Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne

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Vor allem mit der Staatsgewalt verbindet sich der Begriff, der entscheidend für das moderne, europäische Verständnis des Staates ist:

Souveränität.

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 Der Begriff meint, dass der Staat Herr (!) seiner selbst ist. Nach außen bedeutet das: Er allein kann legitim Krieg führen. Das ist nicht selbstverständlich, denn über weite Teile der Geschichte konnte jeder Krieg führen, der dazu die Mittel hatte. Parallel dazu gab es aber seit dem Altertum die Lehre vom gerechten Krieg; sie trat mit dem Aufstieg souveräner Staaten zurück, weil Souveränität eben im Recht zur (wie auch immer legitimierten) Kriegführung bestand. Für den souveränen Staat gab es ja keine Instanz mehr, die entscheiden konnte, ob sein Krieg gerecht sei, denn über sich erkannte er keinen Richter mehr an. Seit den Kriegen der Frühen Neuzeit sind Staaten in Europa faktisch die Monopolisten auf legitime Kriegführung geworden, und das hieß einerseits, dass alle anderen, die Ähnliches unternahmen, als Aufständische, Guerilla oder Terroristen kriminalisiert wurden. Andererseits hatte die Monopolisierung zur Folge, dass sich eine Form des „gehegten“ Krieges herausbildete, dass auch Kriege nach bestimmten Regeln geführt wurden: Von der Kriegserklärung bis zur Kapitulation, dem Friedensvertrag, dem Verhalten den Besiegten und Kriegsgefangenen gegenüber gab es ein international weithin anerkanntes Regelwerk. Die Frage nach dem gerechten Krieg trat in den Hintergrund gegenüber der Frage, ob der Krieg gemäß den Regeln geführt wurde.

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 Dieses Regelwerk wurde indes erst am Ende des 19. Jahrhunderts formalisiert, vor allem in der Haager Landkriegsordnung (1899). Im „Europäischen Bürgerkrieg“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden diese Regeln schon wieder weithin außer Kraft gesetzt. Die asymmetrischen Kriege der letzten Jahrzehnte (meist nennen wir dies „Terrorismus“) haben sich erst recht nicht mehr darum geschert: Heute führen häufig Staaten gegen Nicht-Staaten Krieg.



Nach innen bedeutete Souveränität, dass der Staat den Bürgern Regeln setzen und deren Einhaltung durchsetzen konnte, eben mit Hilfe der Staatsgewalt, wozu auch das Rechtswesen gehört. Der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt hat dieses Konzept noch radikalisiert: Für ihn stand die Souveränität über dem Gesetz. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

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 Souverän ist also der, der das Recht auch außer Kraft setzen kann. Erst wenn das Gemeinwesen ganz existenziell bedroht ist – im Ausnahmezustand –, zeigt sich, wer wirklich die Entscheidungsgewalt hat. Es ist aber deutlich, dass Schmitt bei dieser Formulierung eher eine Person als „den Staat“ im Blick hatte. Er dachte an eine Situation des Bürgerkriegs, in dem einer das Heft in die Hand nahm und sich nicht um etwaige Regeln kümmerte – so wie Hobbes.



In dem Maß, in dem der Staat sich demokratisierte und also die Bürger nicht mehr bloß Objekte, sondern zugleich Akteure staatlichen Handelns waren, wanderte aber auch der Souveränitätsbegriff: War es in der Frühen Neuzeit der Monarch als Person, der souverän war, wurde der Staat als Institution sein Nachfolger. Mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution tauchte aber im späten 18. Jahrhundert ein gänzlich neuer Gedanke auf: dass nämlich das Staatsvolk selbst der Souverän sei. Staatliche Souveränität als Volkssouveränität: Damit war nicht mehr ein Staat „über“ der Gesellschaft denkbar, sondern er war politischer Ausdruck der Gesellschaft. In Großbritannien, das sich bekanntlich früher parlamentarisch organisierte, hat sich deshalb eine besondere Form von Souveränität ausgebildet: Hier ist nicht das Volk, sondern das Parlament (verstanden als beide Häuser, zusammen mit der Monarchie, der

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) der Souverän, als Ausdruck einer Gesamtrepräsentation der Gesellschaft. In neueren Diskussionen im Gefolge der ost- und mitteleuropäischen Revolutionen wird die Verlagerung des Souveränitätsbegriffs hin zum Bürger radikalisiert: Nun ist es nicht das gesamte Volk, sondern es sind die Bürgerinnen und Bürger auch als Individuen, deren Rechte gegenüber dem Staat geschützt werden müssen und die dessen Souveränität konstituieren.

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 Die Souveränität ist mit der Demokratisierung also gewissermaßen nach unten gewandert. Ein Staat „über“ der Gesellschaft, der von oben befiehlt, ist damit nicht mehr gut denkbar.









3. Der Staat als europäisches und okzidentales Phänomen







Der hier beschriebene Idealtypus „Staat“ ist zunächst ein Phänomen der europäischen (und damit ist im Sinne Max Webers gemeint: der westlichen) Moderne. „Europa hat den Staat erfunden“ (Wolfgang Reinhard). In Asien, vor allem in China, entstanden gleichzeitig oder vielleicht auch schon früher wohl politische Herrschaftssysteme, die sehr weitreichende Kapazitäten der Mobilisierung und der inneren Durchherrschung aufwiesen.

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 Nur in Europa aber entwickelten sich politische Systeme, die (in Max Webers Begrifflichkeit) „Anstaltscharakter“ aufwiesen, die relativ unabhängig waren von den Personen an der Spitze und deshalb stabil. Nur hier bildete sich eine ständige, fachgeschulte Bürokratie heraus, die auf der Basis  von Qualifikation und Leistung funktionierte; nur hier gab es (als Folge des Einflusses des römischen Rechts) eine weithin ungebrochene (und staatsübergreifend vergleichbare) Rechtsentwicklung. Hier wurde ein Recht ausgebildet, bei dem der Tatbestand unabhängig von der Person und nach einem festgelegten Verfahren verhandelt wurde. Allerdings beobachteten die Europäer im Zuge der europäischen Expansion teilweise sehr genau die Formen und Strukturen politischer Herrschaft vor allem in Asien und übernahmen manches davon, meist in einem verwickelten Prozess. Es kann keine Rede davon sein, dass all das, was sich in der Neuzeit als Staat herausbildete, allein in Europa erfunden wurde.

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Warum Europa? Dass der moderne Staat sich in Europa herausbildete, heißt noch nicht, dass er sich nur hier herausbilden

konnte.

 Dennoch lohnt es sich, nach den spezifischen Bedingungen der Möglichkeit für diesen Prozess zu fragen. Hier ist zunächst auf die politischen und kulturellen Traditionen des Römischen Reichs und der Römischen Kirche zu verweisen, an die sich insbesondere im Bereich des Rechts anknüpfen ließ. Aber auch die Rechtsfigur des römischen Bürgers, den man als eine Vorform des Staatsbürgers verstehen kann, oder die politischen und kulturellen Traditionen der selbständigen griechischen Polis wirkten fort.



Dass sich daraus aber moderne staatliche Strukturen entwickelten, hat vor allem mit der Konkurrenz zu tun:



(1.) Die relative Kleinräumigkeit in Europa begünstigte eine ständige, oft kriegerische Konkurrenz der Herrschaft, die nicht nur zu militärischer Modernisierung, sondern auch dazu führte, dass über die Zeit die territoriale Homogenität und Integrität ebenso wie die eindeutigen Grenzen betont wurden. Im kleinräumigen, dicht besiedelten Europa waren klar gezogene Grenzen wichtiger als im großräumigen China. Die permanente Gewaltsamkeit dieser einander nahen Gesellschaften, die sich vor allem in den mörderischen Bürgerkriegen der Frühen Neuzeit äußerten, ermöglichten die Konzentration der Gewaltpotentiale, so wie das Thomas Hobbes beschrieben hatte.



(2.) Der moderne Staat ist nicht zu denken ohne den Kapitalismus, der sich ebenfalls zunächst und relativ gleichzeitig in Europa entwickelte. Der Kapitalismus bedurfte für sein Funktionieren eines Modells der friedlichen Konkurrenz, in der man sich auf rechtliche Sicherheiten verlassen und langfristig planen konnte – das konnte der Staat liefern. Gleichzeitig aber hat der Kapitalismus die neuen Staaten mit Ressourcen ausgestattet, ohne die sie niemals so umfassend kriegsfähig gewesen wären.



(3.) Dieser Kapitalismus gedieh in der okzidentalen Stadtbürgergemeinde, die sich im Wesentlichen selbst verwaltete, in der freie Bürger wirtschafteten, politisch teilhabeberechtigt waren und um die Teilhabe mit (meist) friedlichen Mitteln konkurrierten. Hier bildete sich – mühsam und ungleichzeitig – das Modell des freien Marktes aus, das auf dem freien Austausch von Gütern und Arbeitskraft beruht. Die  Stadt in diesem Sinne ist ebenfalls ein europäisches Phänomen. Sie war mehr als nur eine relativ große Ansiedlung von Menschen, sondern sie war schon im Mittelalter ein selbständiges politisches Gebilde, das eine Vorform des modernen Staates und der Staatsbürgerlichkeit darstellte – die Stadtrepubliken sind gewissermaßen ein Zwischending. Außerhalb Europas gab es diese städtische Autonomie nicht.



(4.) Und schließlich ist der moderne Staat ein Ergebnis der Konkurrenz zwischen geistlicher und weltlicher Macht, die sich seit dem Hohen Mittelalter entwickelte. Dieser Dualismus, der freilich auf Jahrhunderte hinaus höchst konfliktreich blieb, ermöglichte eine Staatlichkeit, die, anders als überall sonst auf der Welt, keine religiösen Legitimationen mehr benötigte, sondern einerseits dem Individuum Freiräume gewähren konnte; die andererseits auch Ersatzreligionen wie den Nationalismus ermöglichte, welche ihrerseits eine Loyalität und Sterbebereitschaft freisetzen konnten, die religiöser Überzeugung vergleichbar war. Der europäische Staat war kein Gottesstaat.



Seit der Frühen Neuzeit wurde dieser Typ von politischer Herrschaft in die Welt hinaus exportiert, häufig sehr gewalttätig. Dort veränderte er sein Gesicht, weil er auf andere Kontexte traf. Das gilt für Asien (und unter gewissen Umständen ist man geneigt, auch Russland dazuzuzählen) ebenso wie für Afrika, wo tribale Zugehörigkeiten sich nicht leicht mit dem Konzept „Staat“, erst recht nicht mit der erfundenen „Nation“ vertrugen, oder auch für Lateinamerika, wo kolonial geprägte Siedlergesellschaften sich einer Durchstaatlichung der Gesellschaft widersetzten; Gewaltmonopol und Rechtsstaat wurden hier häufig nur prekär entwickelt. In Nordamerika jedoch bildeten die europäisch geprägten Siedlergesellschaften einen europäischen Typ von Staatlichkeit aus, auch um den Preis der Vernichtung der indigenen Völker. Insofern ist der europäische Staat eigentlich welthistorisch ein Sonderfall, eine Ausnahme. Aber er ist eben auch ein Exportartikel und viele seiner Merkmale sind in anderen Regionen implementiert worden.

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4. Moderne Staatlichkeit und moderne Gesellschaft







Territorium, Staatsvolk, Staatsgewalt: Diese drei Kriterien kann man als Ausgangspunkt für moderne Staatlichkeit nehmen. Für die Epoche seit dem 19. Jahrhundert lassen sich einige weitere Momente erkennen, die sich zwar aus diesen Kriterien ergeben, aber sich nicht von selbst verstehen, dennoch aber unser heutiges Verständnis grundlegend bestimmen. Sie erwachsen aus dem Verhältnis des Staates zu seiner Gesellschaft, genauer: sowohl aus den Ansprüchen, die er an die Gesellschaft stellt, wie auch umgekehrt. Dieses Verhältnis war deshalb neu, weil erst seit dem späten 18. Jahrhundert beide Sphären als unterschieden wahrgenommen wurden. „Gesellschaft“ wird von uns häufig im Sinn von „alles“, der gesamten sozialen Wirklichkeit gebraucht. In einem spezifischeren, historischeren Sinne meint  Gesellschaft eine Sphäre, die nicht privat (sondern öffentlich), die aber nicht politisch durchherrscht (also „staatlich“), sondern von der Freiwilligkeit der Akteure und ihrer Handlungen bestimmt ist. Im Altertum und im Mittelalter gab es keine ausdifferenzierte Gesellschaft in diesem Sinn. Eine solche entstand erst in der Neuzeit.

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 „Gesellschaft“ – zunächst als „bürgerliche Gesellschaft“ oder „civil society“ – wurde im Gegensatz zum absolutistischen Fürstenstaat gebraucht. Beiden Sphären wurden unterschiedliche Funktionen zugewiesen, wobei die der Gesellschaft, folgt man dem Vordenker Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Sphäre war, wo die (männlichen) Privatleute sich freiwillig trafen: zum geschäftlichen Verkehr, zum Nachdenken und Diskutieren („Räsonnieren“) über gemeinsame Belange, zur Formulierung gemeinsamer Interessen. Aus dieser Sphäre der (Zivil-)Gesellschaft wurden Erwartungen an den Staat formuliert, ebenso wie der Staat sich in seinem Handeln auf diese Gesellschaft richtete.



Ein moderner Staat schafft sich deshalb ein Recht, das die Menschen gleich behandelt – und ihnen sogar die Möglichkeit eröffnet, unter Umständen gegen den Staat selbst zu klagen! Der moderne Staat betreibt sein Geschäft kontinuierlich; dazu braucht er ein ständig arbeitendes, entsprechend ausgebildetes und loyales Personal: Für einen Staat ist ein Staatsapparat, besonders in Gestalt einer Bürokratie, unabdingbar. Für solche Aufgaben bedarf er einer dauerhaften Finanzierung. Während im Mittelalter Steuern nur dann erhoben wurden, wenn besondere Ausgaben (etwa für einen Krieg) zu tätigen waren, entwickelt der moderne Staat eine ständige und möglichst alle erfassende Besteuerung. Man kann dies als Selbstermächtigung eines in seiner Eigenlogik wuchernden Staates sehen; man kann es aber auch verstehen als die Ermöglichung der Erfüllung von Aufgaben, die von ihm erwartet werden und die sich seit dem 19. Jahrhundert explosionsartig ausgeweitet haben.



Darüber hinaus erzieht der Staat seine Bürger. Er sorgt dafür (und erzwingt es), dass sie eine basale Bildung erhalten, auch, damit die Gesellschaft (etwa die Industriewirtschaft) fachkundiges Personal hat, mit dem sie die Mittel erwirtschaften kann, die der Staat wiederum brauchen kann. Auch für diese Aufgaben muss er Ressourcen bereitstellen, z. B. kompetente Lehrer und Schulgebäude. Während die schulische Bildung im 19. Jahrhundert von vielen eher als Zwang verstanden wurde, werden schulische und Berufsausbildung heute weithin als ein elementares Menschenrecht verstanden, das man vom Staat einfordern kann. Der Staat erzieht seine Bürger darüber hinaus zu Staats-Bürgern, die ein Bewusstsein ihrer Rechte und Pflichten haben und die ein Staatsbewusstsein besitzen, das sie freiwillig mittun lässt, so dass der Staat nicht für alles Zwang ausüben muss. Der französische  Philosoph Michel Foucault hat diese Art des Regierens, die auch durch die Untertanen selbst geschieht, „Gouvermentalité“ genannt.



In den meisten von diesen Bereichen wurde der Staat seit dem 18. Jahrhundert zum Monopolisten, auch dann, wenn er diese Aufgaben von anderen bearbeiten ließ und sie nur regulierte und kontrollierte (wie etwa bei Privatschulen und -universitäten). Das macht eine weitere europäische Spezialität aus. In den meisten anderen Gesellschaften stand dem Staat, wie auch immer er sich präsentierte, ein mächtiges „Anderes“ entgegen, das solche Funktionen ebenfalls übernahm oder beanspruchte: das islamische Recht, das buddhistische Mönchtum oder auch regionale Kriegsherren, die sich auf Clans und Stammesloyalitäten stützten.

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 Dass der Staat zur alleinigen Institution wurde, die Aufgaben und Wohltaten verteilte, Probleme erkannte und bearbeitete – oder von Institutionen bearbeiten ließ, die er kontrollierte – und legitimen Zwang ausübte: Das war europäisch.



Das gilt auch für einen ganz neuen Aufgabenbereich, der seit dem späten 19. Jahrhundert dazukam: den Wohlfahrtsstaat. Er basierte überall auf kommunalen oder selbstorganisierten Instrumenten, die für die jeweiligen Gruppen spezifische Risiken abfedern sollten. Das meist kommunale Armenrecht hat überall in Europa für diejenigen, die nicht für sich selbst sorgen konnten, Sicherungsmaßnahmen vorgesehen – einigermaßen kümmerliche, und meist auf rigider Disziplinierung und Ausschluss beruhend. Oder die Angehörigen einzelner Berufsgruppen schlossen sich zusammen, um miteinander eine Versicherung gegen ihre spezifischen Berufsrisiken zu entwickeln – das waren die ersten Unfall- oder Invalidenkrankenkassen. Der Staat ist also nicht der Erfinder der Sozialpolitik. Von einer subsidiären, unterstützenden Rolle aus hat er die Aufgabe aber weithin an sich gezogen, auch wenn andere Akteure in seinem Auftrag agieren. Dieser Prozess erfolgte in den einzelnen Ländern sehr ungleichzeitig und ungleichgewichtig. Vor allem die Kriege des 20. Jahrhunderts, die auf Massenloyalität basierten, waren der Ausgangspunkt für eine zunehmende Verantwortungsübernahme im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge: Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitslosigkeit, Bildung, Erholung – all diese staatlichen Aufgaben sind historisch neu und kennzeichnen den Staat im 20. Jahrhundert. Am Anfang des 21. Jahrhunderts werden andere mögliche Aufgaben des Staates diskutiert, etwa, in Bezug auf Rassismus, Gendergerechtigkeit oder sexuelle Orientierung Gerechtigkeit herzustellen und dafür auch Zwang auf Unternehmen und öffentliche Institutionen auszuüben.



Was staatliche Aufgaben sein sollen, ist mithin nicht von vornherein umrissen. Staaten haben sich zu unterschiedlichen Zeiten um sehr unterschiedliche Dinge gekümmert und die Streubreite war und ist hoch. Infrastrukturaufgaben haben den Staat von Anfang an begleitet und sind im 20. Jahrhundert noch ausgeweitet worden – aber gerade kommunikative Infrastrukturen sind häufig in Privatinitiative aufgebaut worden.

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 Nicht nur sozialistische Staaten rühmen sich einer umfassenden staatlichen Fürsorge; so ist etwa das berühmte Gesundheitssystem in Großbritannien, der

National Health Service,

 seit seiner Gründung 1948 staatlich und durch Steuern finanziert. In den USA sind dagegen die meisten Versicherungsleistungen privat organisiert und der Staat leistet nur ein Minimum. Es gab und gibt Staaten mit einer hohen und solche mit einer niedrigen Steuerquote, in manchen Ländern liegt die Staatsquote (also der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der staatlich erwirtschaftet wird) bei weit über 50 Prozent, in manchen unter 20 (so ausgerechnet im kommunistischen China). Das Verhältnis ist aber immer ähnlich: Der Staat sah sich gesellschaftlichen Forderungen gegenüber, die in irgendeiner Weise mit staatlichen Forderungen an die Gesellschaft korrespondierten. Und wenn nicht alles täuscht, dann ist der historische Trend einer der Ausweitung: mehr Erwartungen an den Staat, aber auch mehr staatliche Organisierung der Gesellschaft.



Lange Zeit galt diese Logik zunehmender staatlicher Zuständigkeit geradezu als historisch unabweisbar. Max Weber hat im Umfeld des Ersten Weltkriegs eine umfassende Verstaatlichung der Gesellschaft als unausweichlich gesehen, durchaus skeptisch; er sah, vor allem mit Blick auf die Bürokratie, ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ am Horizont.

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 Er tat das aus der Erfahrung mit den europäischen Revolutionen seit 1917 und in der Erwartung eines sozialistischen Zeitalters. Damit traf er die Funktionsweise des sozialistischen Staates sehr viel genauer als die Prognosen von Marx, Engels und Lenin, die ein Absterben des Staates in der sozialistischen Gesellschaft vorhersagten (diese Prognosen sind übrigens ein frühes Beispiel für das Bewusstsein von der Historizität des Staates). Da war in der Realität des Sozialismus aber sehr viel mehr Staat, in jeder Hinsicht.



Auch jenseits der sozialistischen Welt hat im 20. Jahrhundert die Verstaatlichung der Gesellschaft zugenommen. In der erste