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Zudem wirkt doppelte Staatsangehörigkeit eher desintegrierend; sie deutet auch kollisionsrechtlich nicht auf einen eindeutigen Interessenschwerpunkt zum Inland hin, denn bewusste Doppelstaatigkeit ist Ausdruck des Offenhaltens der Integration in einem Heimatstaat. Wer sich in Deutschland integrieren will, kann nicht auf Dauer anstreben, zugleich in einem früheren Heimatstaat integriert zu bleiben.

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Zusammenfassend bedeutet also das Staatsangehörigkeitsprinzip auch in Migrationsfällen eine geeignete Typisierung der kollisionsrechtlichen Interessen.

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e) Die Bestimmung der Staatsangehörigkeit eines Anknüpfungssubjekts erfolgt im IPR immer aus der Sicht des Staates, um dessen Staatsangehörigkeit es geht. Staatsangehörigkeitsrecht ist hoheitlicher Natur; kein Staat kann darüber entscheiden, ob eine Person Angehöriger eines anderen Staates ist.[16] In der Praxis sind also die Staatsangehörigkeitsrechte der Staaten zu prüfen, deren Staatsangehörigkeit das Anknüpfungssubjekt besitzen könnte; dies ist meist ein problemloser Prüfungsschritt, kann aber in Einzelfällen einen interessanten Einblick in die unterschiedlichen staatsangehörigkeitsrechtlichen Prinzipien verschiedener Staaten oder in die historische Entwicklung der europäischen Nationalstaaten geben.

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So kann ein Erblasser, der 1908 in Slowenien geboren wurde und 1998 in Slowenien verstirbt, während seines Lebens die österreichische, die ungarische, die jugoslawische und die slowenische Staatsangehörigkeit besessen haben und ggf bei freiwilligem Eintritt in die Deutsche Wehrmacht auch Deutscher geworden und unter Umständen sogar geblieben sein.[17] Tritt, was angesichts der bis zur Wende in Osteuropa vorherrschenden Geringschätzung von Vermögen nicht selten ist, in dem Erbscheinsverfahren erstmals zutage, dass der Erblasser selbst Erbe eines 1944 in Rumänien verstorbenen Onkels ist, dessen Staatsangehörigkeit wegen der Wirren der letzten Kriegstage höchst fraglich sein kann, so wird die Nachlassakte schnell zum Geschichtsbuch.

Literatur:

Basedow Das Staatsangehörigkeitsprinzip in der Europäischen Union, IPRax 2011, 109; Benicke Auswirkungen des neuen Staatsangehörigkeitsrechts auf das deutsche IPR, IPRax 2000, 171; Staudinger/Bausback (2013) Anh. I zu Art. 5 EGBGB; eindrucksvoll zu historischen, oft kriegsbedingten Veränderungen im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht Staudinger/Bausback (2013) Anh. II zu Art. 5 EGBGB; zu staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen zahlreicher Staaten: Staudinger/Bausback (2013) Anh. III zu Art. 5 EGBGB.

2. Doppelstaater, Mehrstaater

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a) Doppel- oder Mehrstaater sind Personen, die nach dem Staatsangehörigkeitsrecht zweier oder mehrerer Staaten deren Staatsangehörigkeit gleichzeitig in dem für die Anknüpfung maßgeblichen Zeitpunkt besitzen.

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Ursachen mehrfacher Staatsangehörigkeit ergeben sich aus der Überschneidung verschiedener staatsangehörigkeitsrechtlicher Anknüpfungsmerkmale. Häufigste Ursache ist die mehrfache Staatsangehörigkeit von Geburt, die ihre Ursache in unterschiedlichen Prinzipien der Heimatländer der Eltern und des Geburtslandes, aber auch in verschiedener Staatsangehörigkeit der Eltern haben kann.

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Man kann die Staatsangehörigkeitsrechte der Welt trotz vieler Facetten in zwei Gruppen unterteilen. Eine Gruppe folgt dem Prinzip, dass die Staatsangehörigkeit iure sanguinis (lat. nach dem Recht des Blutes) vermittelt wird, die andere Gruppe lässt die Staatsangehörigkeit iure soli (lat. nach dem Recht des Bodens) übergehen. Im ersten Prinzip erwirbt man die Staatsangehörigkeit durch Geburt von einem Elternteil, der diese Staatsangehörigkeit besitzt, im zweiten Prinzip durch Geburt im jeweiligen Staat.

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Während die meisten Staaten Kontinentaleuropas dem ius sanguinis folgen, sind reine ius soli-Staaten selten. Rechtspolitisch eignet sich das ius soli-Prinzip vorwiegend für Einwanderungsstaaten, denn es fördert die schnelle staatsangehörigkeitsrechtliche Integration der ersten im Lande geborenen Einwanderergeneration. Selbst ursprünglich reine Einwanderungsstaaten haben aber mit zunehmender Konsolidierung ihrer Bevölkerungsstruktur das ius soli mit Elementen des ius sanguinis vermischt und stehen Auswüchsen des ius soli zunehmend skeptisch gegenüber.

Die US-citizenship wird grundsätzlich erworben durch Geburt in den USA. Gleichzeitig kann die US-citizenship aber auch erworben werden durch Geburt im Ausland, sofern ein Elternteil US-Staatsangehöriger ist und selbst eine bestimmte Zeit noch in den USA gelebt hat – also allenfalls der ersten Auswanderergeneration angehört. Ein reines ius soli-Prinzip wäre fatal, da zB Kinder, die eine mit einem US-Amerikaner verheiratete US-Amerikanerin während eines kurzen Auslandsaufenthaltes zur Welt bringt, häufig staatenlos, nie aber US-Angehörige wären. Der negative Teil des ius soli-Prinzips (keine US-Staatsangehörigkeit bei Geburt im Ausland) wurde nie konsequent dogmatisch verwirklicht. Andererseits gerät auch der positive Teil des ius soli-Prinzips (US-Staatsangehörigkeit bei Geburt in den USA) zunehmend in die Kritik; Arizona, California und New Mexico klagen über die Belastung durch Sozialhilfeansprüche von Kindern mexikanischer Eltern, deren Mütter oft illegal kurz vor Geburt des Kindes in die USA kommen, dort einen US-Staatsangehörigen zur Welt bringen und damit die Behörden vor das Dilemma stellen, einen kleinen Amerikaner zu einer Jugend im Kinderheim zu verurteilen oder den Eltern ein Bleiberecht zu gewähren.

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Kommen durch die beiden Eltern zwei verschiedene Staatsangehörigkeiten des ius sanguinis-Prinzips mit einem am Geburtsort bestimmenden ius soli zusammen, so kann ein Kind von Geburt an drei verschiedene Staatsangehörigkeiten besitzen.

Ein österreichischer Student und eine deutsche Studentin, die sich für ein Jahr in den USA aufhalten, haben ein gemeinsames Kind, das kurz vor Rückkehr nach Europa in New York geboren wird; das Kind ist Deutscher, Österreicher und US-Amerikaner.

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b) Mehrfache Staatsangehörigkeit ist kollisionsrechtlich problematisch, soweit eine Kollisionsnorm an die Staatsangehörigkeit anknüpft. Jedoch ist es aus Sicht eines Staates kollisionsrechtlich nicht vermeidbar, dass das Staatsangehörigkeitsrecht mehrerer Staaten einem Anknüpfungssubjekt die jeweilige Staatsangehörigkeit verleiht. Das IPR als nationales Recht kann nicht in das Staatsangehörigkeitsrecht anderer Staaten eingreifen. Insbesondere kann auch nicht das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht die doppelte Staatsangehörigkeit iure sanguinis dadurch vermeiden, dass es den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nur vermittelt, wenn beide Elternteile Deutsche sind (weil das Kind sonst häufig staatenlos würde). Der früher in Europa verbreitete Vorrang der Staatsangehörigkeit des Vaters verstieße gegen Art. 3 Abs. 2 GG, auch wenn er Doppelstaatigkeit reduziert.[18]

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Auf völkerrechtlichem Weg wird allerdings versucht, die Mehrstaatigkeit und ihre über das IPR hinausreichenden unerwünschten Folgen zu regeln. Das von Deutschland zum 22.12.2002 gekündigte Europäische Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern v. 6.5.1963[19] begrenzt einerseits den Erwerb doppelter Staatsangehörigkeiten durch Einbürgerung auf Antrag (Art. 1) und ermöglicht andererseits die Beseitigung mehrfacher Staatsangehörigkeit durch Verzicht (Art. 2). Das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit v. 6.11.1997[20] regelt in Art. 14 die Fälle, in denen Vertragsstaaten Mehrstaatigkeit hinnehmen müssen (Erwerb durch Geburt oder Eheschließung), verlangt im Übrigen aber von den Vertragsstaaten die Duldung von Mehrstaatigkeit bei (auch) eigenen Staatsangehörigen nur, wenn Aufgabe oder Verlust einer anderen Staatsangehörigkeit unmöglich oder unzumutbar sind (Art. 15, 16). Art. 21 vermeidet insbesondere Konflikte, die sich hinsichtlich der Wehrpflicht aus Mehrstaatigkeit ergeben.

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c) Ist die Staatsangehörigkeit Anknüpfungskriterium, so kann jedoch das IPR nicht mehrere Rechtsordnungen als berufen ansehen. Es muss zwischen den verfügbaren Staatsangehörigkeiten entscheiden oder zu einem anderen Anknüpfungskriterium greifen. Das deutsche IPR geht für Doppel- und Mehrstaater in Art. 5 Abs. 1 den ersten Weg. Art. 5 unterscheidet danach, ob ein Mehrstaater nur ausländische Staatsangehörigkeiten besitzt, oder ob er auch Deutscher ist.

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aa) Besitzt das Anknüpfungssubjekt mehrere ausländische Staatsangehörigkeiten, nicht aber die deutsche, so erhält die sog effektive Staatsangehörigkeit den Vorrang (Art. 5 Abs. 1 S. 1); maßgeblich ist die Staatsangehörigkeit, mit der die Person am engsten verbunden ist. Indiziert ist dabei die engste Verbindung zu demjenigen unter den Heimatstaaten, in dem die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat; diese Staatsangehörigkeit ist regelmäßig – aber nicht zwingend – die effektive. Da der Grundsatz der effektiven Staatsangehörigkeit nur dem Zweck dient, unter mehreren Staatsangehörigkeiten die kollisionsrechtlich relevante zu finden, führt dies natürlich nur zu einem Ergebnis, wenn die Person in einem ihrer Heimatstaaten gewöhnlichen Aufenthalt hat. Im Übrigen ist auf den Verlauf ihres Lebens abzustellen; hierzu sind die Umstände des einzelnen Falles und damit zahlreiche Faktoren abzuwägen, zB frühere Aufenthalte, familiäre und berufliche Beziehungen, sprachliche und kulturelle Bindungen und staatsbürgerliche Engagements (Ausübung von Wahlrecht und Wehrpflicht). Fraglich ist die Bedeutung eigener Erklärungen des Anknüpfungssubjekts, insbesondere die Anrufung von Gerichten eines Heimatstaates. Beides kann jedenfalls nicht ohne weitere – objektive – Gesichtspunkte zur Bestimmung einer effektiven Staatsangehörigkeit führen.

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Hat ein Kind von seiner österreichischen Mutter und seinem italienischen Vater die österreichische und die italienische Staatsangehörigkeit erworben und lebt mit seinen Eltern in Deutschland, so kann sich die Bestimmung der effektiven Staatsangehörigkeit bereits als sehr schwierig erweisen; berufliche Bindungen bestehen nicht, die familiären Bindungen weisen gleichermaßen zu beiden Eltern, kulturelle und sprachliche Bezüge werden allenfalls relevant, wenn der Vater italienisch-sprachig ist. Selbst dann aber erscheint es bei Zugehörigkeit beider Heimatstaaten zur EU eher sonderbar, wenn man aus der Gemeinsamkeit der Sprache zwischen Deutschland und einem Heimatstaat und dem deutschsprachigen Aufwachsen des Kindes ein starkes Argument für die Effektivität der österreichischen Staatsangehörigkeit konstruieren wollte. Hat das Kind auch noch in beiden Heimatstaaten Großeltern, die nur gelegentlich besucht werden, so fällt die Wahl zwischen zwei Heimatstaaten, zu denen jeweils weit weniger Beziehungen bestehen als zu Deutschland als Aufenthaltsstaat, sehr schwer.

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bb) Ist das Anknüpfungssubjekt Deutscher und Angehöriger eines oder mehrerer ausländischer Staaten, so geht die deutsche Staatsangehörigkeit vor (Art. 5 Abs. 1 S. 2); auf die effektive Staatsangehörigkeit kommt es nicht an.[21] Der Gesetzgeber des Jahres 1986 hat diesen Vorrang insbesondere auf Drängen aus der Praxis hin aufgenommen; die Regelung führt vermehrt zur Anwendung deutschen Rechts und erscheint daher auf den ersten Blick praktikabel, weil sie die häufig unsichere Bestimmung der effektiven Staatsangehörigkeit ebenso vermeidet wie die Ermittlung des Inhalts einer fremden Rechtsordnung. Die Regelung ist jedoch weder interessengerecht noch fördert sie den internationalen Entscheidungseinklang. Hat sich ein deutsch-ausländischer Mehrstaater in seinem ausländischen Heimatstaat effektiv integriert, so geht sein vermutetes kollisionsrechtliches Interesse nicht mehr auf die Anwendung deutschen Rechts. Einen anderen Willen könnten – und müssten wegen des öffentlich-rechtlichen Schutzcharakters der Staatsangehörigkeit – deutsche Gerichte auch ohne die starre Vorrangregelung berücksichtigen. International führt die Regelung zu Disharmonie, vor allem, wenn beide Heimatstaaten in derselben Weise verfahren.

Hat A von Geburt die italienische und die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und wurde ihm – ohne Verlust der beiden bestehenden Staatsangehörigkeiten – zum Zweck der Berufung als Professor an eine österreichische Hochschule die österreichische Staatsangehörigkeit verliehen, so werden bei seinem Tod sämtliche drei Heimatstaaten das eigene Recht als Erbstatut anwenden.

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Eine zum Teil vorgeschlagene teleologische Reduktion, wonach die Norm dann nicht angewendet werden soll, wenn die deutsche Staatsangehörigkeit sich als „vollkommen ineffektiv“ erweist, würde zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen.

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Im europarechtlichen und völkervertraglichen IPR ist jedoch Art. 5 Abs. 1 S. 2 nicht anzuwenden; der Grundsatz der gleichmäßigen Auslegung erfordert es hier, dass jeder Mitglied- oder Vertragsstaat auf die Bevorzugung seiner Staatsangehörigkeit verzichtet und die effektive Staatsangehörigkeit bzw jede Staatsangehörigkeit auch bei inländischen Mehrstaatern als maßgeblich ansieht.

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Anders wird man für die Beachtung der deutschen Staatsangehörigkeit als Grundlage einer (völkervertraglichen) internationalen Zuständigkeit (zB § 98 Abs. 1 Nr 1 FamFG) entscheiden müssen; hier geht es um den Rechtsgewährungsanspruch, den Deutschland seinen Staatsangehörigen auch dann schuldet, wenn sie neben der deutschen auch eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen.[22] Soweit europarechtliche Zuständigkeitsbestimmungen auf die Staatsangehörigkeit abstellen (zB Art. 3 Abs. 1 lit. b Brüssel IIa-VO) ist ohnehin jede Staatsangehörigkeit gleich zu werten und daher jede von mehreren Staatsangehörigkeiten genügend.[23] Im Gegensatz zum IPR bedarf es im Zuständigkeitsrecht nicht der Eindeutigkeit, so dass sich bei Doppelstaatern ggf konkurrierende Zuständigkeiten ergeben.

Leben Ehegatten, die beide die deutsche und die französische Staatsangehörigkeit besitzen, in Paris, so sind sowohl die deutschen als auch die französischen Gerichte nach Art. 3 Abs. 1 lit. b Brüssel IIa-VO international zuständig; die Aufenthaltszuständigkeit französischer Gerichte (Art. 3 Abs. 1 lit. a Str. 1 Brüssel IIa-VO) bleibt davon unberührt.

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cc) Art. 5 Abs. 1 S. 2 spricht von der „Rechtsstellung“ als Deutscher. Die Bestimmung gilt daher nicht nur für Personen, welche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Eine Rechtsstellung als Deutscher ergibt sich auch aus Art. 116 Abs. 1 GG; dieser Personenkreis ist gemäß Art. 9 Abs. 2 Nr 5 FamRÄndG v. 11.8.1961[24] kollisionsrechtlich den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt.

Volksdeutsche aus Osteuropa erlangen nach Art. 116 Abs. 1 GG, Art. 9 Abs. 2 Nr 5 FamRÄndG mit Aufnahme in der Bundesrepublik ein deutsches Personalstatut. Besitzt der Betroffene in diesem Zeitpunkt noch die Staatsangehörigkeit des Herkunftsstaates, so geht das deutsche Personalstatut vor.

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Art. 5 Abs. 1 S. 2 war hingegen nicht anzuwenden, wenn vor dem 3.10.1990 ein Statut zu bestimmen war und das Anknüpfungssubjekt Deutscher mit DDR-Staatsbürgerschaft war; da aus Sicht des Kollisionsrechts der Bundesrepublik eine DDR-Staatsbürgerschaft nicht existierte, waren solche Personen nicht als Doppelstaater, sondern als Deutsche zu behandeln; das innerdeutsche Anknüpfungskriterium war für solche Fälle der gewöhnliche Aufenthalt. Diese Rechtslage zeichnen Art. 230 ff, für das IPR Art. 236, heute nach.

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Ist der „DDR-Staatsbürger“ E 1989 mit gewöhnlichem Aufenthalt in Dresden verstorben, so war aus bundesdeutscher Sicht sein Erbstatut deutsches Recht (Art. 25 Abs. 1 aF); innerdeutsch war jedoch wegen des letzten gewöhnlichen Aufenthalts in Dresden das Erbrecht des ZGB der DDR anzuwenden. Wird für diesen Fall heute ein Erbschein benötigt, so ist allerdings schon das maßgebliche Kollisionsrecht interlokal zu bestimmen; wegen des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes in Dresden kommt das dort geltende Kollisionsrecht, intertemporal (Art. 236 § 1) das vor dem 3.10.1990 geltende Kollisionsrecht der DDR zur Anwendung. Dieses beruft (§ 25 Abs. 1 RAG) das deutsche Heimatrecht des Erblassers; maßgeblich ist nach Art. 235 § 1 das ZGB der DDR.

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d) Ausnahmsweise ist für Mehrstaater nicht Art. 5 Abs. 1 anzuwenden, sondern auch auf eine ggf nicht-deutsche und/oder nicht-effektive Staatsangehörigkeit abzustellen, wenn dies in der Verweisungsnorm so bestimmt ist. Meistens handelt es sich um Fälle, in denen den Beteiligten eine Rechtswahlbefugnis in familienrechtlichen Statuten eingeräumt ist.

Art. 14 Abs. 2 erlaubt eine Rechtswahl im Ehewirkungsrecht zugunsten eines beliebigen Heimatrechts, Art. 10 Abs. 2 eine Wahl des Ehenamensstatuts nach einem beliebigen Heimatrecht.

3. Staatenlose, Flüchtlinge

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a) Staatenloser ist, wer nach dem Staatsangehörigkeitsrecht keines Staates als dessen Staatsangehöriger zu behandeln ist. Staatenlosigkeit de iure besteht, wenn sich nachweisen lässt, dass nach keinem in Betracht kommenden Staatsangehörigkeitsrecht das Anknüpfungssubjekt einem Staat angehört.

Da es sich hierbei um die Feststellung einer negativen Tatsache handelt, müsste das Gericht theoretisch die Staatsangehörigkeitsrechte aller Länder der Erde prüfen. Dennoch kann häufig mit Gewissheit die Staatenlosigkeit einer Person festgestellt werden; auf der Erwerbsseite kommen neben dem Erwerb durch Geburt (iure soli oder sanguinis) nur Erwerbstatbestände aufgrund von familienrechtlichen Vorgängen (Adoption, Eheschließung etc) oder aufgrund von Verleihung (Einbürgerung) oder verleihungsähnlichen Tatbeständen (Erwerb aufgrund der Berufung in ein staatliches Amt, die Streitkräfte eines Landes etc) in Betracht. Der Verlust einer früheren Staatsangehörigkeit hingegen ergibt sich als positiver Tatbestand aus dem jeweiligen Staatsangehörigkeitsrecht und ist daher – von praktischen Problemen abgesehen – leichter feststellbar.

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Staatenlos de iure ist jedoch auch, wer einen Reiseausweis nach Art. 28 des UN-Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen v. 28.9.1954[25] erhalten hat.

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De facto staatenlos ist eine Person, deren Staatenlosigkeit zwar nicht positiv festgestellt werden kann, die aber auch keine feststellbare Staatsangehörigkeit besitzt. Dies kann sich auch ergeben aus der Nicht-Anerkennung des Heimatstaates einer Person durch die Bundesrepublik, insbesondere in Fällen der Nichtanerkennung durch die UN.

Südafrika hatte die sog homelands aus dem südafrikanischen Staat ausgegliedert, die UN jedoch diese Ausgliederung nicht anerkannt, was im Ergebnis weniger Südafrika sanktionierte als die Bewohner der homelands, die eine nicht anerkannte Staatsangehörigkeit besaßen, von ihrem anerkannten Heimatstaat Südafrika aber nicht mehr als Staatsangehörige betrachtet wurden.

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Aus vergleichbaren Gründen staatenlos sind Palästina-Flüchtlinge, die zwar vor ihrer anlässlich der Gründung von Israel erfolgten Vertreibung womöglich eine aus der ehemals britischen Mandatszugehörigkeit ableitbare palästinensische Staatsangehörigkeit besaßen, die aber, solange die palästinensischen Gebiete (West-Bank, Ost-Jerusalem, Gaza) unter völkerrechtswidriger israelischer Besatzung stehen, an einer Rückkehr gehindert sind, sich also nicht unter den Schutz eines Palästinenserstaates begeben können. Die Staatlichkeit in den palästinensischen Autonomiegebieten vor Ausrufung und Anerkennung eines Staates war noch zu schwach, um wenigstens für die dort aufenthaltsberechtigten Palästinenser von einer neuen palästinensischen Staatsangehörigkeit auszugehen;[26] auch die Entwicklung um die am Veto der USA scheiternde Vollmitgliedschaft Palästinas in den UN lässt Fragen an der Staatsangehörigkeit der in Palästina lebenden Palästinenser offen; kollisionsrechtlich spielt es jedoch keine Rolle, ob diese eine palästinensische Staatsangehörigkeit besitzen oder Staatenlose mit gewöhnlichem Aufenthalt in Palästina sind (Rn 248).

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b) Staatenlosigkeit entsteht aus unterschiedlichen Gründen.

aa) Von Geburt kann sie sich aus der Verschiedenheit der Anknüpfungsmerkmale für den Erwerb der Staatsangehörigkeit ergeben. Diese Art der Staatenlosigkeit ist heute selten, weil insbesondere Staaten, die dem Prinzip des ius soli folgen, in ihrem Staatsangehörigkeitsrecht häufig Bestimmungen vorsehen, welche die Staatenlosigkeit von Kindern ihrer Staatsangehörigen vermeiden sollen, indem sie partiell das Prinzip des ius sanguinis verwirklichen.

Das Staatsangehörigkeitsrecht der USA folgt grundsätzlich dem Prinzip des ius soli. Unmodifiziert würde dies dazu führen, dass bei Geburt des Kindes eines seit kurzem in Deutschland lebenden US-amerikanischen Paares in Deutschland dieses Kind staatenlos wird, weil nach dem deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) ein Erwerb iure soli in diesem Fall nicht vorgesehen ist (§ 4 Abs. 3 StAG). Das Staatsangehörigkeitsrecht der USA sieht dieses Kind jedoch als US-citizen an, wenn einer seiner Elternteile zu irgendeinem Zeitpunkt in den USA Wohnsitz (residence) gehabt hat (zu anderen Fällen vgl § 1401 US-Immigration and Naturalization Act 1952).

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bb) Staatenlosigkeit tritt durch familienrechtliche Vorgänge ein, wenn eine Statusänderung nach dem Staatsangehörigkeitsrecht des bisherigen Heimatstaates zum Verlust der Staatsangehörigkeit, jedoch nach dem Recht keines anderen Staates zum Erwerb von dessen Staatsangehörigkeit führt. Dieser Verlustgrund wird deshalb zunehmend seltener, weil der vormals häufigste Fall, die Änderung der Staatsangehörigkeit einer Frau aufgrund Eheschließung, zunehmend aus den Staatsangehörigkeitsrechten eliminiert wird.

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Schloss vor dem 1.4.1953 eine Deutsche die Ehe mit einem Ausländer, so verlor sie die deutsche Staatsangehörigkeit (§ 17 Nr 6 RuStAG aF); ob sie die Staatsangehörigkeit des Ehemannes erwarb, hing von den Bestimmungen dieses Staates ab. Das deutsche Recht vermied im spiegelbildlichen Fall die Staatenlosigkeit der Frau, weil Eheschließung einer Ausländerin mit einem Deutschen zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit führte (bis 1.4.1953 und sodann erneut vom 24.8.1957 bis 31.12.1969, § 3 Nr 3, § 6 Abs. 1 und 2 RuStAG aF idF des 3. StARegelungsG v. 19.8.1957; in der Zwischenzeit bestand keine ausdrückliche Regelung, weil die Bestimmungen im ursprünglichen RuStAG – als gleichberechtigungswidriges Recht – mit Ablauf des 31.3.1953 außer Kraft getreten waren, Art. 117 Abs. 1 GG). Da alle Staaten, die einen Staatsangehörigkeitserwerb der Frau durch Eheschließung nicht mehr kennen, wenigstens gleichzeitig (das deutsche Recht sogar wesentlich früher) die Eheschließung als Verlustgrund beseitigt haben, kommt Staatenlosigkeit durch Eheschließung kaum noch vor.

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Adoption kann zu Staatenlosigkeit führen, wenn das Heimatrecht des Kindes die Adoption durch einen Ausländer als Verlustgrund für die Staatsangehörigkeit vorsieht, das Heimatrecht des Adoptierenden dem Kind jedoch nicht die Staatsangehörigkeit verleiht – was auch deshalb geschehen kann, weil es die Adoption ggf nicht als wirksam oder nicht als volle Adoption ansieht.

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cc) Ausbürgerung war im 20. Jahrhundert aufgrund zahlloser Bevölkerungsverschiebungen, Vertreibungen, „ethnischer Säuberungen“ und Flüchtlingsbewegungen der wohl häufigste Grund für Staatenlosigkeit. Die Ausbürgerung als Sanktion für eine Abwendung von dem betroffenen Staat bzw als Methode der Ausgrenzung von missliebigen Volksgruppen kennzeichnet totalitäre Systeme und widerspricht völkerrechtlichen und rechtsstaatlichen Prinzipien.

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Die Sammelausbürgerungen im Dritten Reich, insbesondere die 11. VO zum Reichsbürgergesetz v. 25.11.1941[27] betreffend alle Deutschen jüdischen Glaubens, die sich am 25.11.1941 im Ausland befunden haben, wurde durch Kontrollratsgesetz Nr 1 aufgehoben. Das tschechoslowakische Verfassungsdekret vom 2.8.1945 (eines der „Benes-Dekrete“), das in § 1 Abs. 2 tschechoslowakischen Staatsbürgern deutscher und magjarischer Herkunft die Staatsangehörigkeit entzieht, wurde selbst anlässlich des Beitritts zur EU nicht aufgehoben. In der DDR mussten ausreisewillige Bürger vor einer „legalen“ Ausreise ihre Entlassung aus der Staatsbürgerschaft erhalten, wurden hierdurch jedoch ganz überwiegend nicht staatenlos, da sie regelmäßig die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. Die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Vertriebenen genießen die Rechtsstellung des Art. 116 GG. Aus der ehemaligen Sowjetunion vertriebene Dissidenten (zB Alexander Solshenizyn) wurden hingegen durch Verlust der sowjetischen Staatsangehörigkeit regelmäßig staatenlos. Freilich ist auch das umgekehrte Phänomen bekannt: Das kommunistische Rumänien entließ geflohene Staatsangehörige auch auf Antrag überwiegend nicht aus der Staatsangehörigkeit, was zwar kein Problem der Staatenlosigkeit heraufbeschwor, aber als Schikane zur Erschwerung des Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit wirken sollte (vgl vor diesem Hintergrund Art. 16 Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit, Rn 224).

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c) Staatenlosigkeit wird noch stärker als die Mehrstaatigkeit als unerwünschtes Phänomen angesehen, weil der Staatenlose nicht nur kollisionsrechtliche und andere juristische Probleme verursacht, sondern weil er ohne den öffentlich-rechtlichen Schutz eines bestimmten Staates auf der ganzen Welt Ausländer ist. Das UN-Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen v. 28.9.1954[28] setzt nicht bei der Vermeidung der Staatenlosigkeit an, sondern schafft Grundsätze zur Vermeidung von Rechtlosigkeit von Staatenlosen; es knüpft das Personalstatut Staatenloser in Art. 12 Abs. 1 noch an den Wohnsitz, hilfsweise den schlichten Aufenthalt an. Das UN-Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit v. 30.8.1961[29] geht einen Schritt weiter: Es enthält Bestimmungen, die Staatenlosigkeit aus allen drei genannten Entstehungstypen vermeiden sollen; insbesondere werden rassische, ethnische, religiöse und politische Ausbürgerungen verboten, und solche durch Gebietsänderungen sollen vermieden werden. Das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (Rn 224) sieht die Vermeidung von Staatenlosigkeit als Grundsatz (Art. 4 lit. b) und regelt abschließend in Art. 7 Abs. 1 iVm Abs. 3 die Fälle, in denen ein Vertragsstaat den Verlust seiner Staatsangehörigkeit auch dann vorsehen darf, wenn dadurch Staatenlosigkeit eintritt.

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Vermeidung von Mehrstaatigkeit und Staatenlosigkeit können als Ziele im Staatsangehörigkeitsrecht durchaus kollidieren; Staatsangehörigkeitserwerb iure sanguinis von Mutter und Vater führt vermehrt zu Mehrstaatigkeit. Der zunehmend seltenere Staatsangehörigkeitserwerb nur vom Vater vermeidet dies, erhöht aber das Risiko der „Weitergabe“ von Staatenlosigkeit; das CIEC-Übereinkommen zur Verringerung der Fälle der Staatenlosigkeit v. 13.9.1973[30] soll sicherstellen, dass ein Kind von Geburt die Staatsangehörigkeit der Mutter erwirbt, auch wenn deren Staatsangehörigkeitsrecht dies nicht vorsieht, das Kind aber sonst staatenlos würde. Art. 6 Abs. 2 Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (Rn 224) verpflichtet die Vertragsstaaten bei Inlandsgeburt sonst staatenlos werdender Kinder sogar zur Verleihung iure soli.

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d) Im deutschen IPR wird ein Staatenloser gemäß Art. 5 Abs. 2 behandelt.

aa) Anzuwenden ist das Recht des Staates, in dem die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt, mangels eines gewöhnlichen Aufenthalts ihren schlichten Aufenthalt hat. Schon wegen der systematischen Stellung in Art. 5 (Personalstatut) setzt das natürlich voraus, dass in der anzuwendenden Verweisungsnorm die Staatsangehörigkeit dieser Person Anknüpfungskriterium ist, da nur in diesen Fällen das Fehlen einer Staatsangehörigkeit zu einer kollisionsrechtlichen Lücke führt.

Die Voraussetzungen der Eheschließung eines Staatenlosen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland beurteilen sich gemäß Art. 13 Abs. 1 iVm Art. 5 Abs. 2 nach deutschem Recht. Wer der Vater eines Kindes ist, beurteilt sich hingegen gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 1 nach dem Aufenthaltsrecht des Kindes; dabei ist es einerlei, ob der vermutliche Vater Deutscher, Ausländer oder Staatenloser ist; dies spielt jedoch eine Rolle, wenn die Vaterschaft nach der alternativen Anknüpfung in Art. 19 Abs. 1 S. 2 (Heimatrecht des jeweiligen Elternteils) festgestellt werden soll.

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bb) Art. 5 Abs. 2 gilt nicht nur für Staatenlosigkeit de iure, sondern auch für Staatenlosigkeit de facto („kann ihre Staatsangehörigkeit nicht festgestellt werden“). Art. 5 Abs. 2 gilt auch dann, wenn ein Rechtsverhältnis einer Person im IPR nicht nach der eigenen Staatsangehörigkeit angeknüpft wird, sondern nach der Staatsangehörigkeit einer anderen Person, zB an das Heimatrecht eines Elternteils (zB die alternative Anknüpfung der Abstammung in Art. 19 Abs. 1 S. 2). Entscheidend ist nur, dass die Anknüpfung in der konkreten Situation auf die Staatsangehörigkeit einer Person abstellt, die keine Staatsangehörigkeit hat.

Die väterliche Abstammung des in Frankreich lebenden Kindes einer Französin und eines in Deutschland lebenden staatenlosen Palästinensers kann gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 2 iVm Art. 5 Abs. 2 nach deutschem Recht festgestellt werden, weil der Vater als Anknüpfungssubjekt (Art. 19 Abs. 1 S. 2) mangels feststellbarer Staatsangehörigkeit ein deutsches Aufenthalts-Personalstatut (Art. 5 Abs. 2) hat.