Wissenschaftsethik

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1.2 Was kann die Wissenschaftsethik leisten?

Als Teilbereich der Philosophie und insbesondere der Wissenschaftsphilosophie teilt die Wissenschaftsethik die Ziele dieser Fächer. Die Ziele dieser Fächer werden jedoch von verschiedenen Philosophen sehr unterschiedlich gesehen. Ein Ziel der Wissenschaftsphilosophie ist es auf jeden Fall, zu verstehen, wie die verschiedenen Wissenschaften funktionieren und was sie charakterisiert, d. h. was Wissenschaft zur Wissenschaft macht. Die theoretische Wissenschaftsphilosophie richtet sich auf die theoretisch-philosophischen Aspekte dieser Fragestellung, wie die Überprüfungs- und Begründungsweisen von wissenschaftlichem Wissen, die Struktur wissenschaftlicher Erklärungen, die Rolle von Naturgesetzen in den Wissenschaften, die Interpretation wissenschaftlicher Theorien, die Analyse wissenschaftlicher Kernbegriffe usw. Durch Klärung dieser Fragen soll ein gutes Bild davon entstehen, was Wissenschaft genau ist und wie sie in der Lage ist, verlässliches Wissen zu produzieren. Ein weiteres Ziel der theoretischen Wissenschaftsphilosophie liegt darin, das von den Wissenschaften produzierte Wissen sowie die gebrauchten Produktionsmethoden kritisch zu reflektieren, Schwächen aufzudecken und in dieser Weise die Wissenschaften bei ihrer Arbeit zu unterstützen (Reydon und Hoyningen-Huene, 2011). In diesem Bild stellt die Wissenschaftsphilosophie die „Selbstverständlichkeiten“ der Wissenschaften – das als verlässlich angenommene Wissen sowie die als gut funktionierend angesehenen Forschungsmethoden – in Frage (ebd.). Die Wissenschaftsethik hat ähnliche Ziele, bezieht sich aber bei deren Erarbeitung auf die moralischen und gesellschaftlichen Aspekte der Wissenschaftspraxis.

Wie alle Teilgebiete der Philosophie muss sich die Wissenschaftsethik jedoch bezüglich ihrer Ziele bescheiden geben. Die Philosophie produziert selbst kein positives Wissen über die Beschaffenheit der natürlichen und sozialen Welt, wie es die Natur- und Sozialwissenschaften tun (ebd.). Vielmehr zeigt sie uns die unterschiedlichen Aspekte der Dinge, d. h. die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt, in der wir leben. Der berühmte Philosoph Bertrand Russell schreibt in seinem Buch Probleme der Philosophie (1912) diesbezüglich:

„Die Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen, wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere Gewissheiten darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten.“ (Russell, 1967, S. 138).

Mit anderen Worten: Die Philosophie bietet keine endgültigen Antworten auf die Fragen an, die sie stellt, sondern zeigt uns lediglich mögliche Antworten und Positionen und analysiert, was gute Argumente für bzw. gegen diese möglichen Antworten und Positionen sein könnten.

Gleiches gilt auch für die Wissenschaftsethik: Sie kann auf mögliche moralische Probleme bezüglich der Wissenschaften und ihre möglichen Ursachen hinweisen, unterschiedliche Sichtweisen auf solche Probleme vorschlagen und erörtern, was für bzw. gegen diese verschiedenen Sichtweisen gesagt werden könnte. Sie kann jedoch diese Probleme für die Wissenschaften nicht lösen. Hier sind die einzelnen Wissenschaftler selbst gefragt, wie auch die verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen und die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft als Ganzes. Wie im Verlauf dieses Buchs deutlich werden sollte, soll sich die Wissenschaft als (zumindest teilweise) autonomer Bereich selbst ihre Werte und Normen geben. Die Wissenschaftsethik kann den Wissenschaften lediglich als beratende Instanz zur Seite stehen – sie kann nicht für sie ihre Werte und Normen festsetzen.

Diesbezüglich soll angemerkt werden, dass hier nicht nur die Naturwissenschaften im Blick sein sollen, sondern alle Bereiche der Wissenschaft. Wenn von Wissenschaftsethik die Rede ist, geht es auch immer um wissenschaftliches Fehlverhalten, d. h. um Tatbestände wie die Fälschung von Forschungsergebnissen, die Sabotage der Forschung von Konkurrenten, Ideendiebstahl oder auch Plagiate, die überall in der Wissenschaft vorkommen können und auch tatsächlich auftreten.2 Viele Diskussionen und Ansätze in der Wissenschaftsethik beziehen sich in erster Linie auf die spezifische Situation in den Naturwissenschaften und der medizinischen Forschung, weil sehr viele der bekannten und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierten Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens gerade in diesen Bereichen der Wissenschaft aufgetreten sind. Ein sehr bekanntes Beispiel ist der Fall des Biologen Paul Kammerer, der sich dem Vorwurf der Fälschung einiger Ergebnisse seiner Forschung zur Vererbung bei Geburtshelferkröten (Alytes obstetricans) ausgesetzt sah und im Laufe der Kontroverse über diesen Vorwurf 1926 Selbstmord beging.3 Ein weiteres sehr bekanntes Beispiel ist der Fall des so genannten „Piltdown-Menschen“, in dem der Amateur-Archäologe Charles Dawson Knochenreste unterschiedlicher Arten bearbeitete, chemisch alterte und zusammen als die Überreste einer bis dahin unbekannten Menschenart (Eoanthropus dawsoni) präsentierte. Obwohl sich dieser Fall schon am Anfang des 20. Jahrhunderts abspielte, wurde er erst in den 1950er-Jahren aufgedeckt (Broad und Wade, 1982, S. 119–122; Weiner, 1955). Und auch in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte finden sich einige bekannte Beispiele wissenschaftlichen Fehlverhaltens im naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich. Zu denken wäre an den Fall des Physikers Jan-Hendrik Schön (beschrieben in Reich, 2009) und den Fall des Klonforschers Hwang-woo Suk4, die beide im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts für Schlagzeilen in den Medien sorgten. In beiden Fällen ging es um die nachgewiesene Fälschung von Forschungsergebnissen in Veröffentlichungen in prominenten Fachzeitschriften wie Science und Nature. Die Geschichte hat jedoch deutlich gezeigt, dass das Auftreten von Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens sicherlich nicht auf die Naturwissenschaften und die Medizin beschränkt ist. Bekannte Beispiele aus den Sozialwissenschaften sind die Betrugsfälle der Psychologen Cyril Burt (Broad und Wade, 1982, 203–211) und Diederik Stapel (Commissie Levelt, 2011). Aus anderen Bereichen der Wissenschaft können beispielhaft die Plagiatsvorwürfe zu den Dissertationen des ehemaligen Bundesverteidigungsministers zu Guttenberg (Rechtswissenschaften; der Fall spielte 2011) sowie der ehemaligen Bundeswissenschaftsministerin Schavan (Erziehungswissenschaften; der Fall spielte hauptsächlich 2012–2013 und ist derzeit noch nicht abgeschlossen) erwähnt werden. Im Grunde kann kein Bereich der Wissenschaft für sich beanspruchen, gänzlich frei von Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu sein.

1.3 Abschließende Bemerkungen

Abschließend lässt sich sagen, dass die Wissenschaftsethik Wissenschaftlern Orientierungswissen für moralisch knifflige Situationen bieten kann, indem sie mögliche Bewertungen und Positionen aufzeigt. Allerdings sollten hier die Erwartungen nicht zu hoch gesteckt werden. Die Wissenschaftsethik bietet zwar einige Hinweise zur Orientierung in schwierigem Terrain, den richtigen Weg müssen die Wissenschaftler jedoch letztendlich selbst finden.

1 Als weiterführende Lektüre zur Metaphilosophie eignen sich u. a. Joll (2010) oder Williamson (2007). Zu diesen Fragen mit einem spezifischen Bezug zur Wissenschaftsphilosophie, siehe Reydon und Hoyningen-Huene (2011).

2 Eine sehr lesenswerte Geschichte wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist Broad und Wade (1982).

3 Der Fall Kammerer ist nach wie vor ein kontroverses Thema in der Wissenschaftsgeschichte. Eine empfehlenswerte Lektüre dazu ist Koestler (1971).

4 Siehe dazu Cyranoski (2004), Check und Cyranoski (2005) sowie eine „news special“ der Fachzeitschrift Nature (online verfügbar auf http://www.nature.com/news/specials/hwang/index.html).

2 Was ist Ethik?

Das vorliegende Kapitel bietet eine kurze Einführung in das Fach Ethik sowie in die wichtigsten ethischen Theorien und stellt das moralphilosophische Hintergrundwissen bereit, das jeder Wissenschaftler (und im Grunde eigentlich jede Person) benötigt, um systematisch über moralische Problemsituationen nachdenken zu können.

Zwar ist es für angehende und praktizierende Wissenschaftler nicht unbedingt notwendig, über vertiefte Kenntnisse der verschiedenen Typen ethischer Theorien zu verfügen, um ihre Rolle als Wissenschaftler gut erfüllen zu können. Die meisten Menschen verfügen schließlich nicht über solche vertieften Kenntnisse und sind dennoch in der Lage, in Alltagssituationen moralische Urteile zu fällen. Dennoch lässt sich argumentieren, dass gerade angehende und praktizierende Wissenschaftler ein wenig mehr über ethische Theorien wissen sollten als es vielleicht für die Alltagspraxis unbedingt notwendig ist. Mit der Rolle des Wissenschaftlers übernimmt eine Person gleichzeitig eine besondere Verantwortung. Wie in den Kapiteln 4 und 5 ausgeführt wird, kommt diese professionelle Verantwortung sowohl der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch der Gesellschaft im Allgemeinen gegenüber zum Tragen. Dies heißt, dass Wissenschaftler Kraft ihres Berufs sowohl den Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch den Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber Rechenschaft über ihr Tun schuldig sind.

 

Um die Gründe für ihre Entscheidungen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen und ihre für die Entscheidung relevante Überlegungen artikulieren zu können, ist es hilfreich, über Grundkenntnisse über die wichtigsten Theorietypen in der Ethik zu verfügen. Auch in dieser Hinsicht liefert die Ethik Orientierungswissen. Sie zeigt mögliche Argumentations- und Überlegungsschemata auf, mit der Wissenschaftler ihr Handeln in konkreten, moralisch kniffligen Situationen bewerten und der wissenschaftlichen Gemeinschaft sowie der Öffentlichkeit gegenüber begründen können. Der Wissenschaftler soll zwar selbst nicht zum Ethiker werden, aber er soll ausreichende Kenntnisse der wichtigsten ethischen Theorien besitzen, um sie bei Bedarf als Werkzeuge in der Berufspraxis einsetzen zu können.

2.1 Moral und ethische Theorie

Eine erste Unterscheidung, die bei einer Einführung in die Ethik gemacht werden muss, ist die Unterscheidung zwischen Ethik und Moral. Beide Begriffe haben etwas mit dem Unterschied zwischen „gut“ und „böse“, zwischen „richtig“ und „falsch“ zu tun. Umgangssprachlich werden diese beiden Begriffe oftmals als Synonyme verwendet: Eine ethische Frage ist eine moralische Frage. Streng genommen ist diese Gebrauchsweise jedoch nicht richtig, weil die Ethik ein akademisches Fach und ein Teilbereich der Philosophie ist und die Moral nicht. Ethik kann man betreiben, Moral nicht. Die Ethik ist das Fach, das die Moral als ihr Forschungsgegenstand hat: Ethik ist Moralphilosophie, d. h. philosophieren über moralische Fragen.5 Der Begriff der Moral hingegen verweist auf Urteile darüber, wie man handeln sollte bzw. was man nicht tun darf, was den Unterschied zwischen einer richtigen und einer falschen Handlungsweise ausmacht, was eine gerechte Gesellschaft ausmacht, was das gute Leben beinhaltet usw. Solche Urteile können persönlicher Natur sein oder auch in der Form eines Werte- und Normensystems einer bestimmten Gruppe von Menschen existieren. Die christliche Moral z. B. ist das System der moralischen Urteile, das von den Menschen angenommen wird, die sich als Christen verstehen.6 Die ethischen Theorien, die im nächsten Abschnitt kurz vorgestellt werden sollen, sind als im Fach Ethik aufgestellte Theorien dementsprechend selbst keine Systeme moralischer Urteile. Vielmehr sind sie Theorien über Moral und über solche moralische Systeme.

Ethische Theorien lassen sich grundsätzlich in zwei Weisen aufstellen. Man kann die verschiedenen moralischen Urteile und Urteilssysteme, die von verschiedenen Individuen und Gruppen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten angenommen wurden, beschreiben und miteinander vergleichen. Ein solches Projekt deskriptiver Ethik hat u. a. soziologische, anthropologische, kulturwissenschaftliche und psychologische Aspekte und fällt dementsprechend nicht notwendigerweise im Kernbereich der philosophischen Forschung, obwohl philosophische Elemente immer in einem solchen Projekt mit enthalten sind. Die deskriptive Ethik produziert selbst keine inhaltlichen moralischen Aussagen, sondern gibt diese lediglich in einer systematischen Weise wieder.

Es ist auch möglich, die Aufstellung einer ethischen Theorie als normatives Projekt zu verstehen und zu versuchen, eine allgemeine Theorie aufzustellen, die allgemeine Handlungs-, Bewertungs- und Begründungsrichtlinien enthält – die also in der Praxis eine normative Kraft entfalten kann, die rein beschreibende Theorien als Darstellungen von vorgefundenen Sachverhalte nicht entfalten können. Dies ist der Arbeitsbereich der normativen Ethik (siehe Driver, 2005, zur weiterführenden Lektüre). Die ethischen Theorien, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden, fallen in diesem Bereich.

Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass die normative Ethik und die in ihr verhandelten Theorien direkt in der Praxis umsetzbare Handlungsanweisungen geben würden, wie diese z. B. in den zehn Geboten enthalten sind. Die normative Ethik hat jedoch nicht als Ziel, konkrete Gebote und Verbote für die alltägliche Lebensführung zu formulieren, wie „Du sollst nicht stehlen“. Wie bereits angemerkt, sind ethische Theorien selbst keine moralischen Systeme. Vielmehr liefert die normative Ethik Theorien darüber, wie wir solche Gebote und Verbote bewerten und begründen können. Ethische Theorien, wie sie in der normativen Ethik entwickelt werden, sind Ansätze darüber, von welcher Art die Maßstäbe sein sollten, mit denen Handlungen, Sachverhalte usw. moralisch bewertet und begründet werden können. Eine ethische Theorie liefert also einen Denkrahmen, innerhalb dessen Überlegungen dazu angestellt werden können, wie wir in bestimmten konkreten Umständen handeln sollten (und wie nicht) und wie Argumente konstruiert werden können, die konkrete Handlungsanweisungen begründen oder widerlegen. Als solche ist es nicht die Aufgabe der normativen Ethik, den Menschen konkrete Richtlinien für die Praxis zu verschaffen, sondern vielmehr, moralische Überzeugungen in Frage zu stellen und dadurch zu einer kritischen Reflexion über bisher für selbstverständlich angenommene Werte, Normen, Verhaltensregeln und Überzeugungen anzuregen.7

Die normative Ethik befasst sich im Wesentlichen mit der Frage, was die allgemeinen, fundamentalen Prinzipien sein könnten, die unser Leben und unser Handeln leiten sollen, und wie mit Hilfe dieser Prinzipien konkrete Gebote und Verbote für die Praxis hergeleitet werden können (Driver, 2005, S. 31). Die tatsächliche Herleitung solcher konkreten Gebote und Verbote für bestimmte praktische Kontexte sowie die Bewertung der verschiedenen Handlungsoptionen, die in konkreten Fällen zur Verfügung stehen, findet in der angewandten Ethik statt – d. h. in den verschiedenen Bereichsethiken (siehe Kapitel 1). Während die normative Ethik sich auf moralische Fragen im Allgemeinen bezieht, nehmen die angewandten Ethiken (die Bereichs­ethiken), einzelne Praxisbereiche in den Blick und versuchen, für diese Bereiche spezifische moralische Fragen zu lösen.8

Neben den Teilbereichen der deskriptiven Ethik, der normativen Ethik und der angewandten Ethik umfasst die Ethik noch einen weiteren Teilbereich: die Metaethik. Wie der Terminus widerspiegelt, befasst sich die Metaethik mit Fragen einer höheren Ordnung als die der übrigen Teilbereiche der Ethik. Während die deskriptive Ethik bestehende moralische Urteile und Urteilssysteme beschreibt und die normative Ethik solche analysiert und zu begründen versucht, befasst sich die Metaethik nicht mit moralischen Urteilen und Urteilssystemen selbst, sondern mit allgemeinen Fragen zur Natur moralischer Urteile sowie zur Natur moralischer Begründungsweisen (Smith, 2005, S. 4–6; Scarano, 2006, S. 27). Die Metaethik ist die systematische Reflexion der Ethik und kann dementsprechend auch als die Wissenschaftsphilosophie der Ethik gelten (wie die Metaphilosophie als die Wissenschaftsphilosophie der Philosophie gelten kann; siehe Kapitel 1).9 Üblicherweise wird in der Literatur eine Dreiteilung des Faches Ethik vorgefunden in deskriptiver Ethik, normativer Ethik und Metaethik (z. B. Frankena, 1963, S. 3; Scarano, 2006, S. 25). Es scheint jedoch sinnvoll, die bereichsspezifischen Ethiken, wie die Wissenschaftsethik, die Bioethik, die Wirtschaftsethik usw., als separater Teilbereich der Ethik zu verstehen, da ihr Projekt ein anderes ist als die Projekte der übrigen Teilbereiche der Ethik.

Im Rest dieses Buchs wird die Metaethik keine Rolle mehr spielen. Die deskriptive Ethik wird in Kapitel 3 wieder zur Sprache kommen, wenn es um das vom Soziologen Robert Merton aufgestellte Berufsethos der Wissenschaft gehen wird – ein im Grunde deskriptives Projekt, das oft als normatives Projekt missverstanden wird. Im nächsten Abschnitt sollen die wichtigsten Arten der verfügbaren ethischen Theorien kurz vorgestellt werden und steht also die normative Ethik im Fokus.10 Es soll dementsprechend nicht darum gehen, diese Theorien als Werkzeuge zu präsentieren, die in konkreten Praxissituationen direkt anwendbar wären und es jemandem ermöglichen würden, aus den zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen die einzig richtige auszuwählen. Vielmehr soll es darum gehen, zu zeigen, aus welchen Perspektiven hinaus Handlungen und Sachverhalte bewertet und begründet werden können.

2.2 Eine kleine Typologie ethischer Theorien

Typischerweise fokussiert eine ethische Theorie auf eine bestimmte Kategorie von Bewertungs- und Begründungskriterien, wie z. B. Tugenden, Pflichten, Absprachen oder auch die Folgen von Handlungen. Nach der Art der im Mittelpunkt stehenden Bewertungs- und Begründungskriterien können ethische Theorien in konsequenzialistische (folgenorientierte) und deontologische (pflichtenorientierte) Theorien eingeteilt werden. Eine dritte wichtige Kategorie ethischer Theorien, die diesen beiden Kategorien gegenübergestellt werden kann, ist die der tugendethischen Theorien.

Der Begriff der Deontologie leitet sich aus dem altgriechischen „deon“ – das Erforderliche, die Pflicht – her. Der Begriff ist seit dem Buch Five Types of Ethical Theory (1930) des Philosophen C. D. Broad in der Moralphilosophie als Kontrastbegriff zum Begriff der folgenorientierten ethischen Theorien gängig, obwohl er bereits im 19. Jahrhundert vom Philosophen, Juristen und Sozialreformer Jeremy Bent­ham eingeführt wurde (Sørensen, 2008). Broad kontrastiert den Typus der deontologischen Theorien allerdings mit dem Typus der teleologischen (zielorientierten) Theorien, statt, wie es in der gegenwärtigen Ethik oft der Fall ist, mit dem Typus der konsequenzialistischen Theorien. Die Feinheiten des Unterschieds zwischen teleologischen und konsequenzialistischen ethischen Theorien soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden, da hier ihre Gemeinsamkeiten wichtiger sind. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass sich die beiden Kategorien nicht vollständig überlappen (vgl. Birnbacher, 2007, S. 119 ff., 186 ff.).

Was teleologischen und konsequenzialistischen Theorien miteinander verbindet, ist ihre Folgen- bzw. Zielorientierung. Diese steht mit der Grundlagenorientierung deontologischer Theorien in einem deutlichen Kontrast. Broad definiert den grundlegenden Unterschied zwischen teleologischen und deontologischen Theorien wie folgt: Teleologische Theorien fußen auf der Annahme, dass die moralische Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung immer vollständig durch die moralische Richtigkeit oder Falschheit der Folgen dieser Handlung bestimmt sind, während deontologische Theorien diese Annahme verneinen (Broad, 1930, S. 206; siehe auch Frankena, 1963, S. 13–14; Driver, 2005, S. 34 und 41). Broad behauptet also nicht, dass in deontologischen Theorien die Folgen einer Handlung bei deren Bewertung keinerlei Rolle spielen. Auch hier werden Folgen als für Bewertungen relevant betrachtet, der Nachdruck liegt jedoch auf andere Faktoren. Broad erläutert den Unterschied mit Hilfe des Verhältnisses zwischen Pflichten („obligations“) und Werten („values“). Für ihn sind deontologische Theorien solche, in denen die Idee der Pflicht einen fundamentaleren Platz einnimmt als die der Werte, indem Wertbegriffe aus Pflichtbegriffen hergeleitet bzw. durch diese definiert werden können (Broad, 1930, S. 278). In teleologischen Theorien ist das Verhältnis zwischen Pflichten und Werten genau umgekehrt. Hier sind Wertbegriffe den Pflichtbegriffen vorgeordnet und können Pflichtbegriffe aus Wertbegriffen hergeleitet bzw. durch diese definiert werden.11

In teleologischen Theorien (wobei sich der Begriff aus dem altgriechischen „telos“ – Ziel, Zweck – herleitet) sind es also die als wünschenswerte Ziele angesehenen Zustände oder Sachverhalte, an denen sich die moralische Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen messen lässt, während diese in deontologischen Theorien an die Erfüllung einer Pflicht bzw. eines Gebots gemessen wird. Da die Frage, ob ein bestimmtes Ziel wünschenswert sei, typischerweise auf der Grundlage nicht-moralischer Werturteile darüber, was erstrebenswert ist, beantwortet wird, verlassen teleologische Theorien bei der Bewertung und Begründung von Handlungsoptionen den Raum des Moralischen. Wir können schließlich sehr unterschiedliche Ziele, wie z. B. ein allgemeines Wohlbefinden, Macht, Wissen, die Vermeidung von Leid, Selbstverwirklichung usw. als wünschenswert annehmen (Frankena, 1963, S. 13). Wie der Ethiker William Frankena diesbezüglich erläutert, besagt

 

„eine teleologische Theorie [. . .], dass das grundlegende bzw. ultimative Kriterium des moralisch Richtigen, Falschen, Gebotenen usw. der nicht-moralische Wert ist, der realisiert wird [. . .]. Teleologische Theorien, also, machen das Richtige, das Gebotene und das moralisch Gute vom nicht-moralisch Guten abhängig.“ (Frankena, 1963, S. 13; eigene Übersetzung).

Deontologische Theorien bleiben durch ihre Bezugnahme auf Pflichten bei der Bewertung und Begründung von Handlungsoptionen jedoch grundsätzlich innerhalb des moralischen Bereichs. Dementsprechend wird der Kontrast manchmal auch daran festgemacht, dass es in deontologischen Theorien um die intrinsischen Werte von Handlungen geht, während es in teleologischen Theorien um extrinsische Werte geht (Birnbacher, 2007, S. 119). Es ist wichtig zu sehen, dass selbst wenn in einer bestimmten Situation beide Typen ethischer Theorien die gleiche Handlungsoption als die moralisch richtige auswählen, ihre Begründungen für diese Bewertung jedoch fundamental unterschiedliche sind.

In der gegenwärtigen Moralphilosophie findet sich statt Broads Kontrast zwischen deontologischen und teleologischen Theorien oft der weniger strikte Kontrast zwischen deontologischen und konsequenzialistischen Theorien. Auch hier geht es jedoch um den gleichen Unterschied zwischen Pflicht- und Folgenorientierung: Theorien des letzteren Typus gehen bei der Bewertung und Begründung von Handlungen und Sachverhalte von den Folgen dieser für betroffene Subjekte aus, während Theorien des ersteren Typus von den im Hintergrund der Handlung bzw. des Sachverhalts stehenden Auffassungen über moralische Pflichten der handelnden Person bzw. darüber, was in einer bestimmten Situation Geboten wäre, ausgehen.

Oft werden deontologische Theorien als solche aufgefasst, in denen die Folgen einer Handlung für deren moralischen Wert keine bzw. eine sehr geringe Rolle spielen und nur andersartige Faktoren als Grundlage für die moralische Bewertung dienen. Eine solche Auffassung wäre allerdings fehlerhaft. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Typen ethischer Theorie liegt darin, dass bei der Bewertung von Handlungen den Nachdruck auf sehr unterschiedliche Faktoren liegt und Faktoren anderer Art deutlich weniger ins Gewicht fallen. Wie oben beschrieben, besteht der ursprüngliche Unterschied darin, dass in teleologischen Theorien der moralische Wert einer Handlung als vollständig durch dessen Folgen bestimmt ist, während in deontologischen Theorien dies nicht der Fall ist und andere Faktoren auch eine wichtige Rolle spielen können (siehe Frankena, 1963, S. 14).

Als die beiden Hauptvertreter der beiden ethischen Theorietypen sollen im Folgenden die kantische Pflichtethik und der Utilitarismus kurz erläutert werden.