mondlicht im schwarzen Wasser des Boddens. Backbord war der Gellen zu erahnen. Steuerbord lag die Halbinsel Ummanz. Voraus blinkte ein Licht. Der Leuchtturm Dornbusch sendete sein Signal in die Nacht. Zwei Sekunden hell. Acht Sekunden dunkel. Drews steuerte leicht backbord vom Licht des Leuchtturms. Dieser Kurs war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Schon vor dem Krieg war er als junger Kapitän für die Reederei seines Vaters mit dem Postschiff von Stralsund über Kloster auf Hiddensee und die Poststation auf dem Bug nach Bornholm und weiter nach Schweden gefahren. Schon damals hatte ihm das Leuchtfeuer Dornbusch immer die Gewissheit gegeben, auf dem richtigen Kurs nach Hiddensee zu sein.
Kein anderes Boot war auf See. Die Fischer durften erst ab drei Uhr rausfahren, um ihre Reusen zu kontrollieren. In der Nacht herrschte auch auf dem Wasser Ausgangssperre. Eigentlich auch für Gustav Drews und seine „Hertha“. Aber er musste die sowjetischen Patrouillenboote nicht fürchten. Die Reederei Drews hatte eine Sondergenehmigung der Besatzungsmacht. Er durfte Hiddensee anlaufen und die Insel mit Waren des täglichen Bedarfs beliefern – wenn auch zu vorgeschriebenen Zeiten. Aber der Inselkommandant war großzügig. Denn Drews versorgte mit seinem Schiff auch die Soldaten auf Hiddensee. Und so war es dem Kommandanten ziemlich egal, wann Drews mit seiner Ware kam. Hauptsache, er kam.
Doch Drews fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Heute hatte er nicht Lebensmittel und Fässer mit Schiffsdiesel für die Fischer geladen. Unter Deck standen zwanzig Holzkisten. Drews wusste nicht, was darin war. Sein Vater hatte ihm die Ladung und die Tour aufgenötigt. Als Freundschaftsdienst für den Unternehmer Gilde, einen guten Kunden der Reederei. Zweimal die Woche lieferte Drews mit der „Hertha“ Mehl zu dessen Fabrik im Hafen Sassnitz. Auf der Rücktour brachte er Produkte der Firma Gildemeister, Backmischungen und Tütensuppen, zu den Häfen Greifswald und Stralsund. Ein gutes Geschäft, besonders in schlechten Zeiten wie diesen. Sonst gab es seit dem Kriegsende nicht viel zu transportieren.
Drews hatte Henning und Björn leere Fässer und Kartons um die Kisten stapeln lassen, damit sie bei einer Kontrolle nicht auffielen. Sicher war sicher. Drews rechnete nicht damit. Nachts lagen die sowjetischen Patrouillenboote vom Stützpunkt auf dem Bug immer am nördlichen Ende des Libben auf der Lauer. Sie warteten in der Meerenge zwischen Hiddensee und Rügen auf Schmuggler, die heimlich aus Dänemark oder Schweden Schnaps, Butter und Zigaretten für die Schwarzmärkte an der Ostseeküste brachten. Wer erwischt wurde, musste mit drakonischen Strafen rechnen. Es war schon vorgekommen, dass die Russen ein aufgebrachtes Schmugglerschiff einfach ins Schlepptau genommen und dann auf offener See mit einem Torpedo versenkt hatten.
Die „Hertha“ erreichte das Fahrwasser von Kloster. Henning kam zu Drews in das kleine Führerhaus. Er stellte sich neben ihn und nahm seine Pfeife aus dem Mund. „Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.“
„Wird schon schiefgehen“, antwortete der Kapitän, ohne den Blick zu wenden.
„Zurück müssen wir kreuzen. Nicht gerade ideal, wenn es eng wird.“ Dabei nickte Henning leicht mit seinem Kopf nach Steuerbord, in Richtung des Marinestützpunktes.
„Wir haben immer noch den Diesel“, wandte Drews ein.
Henning schüttelte den Kopf. „Damit kommst du nicht gegen die Torpedoboote der Russen an.“
„Ich kann das Schwert hochziehen. Aufs Flachwasser kommen die nicht hinterher.“
„Als ob das die Russen aufhalten würde.“
Drews wusste, dass Henning Recht hatte, wollte es aber nicht zugeben. Seit über zwanzig Jahren hatten Drews und Just jede Fahrt zusammen gemacht, aber die Rollen zwischen Kapitän und Bootsmann waren klar verteilt.
„Hol die Segel ein, sonst brettern wir bei dem Wind auf Grund“, beendete Drews das Gespräch.
Henning nickte kurz, steckte seine Pfeife wieder in den Mund und lief dann zum Mast. Er löste die Vorliekleine. Das Segel rauschte runter und bauschte sich auf Deck. Björn begann es zu raffen. Die „Hertha“ wurde langsamer, machte aber immer noch gut Fahrt.
Am Schwedenhagen tauchte ein Licht auf. Es wurde am Fuße der Anhöhe neben dem Hafen von Kloster immer wieder hin und her geschwenkt. Das vereinbarte Zeichen. Daneben, in Richtung Grieben, gab es zwar eine Anlegestelle. Das Bollwerk. Doch dort die Kisten auszuladen hätte zu viel Aufsehen erregt. So hatte Drews mit Gildes Sohn Werner vereinbart, die Ladung am Fuße des Schwedenhagen zu löschen, mit dem hochgewachsenen Schilf als Deckung. Drews lehnte sich aus dem Führerhaus. „Lasst den Anker fallen!“
Die Kette rasselte in die Tiefe. Kurz darauf ging ein Ruck durch das Boot. Der Anker hatte im schlammigen Boden des Boddens Halt gefunden. Björn ließ darauf auch am Bug den Anker zu Wasser. Die „Hertha“ lag fest.
In der Stille waren kräftige Ruderschläge und das Klappern der Paddel in den eisernen Dollen zu hören. Aus der Dunkelheit tauchte ein hölzernes Boot auf. Vorn im Bug war eine brennende Laterne befestigt. Dahinter stand ein großer, hagerer junger Mann. Er trug dunkle Kleidung und hatte eine Strickmütze auf dem Kopf. Drews erkannte Werner Gilde.
„Alles ruhig“, rief er Drews zu. Der Kapitän nickte stumm. Er gab Henning und Björn ein Zeichen die Luken zu öffnen. Dann stieg Björn in den Laderaum, während Henning den kleinen Ladekran der „Hertha“ flott machte. Die erste Kiste wurde hochgezogen, dann über Bord geschwenkt und in das kleine Boot abgesenkt. Nach jeweils drei Kisten fuhr das Ruderboot zum Ufer. Aus der Ferne glaubte Drews Stimmen zu hören. Immer wieder sah er ein Licht die Anhöhe hinaufwandern, dann aber plötzlich verschwinden. Dort gab es eigentlich gar keinen Weg. Dafür war das Hochufer zu steil.
Sie waren gerade dabei, die Kisten für die letzte Fuhre abzuseilen. Da tauchte oben neben der Anhöhe das Licht wieder auf und kam langsam näher. Wahrscheinlich ein Fahrradfahrer. Werner Gilde, der auf der „Hertha“ das Umladen der Kisten überwacht hatte, bat Drews um sein Fernglas. Er hielt es kurz an die Augen. „Scheiße, der lange Herrmann!“, fluchte der Sohn des Unternehmers. Mehr musste er nicht sagen. Alle kannten den Spitznamen des Hiddenseer Inselpolizisten. Da war auch schon seine donnernde Stimme zu hören: „Halt da draußen! Was tun Sie da?“
Alle schwiegen. Das Licht im Ruderboot war gelöscht worden. Trotzdem waren in der Dunkelheit die Umrisse der Boote zu erkennen. Viel konnte Herrmann nicht ausrichten. Jedenfalls nicht auf See. Wie sollte der Polizist ohne Boot bis zur „Hertha“ kommen? Anders stand es um die Leute am Ufer. Auch von dort war kein Ton mehr zu hören. Nur der Wind ließ das Schilf rascheln.
„Halt, oder ich schieße!“, brüllte der Polizist.
Drews witterte Gefahr. „Ich will hier weg“, flüsterte er.
„Die Kisten müssen aber noch von Bord“, antwortete Gilde.
„Und was, wenn er schießt?“, entgegnete Drews ‚Und trifft?‘, fügte er in Gedanken hinzu. Da hörten sie auch schon, wie eine Waffe durchgeladen wurde. Ein Schuss fiel. Offenbar hatte der Polizist in die Luft geschossen, aber er konnte damit die Soldaten auf der Insel und auf der Ostsee alarmiert haben.
„Schluss jetzt“, raunzte Drews, „mach dich von Bord!“
Henning ließ das Seil des Ladekrans los und die Kiste am Haken krachte auf das Boot neben der „Hertha“.
„Bist du verrückt geworden?“, schnauzte Gilde den Bootsmann leise an.
„Du kannst mich mal“, zischte Henning.
Gilde starrte ihn wütend an und war nahe dran, auf den Matrosen loszugehen, doch dann schien er sich zu besinnen. Er neigte sich zu Drews. „Die letzte Kiste muss noch runter. So ist es verabredet.“
Da packte Henning Gilde von hinten, drehte ihn um und fasste ihn unter den Achseln. Obwohl der junge Mann einen Kopf größer war, hob ihn der Bootsmann mühelos hoch und trug ihn die zwei Schritte zur Reling.
„Verschwinde jetzt!“ Um seine Drohung zu verstärken, hielt er Gilde außerhalb des Decks. Gilde zappelte vor Angst. Henning zog ihn noch einmal so nah heran, dass Gilde die Bootswand zu fassen bekam und von dort in das Ruderboot klettern konnte.
„Das wird euch noch leidtun.“
Doch Drews und Henning hörten ihn nicht mehr. Sie liefen beide über Deck und waren damit beschäftigt, das Schiff seeklar zu machen. Der Kapitän versuchte den Schiffsdiesel anzuwerfen. Doch der Motor zündete nicht. Er tuckerte ein wenig und verstummte. Drews versuchte es wieder und rief zugleich Björn zu, den Heckanker zu lichten. Der Schiffsjunge begann die Ankerwinde zu drehen. Henning zog das Segel auf, um seeklar zu sein, falls der Motor weiter streikte. Björn stürmte zum Bug, um auch dort den Anker zu heben. Dort lag die „Hertha“ noch fest. Sie begann sich schon in der Strömung um die eigene Achse zu drehen. Björn rüttelte an der Ankerwinde. Doch nichts rührte sich. Henning bemerkte es. Er rannte zur Bordwand, um nachzusehen, warum sich der Anker nicht bewegte. Als er sich wieder aufrichtete, frischte der Wind auf. Eine Böe fegte über den Bodden. Sie erfasste das freischwingende Segel. Der Großbaum traf den Bootsmann am Kopf. Henning wurde über Bord geschleudert. Der Kapitän und Björn hörten das Aufschlagen seines Körpers im Wasser. Sie stürmten zum Bug. Drews schrie Björn an, endlich das Segel zu sichern. Der Junge fing die Schot, wickelte sie um die Winsche, zog das Segel heran und befestigte es. Dann eilte Björn zu Drews zurück, der immer noch kurz neben dem Bug kniete und in die Tiefe starrte. Immer wieder rief er leise nach Henning. Herrmann sollte den Namen nicht hören. Doch es gab keine Antwort. Sie hörten auch kein Paddeln oder Kraulen eines Schwimmers. Auch von Gildes Ruderboot war nichts zu vernehmen. Dabei mussten Gilde und seine Leute mitbekommen haben, was passiert war. Drews und Björn rannten zum Heck, schauten in die Tiefe und riefen wieder den Namen des Bootsmanns. Aber Henning blieb verschwunden. Ein zweiter Schuss fiel. Am Führerhaus splitterte Holz. Drews und Björn warfen sich auf die Planken.
„Wir müssen hier weg“, raunte Drews Björn zu.
„Aber Onkel Henning …“, flehte der Schiffsjunge.
Drews schüttelte hilflos den Kopf. Erstarrt sahen sie sich eine kurze Ewigkeit in die Augen. „Wir müssen den Anker lichten“, flüsterte Drews. „Komm!“
Sie krochen zum Bug. Nun zog die Winde ohne Probleme den Anker nach oben. Dann holte Drews das Segel ein.
Zurück im Führerhaus, legte er den Zündhebel um. Wieder stotterte der Schiffsdiesel zweimal, dann fand der Motor seinen Rhythmus. Drews steuerte die „Hertha“ ins offene Fahrwasser. Der Leuchtturm Dornbusch sendete sein Licht in die Ferne.
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Kapitel XXXIV
Kapitel XXXV
Kapitel XXXVI
Kapitel XXXVII
Kapitel XXXVIII
Kapitel XXXIX
Kapitel XL
Danksagung
I
„Tja“, meinte Malte Fittkau. Er hob mit der rechten Hand kurz seine Schiffermütze, kratzte sich die Stirn und setzte „seine Kopfbedeckung wieder auf. Gemeinsam mit Stefan Rieder stand er vor der Wiese um das kleine Kapitänshaus im Wiesenweg in Vitte. Das Häuschen war Rieders Bleibe auf Hiddensee. Seit Oktober hatte er dort nicht mehr gewohnt und auch nicht mehr den Rasen gemäht. Nach seiner Rückkehr auf die Insel im Januar war er in Maltes Pension gezogen. Bei dem harten Winter wäre es in dem Häuschen mit seinen dünnen Wänden zu kalt gewesen. Jetzt war bald Ostern. Malte brauchte seine Zimmer für die ersten Gäste. Rieder musste also umziehen. Außerdem hatte sich sein Vermieter angemeldet, um nach dem Rechten zu sehen und einiges zu besprechen. So stand es in einem Brief, den Rieder vor einer Woche erhalten hatte.
Die Wiese bot ein gemischtes Bild. Da waren die abgestorbenen, dunklen Halme der Rasenpflanzen vom letzten Jahr. Dazwischen sprießten Löwenzahn, Gänseblümchen und Wiesennelken. Vor den Kirschbäumen an der Grenze zu Maltes Grundstück standen die Brennnesseln hüfthoch. Die Heckenrose am Zaun zum Wiesenweg hatte sich mit zahlreichen Schösslingen auf der Fläche vermehrt.
Drei Monate hatte der Winter die Insel fest im Griff gehabt. Dickes Packeis türmte sich rund um die Küsten an Ostsee und Bodden. Nur mit dem Hubschrauber war Hiddensee zu erreichen. Dann kamen Ende März die ersten Sonnenstrahlen. Innerhalb einer Woche verschwanden Eis und Schnee. Die plötzliche Wärme jetzt Anfang April hatte die Natur förmlich explodieren und erblühen lassen.
Bis zu seinem Haus war Rieder noch gar nicht vorgedrungen. Er hatte nur aus dem Schuppen den kleinen Rasenmäher geholt und war sofort gescheitert. Das Gerät hatte nach einem Meter den Betrieb eingestellt, unfähig, den Wiesenurwald zu stutzen. In seiner Not hatte Rieder Malte um Rat gefragt. Doch auch sein Nachbar war ratlos.
„Vielleicht geht’s mit einer Sense“, schlug Rieder vor.
„Haste schon mal gesenst?“, fragte Malte zurück, ohne Rieder dabei anzusehen.
Rieder schüttelte den Kopf.
„Dann lass mal.“
„Aber wieso? So schwer kann doch Sensen nicht sein.“ Rieder deutete mit einem Hüftschwung und angewinkelten Armen die entsprechende Bewegung an. Nun drehte sich Malte um und sah Rieder an, als sei er nicht ganz bei Trost.
„Hast du ’ne Sense?“, hielt Rieder an seiner Idee fest.
„Hab’ ich, aber kriegste nicht. Das wäre Mord.“
„Versteh’ ich nicht.“
„Du hackst dir damit die Beine ab, und hier ist keiner auf der Insel, der sie dir wieder annäht. Sensen fällt jedenfalls aus“, erklärte Malte in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Die beiden Männer starrten wieder stumm auf die Wiese. Dann strich sich Malte über das Kinn. „Am besten, du holst drei grüne Lappen von der Bank, gehst zu den Jungs vom Deichbau, hängst dein Gartentor aus, und dann fahren die mit ihrem Mäher hier zweimal drüber. Fertig.“
Rieder war geschockt. „Dreihundert Euro?“
„So sind die Preise.“
„Die sollen hier nicht einen neuen Garten Eden anlegen. Die sollen den Rasen mähen. Dafür kann ich in Berlin …“, begann Rieder zu lamentieren.
„Du bist aber nicht in Berlin“, unterbrach ihn Malte. „Ich sage nur ‚Insellage‘.“
Das war das Zauberwort auf Hiddensee. Brauchte die Post vom Festland mehr als eine Woche, gab es keine Internetverbindung oder waren Handwerkerleistungen doppelt so teuer wie auf Rügen – immer gab es nur eine Antwort: Insellage. Hiddensee schien einsam mitten in einem großen, breiten Ozean zu treiben, fern von anderen Gestaden. Dabei war die Insel an der engsten Stelle des Boddens gerade mal ein paar hundert Meter von Rügen entfernt. Die Fähre von Schaprode brauchte bis Vitte eine Dreiviertelstunde. Mit dem Wassertaxi dauerte es je nach Laune des Kapitäns fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten.
Rieder wollte nicht sofort nachgeben. „Dreihundert ist mir zu teuer.“
„Du kann auch bei einer dieser Hausverwaltungen fragen“, meinte Malte.
„Stimmt. Gute Idee.“
„Kommst du aber auch nicht billiger davon und wartest ewig auf einen Termin“, zerstörte Malte sofort die aufkeimende Hoffnung. „Die müssen jetzt alle ihre Buden auf Vordermann bringen. Da stehst du ganz hinten in der Reihe. Vergiss es.“
Beide versanken wieder in Schweigen. Rieder überlegte, dem Rasenmäher eine zweite Chance zu geben. Da klingelte sein Telefon. Er zog es aus der Hosentasche. Revierleiter Damp. Rieder stutzte kurz. Eigentlich sollte sein Kollege auf einer Beerdigung auf dem Friedhof in Kloster sein. Irgendein Inselpromi wurde dort beigesetzt. Es hatten sich eine Menge wichtiger Menschen von Rügen und aus Stralsund angesagt. Gemunkelt wurde, dass sogar der Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern kommen wolle. Der Tote war wohl der größte Unternehmer in der Region gewesen. Rieder hatte es nicht weiter interessiert, denn Damp hatte die Sache gleich an sich gezogen. Rieder drückte auf die Hörertaste. Noch bevor er sich melden konnte, hörte er Damps atemlose Stimme. „Können Sie bitte schnell hierherkommen? Ich weiß nicht, was ich machen soll. Das ist hier völlig vertrackt.“
Rieder staunte. Seit er wieder auf der Insel war, hatte Damp noch nie so viele Worte an ihn gerichtet. Eigentlich herrschte zwischen Rieder und Damp Funkstille. Rieder musste sich allerdings eingestehen, nicht ganz unschuldig an der Stimmung im Revier zu sein. Es war nicht fair gewesen, Damp nicht über seinen Undercover-Einsatz im Winter auf der Insel zu informieren. Rieder hatte einen Mörder verfolgt, der nicht nur sein, sondern auch Damps Leben zuvor in Gefahr gebracht hatte. Nicht ganz ohne Rieders Schuld.
„Was ist denn passiert?“, fragte Rieder seinen Kollegen.
„Ich kann das jetzt nicht erklären“, wisperte Damp ins Telefon. „Ich kann hier nicht laut reden.“
„Sind Sie noch bei der Beerdigung?“
„Nein. Ich bin in Gildes Villa. Oben auf dem Schwedenhagen. Kommen Sie dahin.“ Noch bevor Rieder antworten konnte, hatte Damp das Gespräch beendet. Er starrte auf das Display. Dann schaute er Malte an, der ihn neugierig ansah. Malte war als Inselfunk an Informationen jeglicher Art interessiert.
„Irgendwas muss bei der Beerdigung von diesem …“, Rieder war schon wieder der Name entfallen.
„Gilde“, half ihm Malte aus und schlug sich zugleich mit der flachen Hand auf die Stirn „Mensch, zu der Beerdigung wollte ich eigentlich hin! Hoffentlich schaffe ich es noch zum Leichenschmaus im ‚Hitthim‘.“
„Wer war dieser Gilde?“
„Mensch, Rieder, wie lange bist du jetzt auf der Insel?“, stöhnte Malte auf. „Schon mal was von ‚Gildemeisters Backmischungen‘ gehört oder ‚Gildemeisters Suppen‘?“
„Ja, schon.“ Klar kannte er die bunten Packungen. Manchmal hatte er sich eine von den Tütensuppen der Firma Gildemeister gekocht. Typisches Single-Essen. „Und der Gilde wohnte hier auf der Insel?“
„Ja, klar. Er hatte ein Haus in Kloster“, antwortete Malte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sich die Reichen und Schönen auf Hiddensee niederließen.
„Ich soll zu Gildes Villa kommen. Zum Schwedenhagen. Wo ist denn das in Kloster?“
„Neben dem alten Institut der Universität Greifswald. Ein bisschen versteckt im Wald. Aber mit einem Superblick“, beschrieb Malte Rieder den Weg. Dann tippte er mit zwei Fingern an seine Schiffermütze und machte sich eilig auf den Weg zu seinem Haus in der Sprenge. Doch er blieb noch einmal stehen: „Und die Wiese?“
Rieder zuckte mit den Schultern. „Ich denke nochmal drüber nach.“