Strelitzia - Das Spiel seines Lebens

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Strelitzia - Das Spiel seines Lebens
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Strelitzia - Das Spiel seines Lebens

1  Titel Seite

2  Tilo Morbitzer

3  Prolog

4  I Junge Jahre

5  II Das große Abenteuer beginnt

6  III Ein traumhaftes Comeback

7  IV Aus der Traum

8  Epilog

9  Chronologie Strelitzia – Das Spiel seines Lebens

10  Abschließende Bemerkungen des Autors

Strelitzia - Das Spiel seines Lebens

Roman

„Wenn ich mir vorstelle, wie alles hätte sein können, bin ich dankbar dafür, wie es war“

In Gedenken an meine Oma Irma

(15.11.1925–03.03.2016)

Tilo Morbitzer

Tilo Morbitzer, geboren 1977 in Stuttgart, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Der studierte Sportwissenschaftler ist zudem Inhaber der UEFA Profi-Lizenz im Fußball und lebt mit seiner Familie in Wien. Derzeit arbeitet er als U-18 Trainer beim Fußballverein FC Flyeralarm Admira Wacker.

© 2019 Tilo Morbitzer

Feldbauern 84

7421 Tauchen am Wechsel, Österreich

gino.morbitzer@gmx.net

Umschlaggestaltung, Illustration: Tilo Morbitzer, Dr. Gabriele Herbst

Lektorat: Daniel Sauer und Media-Agentur Gaby Hoffmann, www.profi-lektorat.com

Verlag: Selfpublishing

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

Südafrika, Johannesburg, 25.10.1955, Doornfont-ein. In der Pearce Street, im wunderschönen Anwesen des allseits hoch angesehenen Juweliers, findet an diesem Abend in den Zeiten der Apartheid eine ungewöhnliche Zusammenkunft statt. Ein weißes Paar sitzt einem schwarzen Paar gegenüber. Das schwarze Ehepaar ist auf Einladung der Weißen gekommen, denn die Frau des Juweliers hatte am Vortag das Plakat durch einen Zufall entdeckt, deshalb musste das Treffen schnell einberufen werden. Würde jemand diese Situation durch ein Fenster von außen verfolgen, so wäre er Zeuge einer äußerst lebhaften Diskussion geworden, bei der ein reger verbaler Austausch, unterstützt von wilder Gestikulation, immer wieder in Phasen des Schweigens übergeht, die von starren Blicken zu Boden oder fassungslosem Kopfschütteln begleitet sind.

Hätte man den Ton zu dieser Szenerie, dann könnte man dieses auf den ersten Blick so gegensätzlich wirkende Verhalten besser verstehen. Die vier Anwesenden versuchen nämlich verzweifelt, eine Lösung für eine Situation zu finden, die fest mit der Hauptfrage des Abends verbunden ist: „Ist es tatsächlich möglich, dass er es ist?“

Und wenn ja, wie kann das sein? Was war passiert? Wo war er all die Jahre? Warum gab es so lange kein Lebenszeichen?

Nichts passt zusammen, denn 1952, vor drei Jahren, war er doch vom Bruder des Juweliers offiziell für tot erklärt worden. Damals folgte der Trauer auch eine gewisse Erleichterung. Die Erleichterung darüber, dass ihre Verschwörung niemals ans Licht kommen würde. Doch das würde keiner von ihnen offen zugeben.

Sie alle haben die Schuld, die sie sich damals aufluden, all die Jahre ertragen. Das schwarze Ehepaar, das sich gleichermaßen schuldig gemacht hat, kann bis heute seiner Tochter nicht in die Augen sehen, wenn es um den Vater ihres Enkelsohnes geht. Aber was ändert das? Sie hatten das Geld damals angenommen, damit war ihr Schweigen erkauft worden. Und schließlich hatten sie erfolgreich dafür gesorgt, dass ihr trauriges Geheimnis für immer verborgen bleiben würde. Sie hatten all die Briefe, die bis 1942 eintrafen, abgefangen und vernichtet sowie das schlechte Gewissen erfolgreich beiseitegeschoben.

Die schwarze Frau, deren Anmut und Schönheit eigentlich stets für Bewunderung sorgt, sitzt jetzt zusammengekauert neben ihrem Mann, dessen wuchtige Erscheinung ebenfalls weit weniger beeindruckend wirkt, als man es von ihr gewohnt ist. Die langen schwarzen Haare der Frau verdecken ihr hübsches Gesicht beinahe vollständig. Nur ab und zu hebt sie den Kopf, um der Diskussion zu folgen.

Das weiße Ehepaar hingegen sitzt mit unterschiedlichen Gefühlen an dem riesigen Esstisch aus Mahagoniholz. Er, der reiche Juwelier, war damals der Auslöser der Verschwörung. Sein schütteres blondes Haar fällt aufgeregt von einer Seite zur anderen, wenn er mit seinen groben Händen wild gestikulierend versucht, der Situation Herr zu werden. Oder zu bleiben? Er alleine hatte damals entschieden, wie es ablaufen sollte. Er war es auch, der sich die Zustimmung aller Beteiligten mit viel Geld erkauft hat, um seinen beruflichen Status nicht aufs Spiel zu setzen oder gar zu verlieren. Und selbst jetzt, als alles droht, zusammenzubrechen, ist er um die majestätische Haltung seines knapp 1,80 m großen Körpers bemüht. Seine Frau hockt mit ihren schulterlangen braunen Haaren nahezu apathisch neben ihm. Sie hatte sich der Entscheidung damals gebeugt, obwohl sie es kaum ertragen konnte. All die Jahre hat sie sich gewünscht, sie bekäme noch einmal die Möglichkeit, es zu verhindern. Gleich nach der überstürzten Abreise ihres Sohnes 1938 hatte sie im Geheimen einen Versuch unternommen, ihren Fehler zu korrigieren, indem sie seine Adresse in Deutschland auf mehrmaliges Drängen der Tochter des schwarzen Ehepaars herausgab. Aber offensichtlich bewirkte das damals nichts. Warum auch immer. Und jetzt? Sollte tatsächlich jetzt alles ans Licht kommen? Würde man ihr glauben, dass sie eigentlich nichts damit zu tun hatte? Dass sie all die Jahre todunglücklich damit war? Beinahe wortlos wohnt sie der Unterhaltung bei. Da sie ohnehin 20 Zentimeter kleiner ist als ihr Mann, verschwindet sie beinahe komplett hinter seiner dominanten Erscheinung.

Nach einigen Stunden verlässt das schwarze Ehepaar schließlich den Ort des Geschehens. Man hat sich zu einer gemeinsamen Entscheidung durchgerungen. Alle vier werden am 31.10.1955 zu dem Spiel gehen. Sie werden Felicia nichts davon sagen. Es kommt ohnehin, wie es kommen soll.

Südafrika, Johannesburg, 29.10.1955, Doornfontein. Der Mann steht wie gebannt mit starrem Blick vor dem Schaufenster eines Damenschuhgeschäfts. Eine Frau, die in ähnlicher Position davor stünde, hätte wahrscheinlich kaum jemanden überrascht, aber ein Mann, der dermaßen fokussiert in die Auslage eines Schuhgeschäftes starrt, bietet für die meisten Beobachter doch ein eher ungewohntes Bild. Seine schwarze Hautfarbe wirkt ein wenig blasser und seine 1,85 m Körperlänge ein wenig kleiner als sonst. Aber das würde nur jemandem auffallen, der ihn kennt. Seine Regungslosigkeit und sein nachdenklicher Blick könnten aufmerksamere Beobachter dennoch auf düstere Gedanken schließen lassen. Und sie würden recht behalten, denn hinter der Fassade des Mannes herrscht in diesem Moment grenzenlose Fassungslosigkeit, die aber nichts mit dem umfangreichen Angebot des Schuhhändlers zu tun hat. Vielmehr ist das Plakat, das am Schaufenster des ansonsten unauffällig dekorierten Schuhgeschäfts angebracht ist, der Blickfang des Mannes, der in diesem Moment weiß, dass sich nun die Chance seines Lebens ergeben könnte. Die Chance, eine alte Schuld zu begleichen. Er spürt, dass es ihm ganz egal ist, ob er damit die eigentlichen Verschwörer, die damals das ganze Unheil ausgelöst hatten, auffliegen lässt und sich vielleicht sogar selbst Schaden zuführen wird oder nicht. Ihm ist es in diesem Moment auch vollkommen gleichgültig, ob die Verschwörer überhaupt von der drohenden Gefahr der Enttarnung wissen. Eines ist auf jeden Fall sicher, er wird sie definitiv nicht warnen. Mit ein bisschen Glück würde er die einstige Weichenstellung korrigieren können, ohne dass seine eigene Mitschuld aufgedeckt wird. Niemand weiß von seiner Schuld und er hat davon auch niemals jemandem erzählt. Die einzige Ungewissheit, die sich ihm jetzt stellt, ist die Frage, ob er der Konfrontation mit der Vergangenheit, die nun mit größter Wahrscheinlichkeit bevorsteht, standhalten kann, ohne alle Karten auf den Tisch legen zu müssen. Aber die Hoffnung, dass er es schafft, das Schicksal nach siebzehn Jahren in die richtigen Bahnen zu lenken, ist groß. Viel größer als alle Zweifel daran.

Die eigentlichen Verschwörer werden sich ihrer Verantwortung stellen müssen, wenn sie es nicht bereits von sich aus tun werden. Aber nicht er. Seine Schuld wäre getilgt und die erdrückenden siebzehn Jahre des Schweigens würde er irgendwie mit sich alleine ins Reine bringen.

Mit diesen Gedanken lösen sich seine Erstarrung und seine Regungslosigkeit. Mit einem Schwung reißt er das Plakat vom Schaufenster, rollt es zusammen und marschiert schnellen Schrittes davon. Morgen würde er es seiner Schwester Felicia bringen. Daran wird auch die nächste Nacht nichts ändern können.

 

Und eines weiß er sicher: Er wird nicht zu dem Spiel gehen.

Südafrika, Johannesburg, 30.10.1955, Doornfontein. Felicia Mokoena hat an diesem Nachmittag den gewohnten Weg durch Doornfontein wie immer sehr genossen. Sie liebt es, wenn im südafrikanischen Frühling zwischen September und November die Bäume prachtvoll in den sonnengefluteten Alleen stehen und die ganze Stadt eine vorsommerliche Stimmung verströmt. Die sogenannten Jacaranda-Bäume hüllen die Straßen in ein wahrhaftiges Farbenmeer mit ihren glockenförmigen, meist purpur- bis malvenfarbigen Blüten. Jeder Atemzug ist wie eine neue Dosis Lebenslust. Sie hat die Einkäufe für das bevorstehende Wochenende erledigt und ist auf dem Heimweg zu ihrem kleinen Haus in der Buxton Street. Das Haus hat sie vor zehn Jahren von ihren Eltern übernommen, als diese sich für eine kleinere Unterkunft entschieden haben. Das kleine Haus mit Garten, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hat und für das Felicias Eltern, ihrer Meinung nach, ein Leben lang geschuftet haben. Ein Leben, das nie einfach war.

1922 war sie als Tochter des schwarzen Hausmeisterehepaars der örtlichen Schule, Tau sen. und Florence Mokoena, zur Welt gekommen. In Zeiten der Apartheid war und ist es ein täglicher Kampf, seinen Platz im Leben in einer Welt, die Menschen aufgrund ihrer weißen Hautfarbe noch immer bevorzugt, zu sichern. Doch das hat sie von ihren Eltern gelernt. Bis heute geht sie stolz und erhobenen Hauptes ihren Weg. Sie und ihr Sohn Tutu, für den sie alle verdammten, als er sich auf den Weg in diese Welt machte. Tutu zählt nämlich zu den sogenannten Coloureds, den Mischlingen in Südafrika, da sein Vater ein Weißer ist. Felicia hat die Hausmeisterstelle zusammen mit ihrem Bruder Tau jun. von den Eltern übernommen, als diese in den wohlverdienten Ruhestand gingen. Das Geld, das sie verdient, reicht gerade so zum Leben. Ihr Bruder Tau jr., der zwei Jahre älter ist als sie, lebt mit seiner Frau im selben Stadtteil.

Gleich wird Tutu ihr die Türe öffnen, ihr die Taschen abnehmen und dann werden sie bei Kaffee und Kuchen im Garten den Freitagnachmittag verstreichen lassen. In Felicias Garten stehen zwar keine Jacaranda-Bäume, aber sie freut sich dennoch auf ihre farbenprächtige Kulisse in ihrer kleinen Oase. Felicia pflegt mit Hingabe ihre Strelitzien, ihre Paradiesvogelblumen, die dem Stück Kuchen mit Tutu die würdige Atmosphäre liefern. Danach wird Tutu mit seinen Freunden unterwegs sein und das tun, was 16-Jährige nun mal so tun, wenn am nächsten Tag keine Schule ist. Felicia hat schon immer Vertrauen zu Tutu gehabt und ihn nie danach gefragt, mit wem er seine Zeit verbringt. Bis vor ein, zwei Jahren kannte sie noch all seine Freunde, denn Fußballspielen im Garten war das Einzige, was Tutu in seiner Freizeit wichtig war. Interessanterweise wollte er nie zu einem Verein gehen, um dort unter professionelleren Bedingungen Fußball zu spielen. Aber er liebt diesen Sport. Doch seit einigen Monaten gibt es an den Wochenenden offenbar Orte, die wesentlich mehr Anziehungskraft versprühen, als der heimische Garten. Neue Namen tauchen jetzt häufig in seinen Erzählungen auf, zu denen Felicia noch kein Gesicht hat. Mädchennamen sind allerdings Mangelware. Tutu scheint wohl ein Spätstarter zu sein. Vor allem, was zwischenmenschliche Beziehungen zu Mädchen anbelangt. Nicht, dass er sie nicht sehen und hübsch finden würde, aber es ist anscheinend noch nicht der richtige Zeitpunkt, sich auf mehr einzulassen. Auch wenn die Mädchen diese Einschätzung mit Tutu so manches Mal nicht teilen. Felicia weiß, dass sie einen aufgeweckten und verantwortungsvollen jungen Mann zu Hause hat, deshalb kommentiert sie all das mit einem Lächeln. Ihrem Lächeln, dessen Anziehungskraft man sich seit jeher nur schwer entziehen kann und welches Felicia ihrer Mutter beinahe aufs Haar gleichen lässt. Felicia hat ihre Schönheit zweifelsohne von ihrer Mutter Florence geerbt. Ihre Gesichtszüge sind noch etwas markanter, feiner und schärfer gezogen und dank einer stattlichen Größe von 1,75 m geht eine gewaltige Strahlkraft von ihr aus.

Ihr Lächeln strahlt noch heller, als sie auf den letzten Metern des Heimwegs ihren Bruder Tau jr. vor ihrer Haustür erblickt, der offenbar überlegt, ob er klingeln soll.

Tau jr., ihr Bruder, der sie ihr Leben lang beschützt hat. Der seinem Vater Tau sen. wie aus dem Gesicht geschnitten ist und auch im Wesen seinem alten Herrn immer ähnlicher wird. Harte Schale, aber weicher Kern. Sie liebt ihn, wie nur eine Schwester ihren Bruder lieben kann. Die Sicherheit, die ihr Tau jr. Zeit ihres Lebens gegeben hat, hat ihr immer wieder die Kraft gegeben, nach Rückschlägen aufzustehen und weiterzumachen. Damals, vor siebzehn Jahren, als sie mit Tutu schwanger war, und auch vor zwei Jahren, als sie einen neuen Mann kennenlernte, den sie drei Monate später bereits heiratete. Nach ein paar Affären in den Jahren zuvor, die allesamt so verheißungsvoll begannen und am Ende doch nur heiße Luft waren, hatte sie sich wieder dafür entschieden, ihr Herz einem netten Mann zu schenken, für den sie auch als alleinerziehende Mutter eines unehelichen Kindes interessant zu sein schien. Das war außergewöhnlich. Doch lange war der neue Mann nicht nett. Bereits ein paar Wochen nach der Hochzeit begann er, sich als Tyrann zu entpuppen. Felicias hübscher Körper war das Einzige, woran er Interesse hatte. Leider nicht, um ihm Gutes zu tun. Sobald sie sich nicht zu seiner Zufriedenheit um das Haus und sein leibliches Wohl kümmerte, schlug er sie. Ging sie aus und kam zu spät nach Hause, schlug er sie und es war ihr danach lange verboten, wieder auszugehen. Widersprach sie ihm, schlug er sie. Wollte sie ihren ehelichen Pflichten nicht nachkommen, schlug er sie solange, bis sie sich gefügig zeigte. Drohte sie mit Scheidung, schlug er sie ebenfalls und drohte mit noch schlimmeren Konsequenzen, falls sie es tatsächlich wagen sollte, sich gegen ihn zu stellen. So ertrug sie all seine körperlichen und seelischen Misshandlungen, bis zu dem Tag, an dem sich seine Aggressionen das erste Mal an Tutu entluden. Das konnte sie nicht mehr verantworten. Ein Jahr war vergangen seit der Hochzeit und in einem langen tränenreichen Gespräch beichtete sie ihrem Bruder Tau jr. schließlich alles. Tau jr. vermutete schon länger, dass etwas nicht stimmte, aber mit diesem Ausmaß hatte er niemals gerechnet. Was dann folgte, erinnerte sehr an Francis Ford Coppolas „Der Pate“, als Sonny Corleone zu Carlo, dem Mann seiner Schwester Conny fuhr, nachdem dieser sie wieder einmal grün und blau geschlagen hatte. Genauso wie Sonny schlug Tau jr. seinen Schwager krankenhausreif und eine Woche später willigte der „Göttergatte“ freiwillig in die Scheidung ein. Tau jr. machte ihm, wie damals Sonny Carlo, ein Angebot, das er nicht abschlagen konnte. Entweder er würde die Scheidungspapiere unterschreiben, ohne irgendwelche Ansprüche geltend zu machen, oder er würde nie wieder etwas unterschreiben können. Das war durchaus überzeugend. Der Spuk war vorüber.

Seither gibt es keinen festen Partner in Felicias Leben. Die Mauer, die sich seit diesen Ereignissen wieder um ihr Herz gebildet hat, ist höher, als je zuvor.

Doch ihr Bruder ist ihr Anker, ihr Fels in der Brandung. Sie begrüßt ihn freudestrahlend.

„Hallo Bruderherz“

Tau jr. erwidert ihre Begrüßung jedoch nicht. Er wirkt wie ein Angeklagter, der kurz vor der Verkündung des Schuldspruches vor einem Richter steht. Felicia hat nicht die Zeit, diesen Eindruck zu hinterfragen, denn als er das Plakat, das er die ganze Zeit in seinen Händen hält, vor ihr ausrollt, erfriert Felicias Lächeln im selben Moment. Sie nimmt die wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings nicht mehr wahr. Sie steht wie paralysiert vor Tau jr. und starrt auf das Plakat eines Fußball-Benefizspiels, das am morgigen Tag im Ellis Park Stadium stattfinden soll. Die Orlando Pirates spielen gegen eine Auswahl ehemaliger Stars. Anpfiff ist am frühen Nachmittag. Felicia weiß in diesem Moment, dass sie dort sein wird. Dort sein muss. Sie kann nicht anders.

Wie ferngesteuert geht sie wortlos an ihrem Bruder vorbei und schließt die Türe auf. Es ist, als ob sich der Nebel um vergangene Tage mit jedem Schritt verflüchtigt. Der Schleier fällt und die Erinnerungen sind da. An die vielen glücklichen Tage ihrer Kindheit und Jugendzeit.

Aber mit den glücklichen Tagen kehrt auch die Zeit der Trauer zurück, die Zeit der unendlichen Verzweiflung, der vielen offenen Fragen. Sie hatte sich damit abgefunden, niemals Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, als er vor drei Jahren für tot erklärt wurde. Doch nun ist sie wieder da, die Hoffnung, an der sie so lange festgehalten hat. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, eine der Weisheiten ihrer Mutter. Aber sie hat sie doch vor drei Jahren endgültig begraben. Die Hoffnung, die ihr so lange Kraft gegeben und sie am Ende doch nur noch gequält hat. Sollte sie sie wirklich wieder in ihr Leben lassen? Oder ist diese Namensgleichheit doch nur ein schlechter Scherz des Schicksals, um ihre alten Wunden wieder aufzureißen?

Tutu umarmt seine Mutter, wie er es jeden Tag tut. Das untrennbare Band zwischen den beiden. Sie hält ihn fest, für einen Moment zu lange. Tutu spürt, dass heute irgendetwas passiert sein muss. Doch er stellt die Frage danach nicht. Er weiß, dass sie ihm sagen wird, was er wissen muss, wenn es soweit ist. Alles andere ist unwichtig. Felicia weiß um dieses blinde Verständnis zwischen ihnen beiden und beim Gedanken daran, wie sehr er auch in dieser Hinsicht seinem Vater gleicht, kann sie die Tränen nur schwer zurückhalten.

„Morgen gehen wir zusammen zu diesem Fußballspiel. Das Benefizspiel im Ellis Park Stadium.“

Dieser Satz kommt ohne Vorankündigung zwischen zwei Bissen Apfelkuchen. Tutu fragt auch jetzt nicht nach, obwohl er seine Neugier kaum bremsen kann. Das Benefizspiel. Warum will sie das Spiel sehen? Ihm ist klar, dass sie weiß, wie sehr er Fußball liebt, aber sie ist noch nie zu einem Spiel mit ihm gegangen. Tutu dagegen hat kein Heimspiel der Orlando Pirates, gegründet 1937 als Orlando Boys Club, dem ältesten Verein des Landes, verpasst, seit er zwölf Jahre alt war. Der Verein lässt Kinder und Jugendliche ohne Eintritt ins Stadion. So war es nie eine Frage des Geldes, Fan der Pirates zu sein. Felicia hat seine Leidenschaft immer unterstützt, ihn immer machen lassen, aber dabei war sie nie. Warum jetzt? Warum dieses Benefizspiel, bei dem es um nichts geht? Aber trotzdem freut es ihn irgendwie, dass sie ihn begleiten will.

Die gedankliche Abwesenheit seiner Mutter, seit sie über die Türschwelle kam, ist ihm nicht entgangen, deshalb lässt er sie jetzt in ihrer Gedankenwelt. Schweigend genießen sie im Garten die letzten Sonnenstrahlen des Tages, der Kuchen schmeckt vorzüglich. Insofern ist es nicht schwierig, keine weiteren Fragen zu stellen. Als sich Tutu in den Abend verabschiedet, erhält er nur ein stummes Nicken zurück. Er geht und Felicia ist längst abgetaucht in die Welt ihrer Vergangenheit.

Strelitzia. Der Name hat noch immer eine magische Wirkung auf sie. Die Tränen laufen ihr jetzt sanft über die Wangen. Kann es wirklich sein, dass er es ist?