Der letzte Schnappschuss

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Der letzte Schnappschuss
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Der letzte Schnappschuss

Kriminalroman

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar

2. Auflage (überarbeitet)

Cover- und Buchgestaltung:

© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel

Cover- und Buchgrafiken:

© Depositphotos.com

Impressum Copyright: © 2019 Thomas Riedel Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Wir unterscheiden uns weniger

in unseren Hoffnungen

als durch die Art des Umgangs

mit der Hoffnungslosigkeit.«

Horst A. Bruder (*1949)


1

London, 1926

Selbstmord ist die einfachste Sache der Welt, dachte Whitney McFlaherty. Sie war schließlich nicht die erste, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollte, und sie würde bei weitem nicht die letzte sein. Die Unglücklichen springen von Aussichtstürmen oder Brücken, schneiden sich die Pulsadern auf, werfen sich vor Züge, hängen sich auf oder schlucken einfach eine Überdosis Schlaftabletten. Für diese Todesart hatte sich Whitney McFlaherty entschieden. Sie wollte nicht, dass alles voll Blut war, wenn sie nicht mehr lebte. Sie hatte sich immer vor Blut geekelt, ob es nun das von fremden Menschen oder ihr eigenes gewesen war. Nein, es sollte kein Blut fließen. Sie sollte aussehen, als würde sie schlafen. Es würde schmerzlos sein. Und dann würde sie endlich Ruhe finden. Die grelle Nachmittagssonne stahl sich durch die Lamellenjalousie ihres Schlafzimmers und zeichnete ein Gerippe auf den weichen, flauschigen Teppich.

Draußen war ein herrlicher Tag.

Eigentlich viel zu schön zum Sterben. Sie hatte sich den Tag ihres Todes grau und düster vorgestellt. Die Welt nahm nicht einmal in diesem Augenblick Anteil an ihrem heftigen Schmerz.

Sie ging zur Schlafzimmertür und überzeugte sich, dass sie abgeschlossen war. Sie wollte in diesem schweren Moment nicht gestört werden. Ihr Entschluss stand unumstößlich fest. Nun wollte sie ihn durchführen und niemand sollte sie daran hindern.

Sie begab sich ins Bad und holte eine noch verschlossene Phiole mit Schlaftabletten aus dem Medikamentenschrank. Ihr junges Gesicht verlor die Farbe, angesichts der zwanzig Tabletten, die für sie den Tod darstellten. Sie strich sich mit zitternder Hand das rostrote Haar aus der Stirn und öffnete dann den Aluverschluss.

Nun griff sie nach einem Glas und füllte es mit Wasser. Sie war aufgeregt und nervös. Aber sie hatte keine Angst vor dem Sterben. Sie hatte sich damit abgefunden, dass es sein musste. Sie hätte nur Angst vor quälenden Schmerzen gehabt, doch die verursachten Schlafmittel ja nicht.

Whitney McFlaherty hielt das Glasröhrchen über das Wasserglas, kippte es leicht und ließ alle zwanzig Tabletten hineinfallen. Geduldig sah sie zu, wie die weißen Tabletten weich wurden und sich schließlich auflösten. Das Wasser wurde zuerst trübe und dann weiß wie Milch. Mit dem Griff der Zahnbürste rührte sie das tödliche Getränk um, ging ins Schlafzimmer zurück und setzte sich auf den Bettrand.

Nun wurden ihre Knie doch ein wenig weich. Sie hatte Angst, der Mut könnte sie verlassen. Zwei kalte Tränen rollten über ihre heißen Wangen.

Sie setzte das Glas schnell an die bebenden Lippen und begann, hastig zu trinken. Es fiel ihr schwer, das bittere Zeug zu schlucken. Ihr wurde während des Trinkens übel, doch sie setzte das Glas nicht mehr ab. Sie zwang sich, das Glas bis zum letzten Tropfen zu leeren. Ekel und ein bitterer Geschmack erzeugten ein Knebelgefühl in ihrem Hals.

Sie stellte das Glas angewidert auf das Nachttischchen, griff nach dem Kuvert, das darauf lag, und lehnte es an das Glas, so dass niemand es übersehen konnte. Es war der Abschiedsbrief für ihren Mann. Sie war sicher, dass Malcolm aus allen Wolken fallen würde, wenn das hier vorbei war. Und sie hätte es bestimmt nicht getan, wenn sie einen anderen Ausweg gehabt hätte.

Seufzend griff sie nach der schwarzen Schlafmaske, die sie immer aufsetzte, wenn sie sich hinlegte. Sie legte sich das samtweiche Ding auf die Augen. Eine wohltuende Dunkelheit umfing sie. Nun legte sie sich auf das Bett. Kerzengerade. Auf den Rücken. Als wäre sie aufgebahrt.

Dann musste sie warten. Sie fühlte, dass ihr Herz langsamer schlug! Und leiser. Sie spürte, dass sie ruhiger wurde. Die Welt um sie herum, das Schlafzimmer - alles wurde unwirklich.

Die Wehmut, mit der sie aus dem Leben schied, die Verzweiflung, die sie zu diesem Schritt getrieben hatte alles wurde klein, unscheinbar, unwichtig. Eine bleierne Müdigkeit bemächtigte sich ihrer. Ihr Denkvermögen wurde allmählich schwächer. Sie konnte das alles genau registrieren.

Die Müdigkeit kroch von den Beinen nach oben. Höher. Immer höher. Doch diesmal war es kein wohltuender, erfrischender Schlaf, der da kam.

Diesmal war es der Tod ...



2

Malcolm McFlaherty kletterte gutgelaunt aus seinem weißen Straßenschiff. Die Sonne tanzte übermütig auf seiner Nase. Sie sollte ruhig noch ein paar Wochen lang kräftig scheinen. Der gleißende Feuerball dort oben am Himmel war McFlahertys größter Verbündeter.

Er produzierte Limonade in allen erdenklichen Varianten. Ohne Sonne keine Limonade. Deshalb liebte er die Sonne und freute sich über jeden Tag, an dem sie schien.

Man konnte ihn als einen sportlichen Typ bezeichnen. Er ging auf Großwildjagd, fischte, hatte eine Yacht und einen Sportwagen und flog ein eigenes Flugzeug. Eine Zeitlang war er bei der Luftwaffe gewesen. Aber da hatte es Vorgesetzte gegeben, mit denen er sich nicht verstanden hatte. Deshalb hatte er seinen Abschied genommen.

Er hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Seine Haut war immer sonnengebräunt.

McFlaherty ging mit federnden Schritten auf den Eingang seines Hauses zu.

Die Tür öffnete sich wie von selbst, und ein Mann im hellgrauen Anzug erschien. Es war der Diener. Er hieß Malcolm McFlaherty wie jeden Tag herzlich willkommen. Dabei legte er eine überschwängliche Freundlichkeit an den Tag, als ob der Herr des Hauses gerade eben aus Afrika oder Indien zurückgekehrt wäre.

»Wie geht es, Finley?«, fragte McFlaherty.

Es war beinahe ein Ritual. Es war zu einem Spiel mit verteilten Rollen geworden. Finley hieß den Dienstgeber herzlich willkommen, und dieser erkundigte sich nach dem Befinden des Dieners. Und Finley sagte auch heute wieder, so wie jeden Tag: »Danke, Sir. Mir geht es gut.«

»Fein«, erwiderte Malcolm McFlaherty. Er griff in die Tasche seines senffarbenen Kammgarnanzuges und holte eine kleine, längliche, schmale Schachtel hervor. Auf dem Deckel waren Name und Anschrift eines Londoner Juweliers in Gold eingeprägt. »Wo ist meine Frau, Finley?«, fragte McFlaherty mit einem jungenhaften Lächeln. Er brannte darauf, seine Frau überraschen zu können.

Der Diener hob den Kopf und blickte zur Decke. Denn ungefähr da befand sich Whitneys Schlafzimmer. »Mrs. McFlaherty befindet sich in ihrem Schlafzimmer, Sir.«

McFlaherty lachte. »Was? Um diese Zeit?«

»Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl, Sir.«

»Haben Sie mal nach ihr gesehen?«

Der Diener schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«, fragte McFlaherty.

»Ihre Frau sagte ausdrücklich, sie wünsche nicht gestört zu werden, Sir.«

»Vielleicht hätte sie irgendetwas gebraucht.«

»Ihr Frau ließ mich wissen, sie würde klingeln, wenn sie etwas benötigte, Sir.«

»Sie wird sich gleich wohler fühlen, wenn sie sieht, was ich für sie gekauft habe.«

Da es sich für einen guten Diener nicht ziemt, an den Dienstgeber Fragen zu stellen, begnügte sich Finley mit einem fragenden Blick.

Malcolm McFlaherty blinzelte ihn vergnügt an. »In dieser kleinen Schachtel befindet sich das Platinarmband, von dem sie schon seit Wochen träumt.«

Finley nickte. Das war es, was er gern wissen wollte. Nun wusste er es. Ohne gefragt zu haben.

McFlaherty schob ihn zur Seite und lief auf die Treppe zu, die nach oben führte. Er nahm gleich drei Stufen auf einmal, um schneller im Obergeschoß zu sein. Mit großen Sätzen rannte er auf die Tür zu, die in das Schlafzimmer seiner Frau führte. Er klopfte. »Whitney?« Er wartete und lächelte in Vorfreude. »Whitney!«, rief er noch einmal. »Ich bin es, Malcolm! Darf ich eintreten?« Er bekam keine Antwort. Deshalb klopfte er noch einmal, diesmal lauter und ungestümer.

Vielleicht schlief sie. Dann wollte er sie jetzt wecken. Der Tag war zu schön um zu schlafen. Außerdem wollte er ihr das Armband geben, sich über ihre Freude freuen und anschließend noch irgendetwas mit ihr unternehmen. Irgendetwas. Er war heute von einer unbändigen Unternehmungslust beseelt, und das kam bei ihm nicht allzu oft vor. »Whitney!«, rief er erneut, nachdem er ein weiteres Mal geklopft hatte. »Whitney?«

 

Drinnen blieb es still. Das kam ihm zwar sonderbar vor, aber er machte sich in diesem Augenblick deswegen noch keine Sorgen. »Whitney! Ich weiß, dass du da drinnen bist! Warum antwortest du nicht?« Er griff nach der Klinke und musste feststellen das abgeschlossen war. Wieder rief er ihren Namen, jetzt schon deutlich unruhiger. Er klopfte erneut. »Fühlst du dich nicht wohl, Whitney? Was ist denn los? Warum machst du nicht auf?« Als sie immer noch nicht reagierte, ballte er die Faust und knallte sie ärgerlich gegen das Türblatt. »Whitney! Nun komm schon! Sei doch nicht albern! Was soll der Unfug? Mach endlich auf. Ich habe dir etwas mitgebracht. Du musst es dir unbedingt ansehen.«

Allmählich stiegen in ihm ernstliche Zweifel auf, ob mit seiner Frau alles in Ordnung war. Sie hatte sich in der Vergangenheit schon häufiger in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, doch da war jedesmal ein mehr oder weniger heftiger Streit vorangegangen. Danach hatte sie allein sein wollen. Ein durchaus verständlicher Wunsch. Aber was hatte das heute zu bedeuten? Sie hatten sich schon ein paar Monate lang nicht mehr gezankt. Es war alles in Ordnung zwischen ihnen.

»Whitney!«, rief er nun beunruhigt. »Um Himmels willen, Whitney!«

Finley kam wie ein geprügelter Hund die Treppe hochgeschlichen. »Es ist doch hoffentlich nichts passiert, Sir«, sagte der Diener mit belegter Stimme.

McFlaherty wandte sich mit flackerndem Blick nach ihm um. »Brechen Sie die Tür auf, Finley!«, verlangte Malcolm McFlaherty kurzentschlossen.

Der Diener riss die Augen auf. »Sir …«

»Machen Sie schon, was ich sage!«, bellte McFlaherty gereizt.

Finley nickte. Er trat drei Schritte zurück und rannte dann gegen die Tür. Er warf sich mit der Schulter dagegen. Dem ersten Ansturm vermochte die Tür standzuhalten. Dem zweiten und dem dritten ebenfalls. Finley wurde puterrot im Gesicht. Er keuchte und warf sich ein viertes Mal gegen die Tür, die bereits einmal leise geknackt hatte. Diesmal splitterte das Holz mit einem hässlichen Geräusch. Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Finley taumelte in den düsteren Raum hinein.

Malcolm McFlaherty drängte ihn zur Seite.

Seine Frau lag kerzengerade auf dem Bett. Der Lärm hätte sie selbst dann wecken müssen, wenn sie eine oder zwei Schlaftabletten eingenommen hatte. Es stimmte irgendetwas nicht mit ihr.

McFlaherty glaubte, sein Herz würde aussetzen, als er den Eindruck hatte, seine Frau würde nicht mehr atmen. Er eilte zum Bett.

Sie bot einen beunruhigenden Anblick. Ihr Gesicht war kreideweiß, soweit es nicht von der schwarzen Schlafmaske verdeckt war. Sie lag vollkommen still auf dem Rücken. Als würde sie schlafen. Aber sie atmete nicht.

McFlaherty fasste blitzschnell nach ihrem Handgelenk. Kein Puls, dachte er entsetzt. Sein Gesicht wurde fahl. Er nahm seiner Frau die Schlafmaske ab. Die Lider waren geschlossen. Sein entsetzter Blick irrte umher und fiel auf das Kuvert, das an dem Glas lehnte. ›An meinen Mann‹ stand darauf.

Ein Abschiedsbrief. Er erstarrte. Eine kalte Faust griff an sein Herz und versuchte, es zu zerdrücken. Er begriff. »Whitney!«, schrie er in wahnsinnigem Schmerz auf. Dann ließ er sich erschüttert auf das Bett fallen und umklammerte weinend seine Frau. Er hatte nicht die Kraft, sich zu beruhigen.



3

»Rufen Sie sofort Dr. Wellington an, Finley!«, keuchte McFlaherty nach einigen Minuten. »Sagen Sie ihm, dass meine Frau vermutlich eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hat. Er soll auf dem schnellsten Weg hierherkommen.«

»Ja, Sir. Ja!«, presste der Diener benommen hervor. Er wankte aus dem Schlafzimmer und hastete so schnell er konnte die Treppe hinunter. »Es hat doch keinen Zweck mehr den Arzt zu bemühen«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Sie ist tot … und nicht mehr zu retten!«

Doch ihr verzweifelter Mann weigerte sich, diese schreckliche Tatsache zu akzeptieren. McFlaherty wischte sich mit dem Handrücken über den zitternden Mund. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Briefumschlag – zögernd, als hätte er Angst vor dem, was sich in dem Kuvert befand.

Ungeschickt begann er damit, den Umschlag aufzureißen. Er leckte sich mit der Zunge über die strohtrockenen Lippen. Ein Blatt Papier fiel ihm in den Schoß. Es war leer, oder zumindest beinahe leer. Die wenigen Worte, die sie für ihn niedergeschrieben hatte, konnte er mit einem Blick überfliegen.

Sie muss sehr aufgeregt gewesen sein, als sie diese Worte geschrieben hat, ging es ihm durch den Kopf. Er erkannte ihre Schrift kaum wieder. Ihre Hand musste gezittert haben. Ein heller Fleck zeigte an, dass sie während des Schreibens geweint hatte.

Er las: »Bitte verzeih mir, Malcolm. Ich wusste nicht mehr weiter.«

Das ist alles?, dachte er und knüllte das Papier verzweifelt zusammen. Was ist das für ein Brief? Was soll ich damit anfangen? Der Brief gibt mir keinen Aufschluss, warum Whitney sich das Leben genommen hat. »Warum, Whitney?«, rief er gequält. »Warum hast du das getan?«

*

Zwanzig Minuten, nachdem Finley den Hausarzt angerufen hatte, traf Dr. Wellington ein. Er war ein kleiner Mann mit schlohweißem Haar, einer stabilen Hornbrille auf der Nase und Tausenden von Sommersprossen im faltenreichen Gesicht. Während der Mediziner die Tote untersuchte, mussten McFlaherty und sein Diener vor dem Schlafzimmer warten. Nervös rauchte der Hausherr zwei Zigaretten hintereinander.

Dann öffnete sich wie in Zeitlupe die Schlafzimmertür.

Dr. Wellington brauchte kein Wort zu sagen. Sein Gesicht sprach Bände.

McFlaherty starrte den Arzt, mit dem er schon seit Jahren eng befreundet war, fassungslos an. Es schien, als würde er durch ihn hindurchsehen.

Bedauernd zuckte Wellington die Achseln. Auch ihn traf der Tod der Frau seines Freundes schmerzlich. »Es tut mir sehr leid, Malcolm.«

»Sie ist ...?«

»Ja«, bestätigte er die unausgesprochene Frage. »Ich konnte nichts mehr für sie tun.«

Wenngleich McFlaherty mit dieser Nachricht gerechnet hatte, war er von der Gewissheit so niedergeschmettert, dass er wankte und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

»Soll ich dir eine Beruhigungsspritze geben, Malcolm?«, fragte sein Freund besorgt.

McFlaherty hörte ihn nicht. Er schüttelte zwar den Kopf, doch das galt seiner Frau und ihrem Freitod, den er einfach nicht begreifen konnte.



4

McFlahertys weitläufiges Grundstück wurde von hohen, beinahe gewaltig wirkenden, immergrünen Klebsamen-Sträuchern eingesäumt, die sich auf den Britischen Inseln ohne weiteres im Freien kultivieren ließen und kalte Winter gut überstanden.

Colin Bradley ließ seinen blauen ›Cunningham‹ vom Typ ›Series V3‹ auf das Haus des Limonadenproduzenten zurollen. Es war eine imposante Villa im viktorianischen ›Queen-Anne-Stil‹, zu dessen Merkmalen die Verbindung verschiedener Materialen gehörte, wie feingliedriges und warmes Ziegelmauerwerk mit weiß gestrichenen Holzfassaden und hellem Kalkstein. McFlahertys Villa beeindruckte durch ihre zahlreichen Erker, zum Teil übereinandergestellt, ihre Ecktürme und die pittoreske, unsymmetrische Fassade – auch war der Hausgang tiefgelegen und mit breitem Vordach versehen.

Er stieg aus dem Wagen, klingelte und wartete darauf, dass man ihm öffnete.

»Sie wünschen, Sir?«, erkundigte sich Finley keine Minute später und sah ihn fragend an.

»Mein Name ist Colin Bradley. Mr. McFlaherty erwartet mich«, erwiderte Bradley freundlich lächelnd.

»Folgen Sie mir bitte, Sir.« McFlahertys Diener führte ihn durch eine recht düstere Halle an einem prunkvollen Lehnstuhl vorbei und weiter durch eine schwere Mahagonitür in eine ebenso getäfelte, geräumige Bibliothek, aus deren großen Fenstern man einen herrlichen Ausblick auf das Grundstück hatte.

An einem dieser Fenster saß ein Mann in einem Lehnstuhl. Auf seinen Knien lag ein aufgeschlagenes Buch, aber er las nicht. Sein Gesicht war fast genauso weiß wie die Decke des Raumes.

»Mr. Bradley, Sir«, sagte Finley leise, als wollte er seinen Arbeitgeber nicht erschrecken.

Der Hausherr nickte wie in Trance. Er erhob sich mechanisch und lächelte, doch Bradley wusste nur zu gut, was von diesem Lächeln zu halten war. »Guten Tag, Mr. Bradley«, begrüßte er ihn, wobei er ihm seine kraftlose Hand reichte. »Vielen Dank, dass Sie gleich gekommen sind.«

»Guten Tag, Mr. McFlaherty«, erwiderte Bradley und drückte nicht sehr fest zu.

»Bitte, … nehmen Sie doch Platz.«

»Danke«, lächelte Bradley und ließ sich auf dem ledergepolsterten Fauteuil nieder, auf den McFlaherty gezeigt hatte.

»Möchten Sie einen Drink, Mr. Bradley?«, erkundigte sich McFlaherty.

»Einen Whisky, wenn das möglich ist.«

McFlaherty nickte. »Natürlich ist das möglich ... Sie haben es gehört, Finley!«

Der Diener nickte dienstbeflissen und begab sich zur Bar. Er brachte das Gewünschte und stellte das Glas vor Bradley auf den niedrigen Rauchertisch.

McFlaherty setzte sich auf den Fauteuil, der Bradley gegenüberstand, während sich Finley, auf ein Nicken des Hausherrn, lautlos aus der Bibliothek zurückzog.

Bradley nippte schweigend am Drink, während er den Hausherrn musterte, der auf den Boden starrte und nach Worten zu suchen schien.

»Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll«, stellte sein Gastgeber nach einer Weile, mit einem hilflosen Achselzucken, fest. »Sie müssen verstehen: Es ist sehr schwer für mich ... Whitney … meine Frau … Sie hat sich gestern mit Schlaftabletten das Leben genommen.«

»Mein Beileid«, nickte Bradley aufrichtig.

McFlaherty schüttelte den Kopf. Er biss sich in die Unterlippe und legte die Stirn in Falten. »Ich … ich kann es immer noch nicht begreifen, Mr. Bradley.«

»Ich kann Sie sehr gut verstehen.«

»Whitney und ich ... Nun, wir führten, was man allgemein eine gute Ehe nennt. Es hat fast nie ein böses Wort zwischen uns gegeben. Deshalb verstehe ich nicht, wie es zu solch einer Kurzschlusshandlung kommen konnte ... Sie hatte alle Annehmlichkeiten, die man sich vorstellen kann, und ich war bestrebt, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Dann passiert plötzlich so etwas ...« Er kämpfte mit seiner immer wieder versagenden Stimme und aufsteigenden Tränen. »Sie bringt sich mit Schlaftabletten um. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum sie das getan hat. Das macht mich fast wahnsinnig. Können Sie das verstehen?«

»Natürlich, Mr. McFlaherty.« Bradley nickte und nahm einen Schluck vom Whisky. Nachdem er das Glas abgesetzt hatte, sagte er: »Menschen, die einen Suizid begehen, hinterlassen im allgemeinen einen Abschiedsbrief, in dem sie ihre Verzweiflungstat begründen.«

McFlaherty wischte sich mit zitternden Fingern über die müden Augen. Man sah ihm an, dass er während der vergangenen Nacht kein Auge zugetan hatte.

»Meine Frau hat einen Brief hinterlassen, Mr. Bradley. Aber sie erklärt darin nichts. Überhaupt nichts.«

»Darf ich das Schreiben einmal sehen?«

McFlaherty nickte. Er griff in die Innentasche seiner Anzugjacke und brachte ein zerknülltes Blatt Papier zum Vorschein. Bevor er es ihm überreichte, versuchte er, es kurz zu glätten.

Bradley entfaltete den Bogen, las die wenigen Worte und gab das Schreiben wieder zurück. »Ihre Frau muss sich in einer ausweglosen Lage befunden haben, Mr. McFlaherty.«

»Aber genau das ist es ja, was ich mir nicht vorstellen kann. Sie hätte mir sicher gesagt, was sie bedrückt. Sie hat es mir immer erzählt. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.«

Bradley hob leicht die Hand. »Mit aller Bestimmtheit können Sie das nur von sich selbst behaupten, Mr. McFlaherty«, gab er zu bedenken.

»Ich bin mir diesbezüglich ganz sicher ...«

»Kein Mensch vermag in die Seele des anderen hineinzusehen«, widersprach Bradley kopfschüttelnd. Lächelnd fügte er hinzu: »Auch, wenn es Dichter gibt, die der Ansicht sind, dass der Frauen Seele so winzig sei, dass man annehmen könne, sie würde gänzlich fehlen.«

 

»Ich kannte meine Frau so gut wie mich selbst«, beharrte McFlaherty.

»Vielleicht hatte sie nur ein einziges Geheimnis vor Ihnen und gerade das wurde ihr zum Verhängnis."

Sein Gegenüber seufzte. »Deshalb habe ich Sie durch meinen Diener verständigen lassen und um Ihr Kommen gebeten, Mr. Bradley. Ich gebe zu, es besteht die Möglichkeit, dass meine Frau ein solches Geheimnis gehabt hat … Obwohl, … glauben kann ich das nicht. Es ist eine furchtbare Ungewissheit ...« Er erhob sich und ging mit steifen Schritten in der Bibliothek auf und ab.

Bradley sah ihm bei seiner ziellosen Wanderung zu, sagte aber kein Wort. McFlaherty war ein gebrochener Mann, ein Mann, den der Blitz aus heiterem Himmel getroffen hatte. Er hielt sich an seinen Whisky, trank aus und schob das Glas von sich, was jedoch nicht heißen sollte, dass er noch einen weiteren Drink haben wollte – es war eine abschließende Geste.

Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb der Hausherr vor ihm stehen und Bradley sah zu ihm auf. Aus unendlich traurigen Augen sah ihn der Mann lange an, ehe er sagte: »Diese Ungewissheit macht mich ganz krank, Mr. Bradley.«

»Das würde mir an Ihrer Stelle nicht anders gehen, glauben Sie mir.«

»Ich muss mir Klarheit verschaffen, Mr. Bradley.«

»Natürlich«, nickte Bradley.

»Ich muss einfach wissen, warum meine Frau so etwas Schreckliches getan hat.«

»Aber glauben Sie, dass Sie sich danach besser fühlen werden?«, fragte Bradley mitfühlend.

»Dass kann ich erst sagen, wenn ich den Grund kenne … Ich bitte Sie, finden Sie die Wahrheit heraus, Mr. Bradley«, erwiderte er ernst. Seine Kiefer mahlten und seine Backenmuskeln zuckten. »Ich will es wissen. Ich muss es wissen. Ich muss alles wissen. Selbst wenn es sehr bitter für mich sein sollte.«