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Wozu braucht man Rating-Agenturen?

Die Antwort ist überraschend einfach: eigentlich nicht. Wie in an-deren Bereichen auch verlässt man sich meistens dann auf den Fachmann, wenn es darauf ankommt. Davon leben auch die Rating-Agenturen. Wer seine Ersparnisse in eine Anleihe oder einen Rentenfonds investieren will, kann natürlich selbst das Kreditrisiko des Fonds analysieren. Meistens ist es dann aber doch einfacher, wenn man weiß, dass die Anleihen in dem Fonds ein bestimmtes Mindest-Rating haben, so dass der Fonds nur Anleihen von einer bestimmten Qualität hält.

Hier kommen die Rating-Agenturen ins Spiel: Sie bieten unabhängige Analysen mit einer standardisierten Skala, die von allen Beteiligten leicht zu verstehen ist und Vergleiche völlig verschiedener Anleihen ermöglicht. Beispielsweise kann man anhand eines Ratings von A-/A2 (S&P) sofort sehen, dass die in Britischen Pfund notierte 6,125-prozentige Anleihe von Siemens, fällig im Jahr 2066, von der gleichen Bonität ist wie die 4,75-prozentige Anleihe des amerikanischen Lebensmittelkonzerns Campbell Soup, deren Laufzeit nur bis zum Jahr 2021 reicht und die in Dollar notiert.18

Es ist also durchaus sinnvoll, Ratings als Entscheidungsgrundlage zu nutzen. So kann ein Aufsichtsgremium einer Lebensversicherung oder Rentenkasse, oder sogar ein Politiker im Aufsichtsrat einer Landesbank, leicht Mindestanforderungen an die Qualität der Anlagen der ihnen anvertrauten Gelder festlegen, ohne jede einzelne Anlage selbst prüfen zu müssen. Bei tausenden Anlagen wäre dies kaum möglich, und das Aufsichtsgremium müsste sich völlig auf die Einschätzung der angestellten Analysten verlassen. Eine Kontrolle würde nicht stattfinden, zumindest keine effektive.

Ratings brauchen die Zukunft nicht perfekt vorherzusagen, um nützlich zu sein. Die Agenturen mussten viel Kritik und Spott über sich ergehen lassen, weil sie Betrügereien bei Enron, Worldcom oder Parmalat nicht auf die Spur gekommen waren. Diese Kritik übersieht aber, dass Rating-Agenturen keine Wirtschaftsprüfer und schon gar keine Detektive sind, sondern lediglich eine unabhängige Risikoabwägung vornehmen. Diese Bewertungen werden in verschiedene Klassen eingeteilt, die das Risiko eines Kreditausfalls darstellen.

Dies bedeutet aber nicht, dass die Rückzahlung bei höchster Bonität garantiert, sondern nur dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist. Die Wahrscheinlichkeiten für einen Zahlungsausfall bei Bewertungen durch zwei der großen Rating-Agenturen ist in Tabelle 4 zu sehen. Selbst bei der höchsten Bonitätsstufe AAA besteht demnach noch eine geringe Chance von mehr als einem halben Prozent, dass ein so hervorragend bewertetes Unternehmen in Konkurs geht.


RatingMoody‘sS&P
Aaa/AAA0,520,60
Aa/AA0,521,50
A/A1,292,91
Baa/BBB4,6410,29
Ba/BB19,1229,93
B/B43,3453,72
Caa-C/CCC-C69,1869,19
Gesamt9,7012,98

Tabelle 4: Ausfallwahrscheinlichkeiten für von zwei großen Rating-Agenturen bewertete Unternehmensanleihen; Quelle: U.S. Municipal Bond Fairness Act, 2008, basierend auf Daten von Moody’s und S&P

Wenig wahrscheinlich bedeutet nicht unmöglich. Wenn es eine große Zahl von Unternehmen mit AAA-Bonität gibt, wird auch hin und wieder eines davon in Konkurs gehen. Und wenn der Ernstfall dann tatsächlich eintritt, wird behauptet, die Rating-Agenturen hätten Fehler gemacht.

Wie hilfreich Ratings auch für Verbraucher sein können, zeigt der aktuelle Trend von kleinen und mittelständischen Unternehmen, sich bei Kunden direkt Geld durch sogenannte Mittelstandsanleihen zu leihen. Von Bäckereiketten bis zu Produzenten von Süßigkeiten haben zahlreiche Firmen Anleihen an meist in finanziellen Fragen wenig versierte Kleinanleger für schon 1.000 Euro mit der Aussicht auf hohe Renditen verkauft.

Wenn ein Safthersteller 7,375 Prozent für fünf Jahre zahlt, erscheint dies im Vergleich zu einem Sparkonto überaus lukrativ. Dazu kommt, dass manche Anleger stolz darauf sind, ihr Geld nicht gierigen Banken zur Verfügung gestellt zu haben. Valensina wird zwar von Creditreform für kurzfristige Laufzeiten mit BB19 bewertet, was einer Ausfallwahrscheinlichkeit von knapp über einem Prozent entspricht. Die langfristige Mittelstandsanleihe allerdings, die weit länger läuft als das Rating Aussagekraft hat, ist nicht bewertet. Valensina wirbt trotzdem mit dem BB-Rating der Creditreform. Dies verdeutlicht, dass auch Kleinanleger Wert auf eine unabhängige Einschätzung des Risikos legen.

Weshalb also das Theater um die Macht der Rating-Agenturen? Was der Öffentlichkeit als Problem verkauft wird, sind in Wirklichkeit Fehler der Politik. Sie reagiert empfindlich auf realistische Urteile unabhängiger Rating-Agenturen, weil die Europäische Zentralbank nur Sicherheiten höchster Bonität akzeptieren darf. Dies sollte die Glaubwürdigkeit der Zentralbank und damit auch des Euro festigen. Wer traut schon einer Währung, deren Zentralbank auch Schrott als Sicherheit akzeptiert? Noch dazu Schrottanleihen, die von Wackelstaaten emittiert wurden?

Als der Euro geschaffen wurde, war hohe Bonität der Sicherheiten ein notwendiges Kriterium, denn Skeptiker prophezeiten das baldige Ende der Gemeinschaftswährung. Doch dann kam die Krise, und plötzlich gaben Rating-Agenturen Griechenland nicht mehr die höchste Bonität. Doch die Bonität dieses Landes kann man natürlich nicht per Dekret stärken. Rating-Agenturen lassen sich dagegen eher mit Verwaltungsmaßnahmen weichklopfen, positive Einschätzungen abzuliefern. Genau diesen Weg will Europa jetzt einschlagen.

Rating-Agenturen sollen für Fehleinschätzungen haften. Das klingt zunächst vernünftig, hat jedoch einen Haken: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Wer eine Meinung vertritt, kann sich auch einmal verschätzen. Wenn die Meinung noch dazu in einer Wahrscheinlichkeit ausgedrückt wird, ist es unmöglich, eine Fehleinschätzung nachzuweisen. Selbst wenn ein Unternehmen mit AAA bewertet wird, besteht trotzdem die Möglichkeit, dass es Konkurs anmelden muss. Bei 200 so bewerteten Unternehmen kann man also den Konkurs eines Unternehmens erwarten. Was, wenn zwei oder drei von 200 Unternehmen pleitegehen? Welches der Unternehmen war denn falsch bewertet? Und was passiert, wenn kein Unternehmen pleitegeht? Eine Haftung der Rating-Agenturen wird dazu führen, dass sie auf Nummer sicher gehen und alle Unternehmen ein bisschen niedriger einschätzen werden, als notwendig.

Noch absurder ist die neue EU-Vorschrift, nach der die Ratings von Staaten nur noch an vorher festgelegten Freitagen revidiert werden dürfen. Damit ist der bisher herrschende Überraschungseffekt bei Rating-Änderungen passé. Investoren können nun genau vorhersagen, wann eine Abwertung kommt. Damit stellt sich ein ähnlicher Effekt wie bei festen Wechselkursen ein: Spekulationen werden einfacher. War bisher der Zeitpunkt einer zu erwartenden Auf- oder Abwertung eines Ratings eine unsichere Variable, kann man nun mit einem festen Datum rechnen und geht bei spekulativen Transaktionen weniger Risiko ein. Die Vorschrift führt also genau zum Gegenteil von dem, was beabsichtigt war.

Es ist nicht neu, dass Regierungen versuchen, die freie Meinungsausübung in Wirtschaftsfragen zu beeinträchtigen. Im Politischen ist Meinungsfreiheit ein lang etabliertes Recht. In der Wirtschaft hingegen nicht. Zwei Beispiele verdeutlichen, die Regierungen immer wieder versuchen, unangenehme Wirtschaftsprognosen zu unterdrücken.

In Argentinien forderten die Machthaber alle privaten Analysten und Forschungsinstitute im Februar 2011 auf, ihre Methoden bei der Statistikbehörde zur Überprüfung einzureichen. Seit die Regierung 2007 einen politisch verlässlichen Chef an die Spitze der Statistikbehörde INDEC setzte, hatten die offiziellen Zahlen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Dazu kommt, dass die Regierung dem Internationalen Währungsfonds eine Prüfung der eigenen Methodik seit 2006 verweigert. Eine unabhängige Berechnung der Inflationsrate war also ein vielversprechendes Geschäftsmodell für unternehmerische Statistiker.

Allerdings hatten sie ihre Rechnung ohne die Skrupellosigkeit ihrer Regierung gemacht. Diejenigen, die der Forderung nachkamen und ihre Berechnungsmethoden der Statistikbehörde mitteilten, bekamen eine Geldbuße von je rund 100.000 Euro wegen angeblicher Fehler. Gegen ein privates und unabhängiges Forschungsinstitut, MyS Consultores, wurde sogar ein Strafverfahren eingeleitet.

Der wesentliche Unterschied zwischen den offiziellen und privaten Berechnungen lag im Erhebungsbereich der Daten. Die Privaten berechneten die Inflationsrate des Landes aufgrund von Daten, die sie selbst im ganzen Land erhoben. Die offizielle Inflationsrate hingegen wird nur aufgrund von Daten aus der Provinz Buenos Aires berechnet. Es verwundert kaum, dass die von privaten Agenturen errechneten Inflationsraten wesentlich höher liegen als die offizielle: rund 25 Prozent statt offiziell 9,7 Prozent. Der Leser kann selbst entscheiden, welche Methode glaubwürdiger ist. Politisch erwünscht ist natürlich immer die Methode, bei der die kleinere Zahl herauskommt.

 

Man muss jedoch nicht bis nach Südamerika schauen, um Eingriffe in die Redefreiheit und Druck auf Wirtschaftler zu finden. Auch in Europa gibt es bereits erschreckende Beispiele. Ausgerechnet in Lettland, immerhin ein Mitglied der Europäischen Union, wurde Ende 2008 der Wirtschaftswissenschaftler Dmitrijs Smirnovs in ein Gefängnis der Geheimpolizei gesperrt, weil er bei einer Online-Debatte die Abwertung des Lat gegenüber dem Euro vorhersagte. Er riet Sparern, ihr Geld lieber in anderen Währungen investieren, um der drohenden Abwertung zu entgehen. Nach seiner Freilassung zeigte sich Smirnovs, je nach Sichtweise entweder einsichtig oder eingeschüchtert: Er kündigte an, bei seinen Prognosen in Zukunft vorsichtiger zu sein.

Etwas weniger dramatisch als Smirnovs‘ Verhaftung war im Jahr davor der Fall von Alf Vanags, Direktor eines Forschungsinstituts in Riga. Nachdem Vanags bei einer Pressekonferenz vor dem steigenden Leistungsbilanzdefizit des Landes warnte, bekam er innerhalb einer Stunde einen Anruf von der Geheimpolizei. Sogar der Musiker Valters Frindbergs bekam Ärger mit der Polizei, weil er bei einem Konzert scherzte, die Besucher sollten bis zum Ende des Konzerts warten, bevor sie ihre Konten bei den Banken leeren. Wie gesagt, Lettland ist Mitglied der Europäischen Union.

Die Drohgebärden der Politik gegenüber Rating-Agenturen lassen also nichts Gutes erahnen, was die Zukunft objektiver Wirtschaftsanalysen im Euroraum angeht.

18 Ratings aktuell per August 2012. Es handelt sich streng genommen um die von der niederländischen Siemenstochter Siemens Financieringsmaatschappij N.V. begebene Anleihe mit ISIN XS0266840486. Die Campbell Soup Company-Anleihe hat die ISIN US134429AW93.

19 Zum 18. 3. 2011.

7

Was bringt eine europäische Rating-Agentur?

Noch eine Rating-Agentur? Das ist etwa so, als würde die Stiftung Warentest in mehrfacher Ausführung immer noch nicht reichen. Ein wichtiger Kritikpunkt an Rating-Agenturen ist, dass es nicht genug davon gibt und somit kein ausreichender Wettbewerb stattfindet. Ein Vergleich mit der Stiftung Warentest zeigt, dass auch bei der Prüfung von Konsumgütern nicht viel Wettbewerb herrscht. Und das, obwohl es sich dabei doch um einen wesentlich größeren Markt handelt. Während die Rede immer nur von den drei großen Agenturen Moody‘s, Standard & Poor‘s und Fitch ist, gibt es noch eine Reihe kleinerer Rating-Agenturen, deren Existenz weitgehend totgeschwiegen wird.

Zunächst die Agentur Egan-Jones, 1995 von Sean Egan gegründet. Diese Agentur vergibt Ratings, für die Nutzer der Ratings zahlen. Damit unterscheidet sich die Agentur wesentlich von den drei Großen, bei denen die Emittenten der Wertpapiere Auftraggeber sind und die Kosten übernehmen. Wenn der Emittent zahlt entsteht potentiell ein Interessenkonflikt. Wenn jedoch die Nutzer zahlen und nicht die Emittenten, gibt es weniger Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Ergebnis.

Dieser Kritikpunkt wird gerne gegen die bekannteren Rating-Agenturen hervorgebracht. Doch warum verlässt die EZB sich dann auf Ratings dieser Agenturen und ignoriert die – zumindest theoretisch – besseren Ratings von Egan-Jones? Offenbar ist nicht nur die Methodik wichtig, sondern auch der Ruf und die Glaubwürdigkeit einer Agentur. Egan-Jones ist ein relativ junges Unternehmen, das sich seinen guten Namen gerade langsam und mühsam erarbeitet. Während die amerikanische Wertpapieraufsicht Egan-Jones Ratings für vollwertig anerkennt, zögert die EZB noch. Vielleicht ist dieses Zögern aber auch politisch gewollt. Denn solange man behaupten kann, dass es nur drei Rating-Agenturen gibt, kann man auch die Gründung einer europäischen Agentur fordern.

Damit würde man dann China nacheifern. Die Mandarine der Volksrepublik ärgerten sich in der 90er Jahren wie europäische Politiker heute, dass die großen Rating-Agenturen alle in den USA beheimatet sind. Also gründete man 1994 schnell Dagong Global Credit Rating als eigene chinesische Rating-Agentur. Natürlich unabhängig. Ihr kommt innerhalb Chinas eine wichtige Rolle zu, da viele der dortigen Unternehmen und Gebietskörperschaften nach der Öffnung Chinas nur langsam internationale Kredite aufnahmen und deshalb von den westlichen Rating-Agenturen nur selten bewertet werden.

Dagong bewertet aber auch Staaten. Und diese Bewertungen lassen ahnen, wie eine zukünftige europäische Rating-Agentur verfahren wird. Die beste Bewertung vergibt Dagong ausschließlich an – der Leser ahnt es schon – die Volksrepublik China. Deutschland und viele andere europäische Staaten liegen knapp darunter. Griechenland wird genauso schlecht bewertet wie durch die amerikanischen Rating-Agenturen.

Man kann also erwarten, dass eine genauso unabhängige europäische Rating-Agentur ähnlich verfahren wird: Europäische Staaten bekommen die Bestnote, alle anderen Staaten liegen knapp darunter. Es wird dieser neu gegründeten Rating-Agentur schwerfallen, bald einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit zu erreichen. Und wenn die Gründungsgeschichte auf Ärger über die schlechten Bewertungen durch die etablierten Agenturen zurückgeht, dann steht es von Anfang an schlecht um Glaubwürdigkeit.

Per Dekret lässt sich Vertrauen in eine Rating-Agentur genauso wenig herstellen wie in den Euro als Gemeinschaftswährung. Der Vergleich der chinesischen Gegen-Rating-Agentur zu ihrem europäischen Pendant ist so naheliegend, dass die europäische Nummer mit einem Vertrauensdefizit starten wird, dass erst in vielen Jahren, wenn überhaupt je, überwunden sein wird.

Am Rande seien der Vollständigkeit halber noch ein paar andere Rating-Agenturen erwähnt: A.M. Best ist spezialisiert auf Versicherungen, Dominion Bond Rating Services konzentriert sich auf kommunale Schuldner in den USA, Weiss Ratings bewertet Finanzunternehmen sowie Staaten und Japan Credit Rating Agency bewertet Unternehmen und Staaten. Es gibt auch in zahlreichen anderen Ländern Rating-Agenturen, die meist regional ausgerichtet sind und zur Unterstützung des Außenhandels andere Staaten bewerten, auch europäische.

Politiker, die hoffen, bessere Bewertungen für europäische Wackelstaaten allein durch Reform der Rating-Agenturen zu bekommen, sollten die Bewertung Deutschlands durch Egan Jones betrachten: A, also fünf Stufen niedriger als durch die drei großen Rating-Agenturen.20 Wenn Politikern klar wird, dass die einzige Rating-Agentur, bei der die Nutzer der Ratings zahlen, noch schlechtere Bewertungen vergibt als die drei Großen, werden sie schnell das klassische Oligopol wieder gutheißen.

20 Stand: Januar 2014.

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Sind Rating-Agenturen am Griechenland-Debakel schuld?

Rating-Agenturen wirken wie Öl auf Feuer: Wenn es brennt verstärken sie durch negative Bewertungen die Krise nur noch. Gerade in der Griechenlandkrise haben Kritiker diesen Effekt immer wieder beklagt. Doch dabei haben sie die Ursache und Wirkung verwechselt. Die Funktion von Rating-Agenturen lässt sich am besten mit der von Verfassern von Leitartikeln oder Fernsehkommentaren vergleichen. Wenn sich jemand bei einer Bundestagswahl nach der Empfehlung eines Kommentators entscheidet, so ist das in erster Linie die Entscheidung des Wählers. Rating-Agenturen schaffen keine Tatsachen, sondern sind bestenfalls Überbringer guter oder schlechter Nachrichten. Das sieht inzwischen sogar Sigmar Gabriel so.21 Niemand käme auf die Idee, den Verfasser eines Leitartikels für falsche Wahlempfehlungen haftbar zu machen. Doch eine solche Haftung wird von der Europäischen Kommission für Rating-Agenturen gefordert.

Rating-Agenturen werden immer wieder als Brandbeschleuniger verurteilt. Sie stecken heute in einem Dilemma. Ihnen wird vorgeworfen, im Frühstadium der Finanzkrise nicht schnell genug gehandelt zu haben, um die Ratings von Finanzprodukten den geänderten Verhältnissen anzupassen. Während die Marktteilnehmer manche Hypothekenanleihen bereits zu Schrottpreisen handelten, benoteten die Rating-Agenturen diese Papiere noch mit einer hohen Bonität. In der europäischen Staatsschuldenkrise geloben und praktizieren die Rating-Agenturen nun Besserung, doch schon wieder ist das Heer der Kritiker unzufrieden. Für manche agierten sie diesmal zu schnell und sollen Staaten und Politik vor sich hergetrieben haben. Andere wiederum waren der Meinung, dass die Rating-Agenturen lediglich den Finanzmärkten hinterherlaufen. Was letztlich bedeuten würde, dass sie wieder einmal zu langsam waren.

Tatsache ist, dass die Rating-Agenturen es nicht jedem Recht machen können. Das liegt in der Natur der Sache. Rating-Agenturen vertreten eine Meinung, die sie als Wahrscheinlichkeit ausdrücken. Die einen Kritiker wünschen sich eine perfekte Vorhersage der Zukunft. Andere sehen Rating-Agenturen als Instrumente der Politik, oder zumindest als Institutionen, die politischen Willen umsetzen sollen. Die Macht der Rating-Agenturen beschneiden wurde zur Kernforderung eines jeden Politikers bis hin zur Europäischen Kommission. Von dort kam auch der Vorschlag, Herabstufungen von kriselnden Eurostaaten zu verbieten. Rating-Agenturen sollten außerdem für Fehler haften. Schließlich hätten die Rating-Agenturen in der Vergangenheit europäische Staaten falsch bewertet, insbesondere Griechenland.

Inzwischen ist die Lage in Griechenland noch schlimmer, als die pessimistischsten Vorhersagen der Rating-Agenturen prophezeit hatten. Anleger mussten bei griechischen Staatsanleihen Verluste von bis zu 80 Prozent einstecken. Die These der angeblich zu schlechten Bewertungen ist damit zwar vom Tisch, nicht jedoch die Forderung, Rating-Agenturen stärker zu überwachen.

Die Legende der „falschen” Bewertungen nahm ihren Anfang in einem fundamentalen Missverständnis, dem die Mehrzahl der politischen Entscheidungsträger bis weit in die Krise hinein aufsaß. Sie interpretierten Griechenlands Schwierigkeiten fälschlicherweise als eine Wiederholung der Liquiditätsengpässe, die zuvor Banken geplagt hatten, und die durch staatliche Garantien mit minimalem Aufwand beseitigt werden konnten. Doch Griechenland ging nicht durch eine Liquiditätskrise, sondern war schlicht und einfach insolvent.

Insolvenz und Liquiditätsengpass können unter dem Sammelbegriff Zahlungsunfähigkeit zusammengefasst werden. In beiden Fällen ist ein Schuldner nicht in der Lage, fällige Zahlungen zu leisten. Der Unterschied liegt in der Ursache für die Zahlungsunfähigkeit: bei einem Liquiditätsengpass hat der Schuldner zwar ein ausreichendes Vermögen, um seine Schulden zu bedienen. Es ist jedoch langfristig angelegt, so dass es nicht ohne weiteres zu liquiden Barreserven auf einem Konto liquidiert werden kann.

Ein Beispiel dafür ist ein Schuldner, der eine Immobilie besitzt, die mehr wert ist als die ausstehende Hypothek. Wenn der Schuldner keine ausreichenden Barreserven hat, kann er fällige Kreditzahlungen nicht leisten. Der Erlös aus dem Verkauf der Immobilie würde ausreichen, den Kredit zurückzuzahlen. Bis zur Fälligkeit der Zahlung lässt sich aber so ein Verkauf nicht arrangieren, und in vielen Fällen wäre der Verkauf auch wirtschaftlich gar nicht sinnvoll. Der Schuldner erleidet einen klassischen Liquiditätsengpass, der durch Garantien oder Überbrückungskredite behoben werden kann. Ein kurzfristiger Kredit oder eine Stundung der Zahlung bis zum Verkauf der Immobilie reicht aus. Die Hypothek würde keinen Verlust verursachen.

Im Gegensatz dazu ist ein Schuldner insolvent, wenn in diesem Beispiel selbst der Verkauf der Immobilie nicht ausreichen würde, um die Schulden zurückzuzahlen. Kein Überbrückungskredit kann die Solvenz des Schuldners wieder herstellen.


Bild 1: Ausgaben, Garantien und tatsächlich Kosten der Rettungsmaßnahmen in Prozent des Bruttosozialprodukts; Quelle: Stéphanie Marie Stolz, Michael Wedow: Extraordinary Measures in Extraordinary Times. Public Measures In Support of the Financial Sector in the EU and the United States. Occasional Paper Series No 117, Europäische Zentralbank, Frankfurt am Main, Juli 2010

 

Die Bankenkrise der Jahre 2008 und 2009 war ein typischer Liquiditätsengpass, der durch Garantien behoben werden konnte. Vielen entging damals, dass ein Großteil der gewaltigen Beträge, die zur Bankenrettung bereitgestellt wurden, in Wirklichkeit Garantien waren, die nie abgerufen werden mussten. Es wurde also nicht wirklich Geld ausgegeben, obwohl die Garantien in der staatlichen Buchführung als Ausgaben deklariert werden mussten. Nur bei einem Teil der Beträge handelte es sich um tatsächliche Ausgaben, wie beispielsweise bei der Stützung der Hypo Real Estate. Bild 1 zeigt eine Übersicht über die Kosten der weltweiten Hilfsprogramme. Der weit größte Teil der deutschen Hilfspakete bestand aus Garantien, die nie abgerufen wurden – genau der Effekt, den man bei der erfolgreichen Bekämpfung einer Liquiditätskrise erwarten würde. In der Öffentlichkeit erhält sich trotzdem der Eindruck, die gewaltigen Summen der Garantien wären Steuergelder, die an die Banken ausgezahlt wurden. Leider gibt es mehr als genug Politiker, die diesen falschen Eindruck absichtlich forcieren.

Im Gegensatz zur Bankenkrise der Jahre 2008 bis 2009 erlebte Griechenland zu keiner Zeit einen Liquiditätsengpass, sondern war schlicht und einfach insolvent. Seine Schulden hatten bereits zu Beginn der Krise ein Niveau erreicht, auf dem eine Rückzahlung angesichts der schlechten wirtschaftlichen Aussichten nicht mehr realistisch war. Doch leider verstanden Politik und Presse den wahren Grund der griechischen Probleme nicht. Sie erwarteten, mit einem oder auch ein paar Rettungsschirmen ein einfaches Liquiditätsproblem überbrücken zu können. Gebetsmühlenartig wurden Durchhalteparolen wiederholt: anfangs wurde der Öffentlichkeit erzählt, Griechenland könne sich spätestens 2011 wieder bei Privatanlegern über die Märkte Geld besorgen. Bis dahin sollten die Rettungsschirme Überbrückungsgeld zur Verfügung stellen. Aus 2011 wurde dann 2012, und schließlich – kam der Schuldenschnitt.

Woher diese Fehlinterpretation stammte, ist schwer zu sagen. Vielleicht waren Politiker und Presse zu sehr auf die gerade erst beigelegte Bankenkrise fixiert, in der Liquiditätsspritzen die Gesundung des Systems einleiten konnten. Vielleicht haben sie auch wirklich nicht den fundamentalen Unterschied dieser zwei verschiedenen Arten von Zahlungsunfähigkeit verstanden. Vielleicht beides.

Während die Politik die Ursache der Krise fehlinterpretierte und auf das Prinzip Hoffnung setzte, hatten sich die Kreditgeber Griechenlands mit der Materie intensiver auseinandergesetzt. Kreditgeber können sehr genau zwischen Liquiditätsproblemen und mangelnder Solvenz differenzieren. Einschätzungen dieser Art sind schließlich ihr tägliches Brot.

Als der neu gewählte griechische Finanzminister Giorgos Papakonstantinou im Oktober 2009 einräumte, dass Wahlkampfversprechen über Mehrausgaben gebrochen würden, weil das Haushaltsdefizit bei 12 oder 13 Prozent anstatt der bis dahin behaupteten sechs Prozent lag, verstanden Anleger schnell, dass eine Rückzahlung der Staatsschulden bei einer schwächelnden Wirtschaft schwierig würde.

Folglich investierte kaum noch jemand in neue griechische Anleihen. Die Märkte funktionierten genau so, wie man erwarten würde. Ein mangelndes Angebot an Kapital führt zu steigenden Zinsen für den griechischen Staat. Kapitalismuskritiker hingegen sehen dies als eine Fehlfunktion des Markts. Sie halten die Zurückhaltung der Investoren trotz des vorhersehbaren Zahlungsausfalls für irrational.

Auch in den Rating-Agenturen wurde den Analysten klar, dass eine Rückzahlung von Griechenlands Schuldenberg schwierig werden könnte. Zwei Tage nach dem Offenbarungseid des Finanzministers stufte die Rating-Agentur Fitch Griechenland von A auf ein immer noch gutes A- herab, also das gleiche Niveau, das derzeit Polen hat.22

Als sich Griechenlands Haushaltslage immer weiter verschlechterte und Hilfsmaßnahmen beschlossen wurden, stiegen die Zinsen und parallel dazu passten die Analysten die Bonitätseinstufungen an. Im April 2010 stufte S&P die Bonität Griechenlands zum ersten Mal auf Ramschniveau: BB+, also gerade einmal knapp 30 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Zahlungsausfall kommen könnte. Das ist nicht gerade ein Weltuntergangsszenario.

Trotzdem vernahm man aus Athen das Wort unerklärlich und Ähnliches aus Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten. Die Rating-Agenturen verstünden Europa nicht, manch einer vermutete gar ein angelsächsisches Komplott. Es hieß gar, Finanzmärkte würden die Politik vor sich hertreiben.

Anstatt auf eine geordnete Insolvenz hinzuarbeiten, wurden von der Politik immer neue Rettungsschirme gespannt. Rating-Agenturen prophezeiten durch ihre Abwertungen eine hohe Wahrscheinlichkeit eines Verlusts für Anleger. Investoren verkauften ihre griechischen Staatsanleihen zu Preisen, die auf einen Schuldenschnitt hindeuteten. Lediglich die Politik propagierte noch die Sicherheit der griechischen Schulden, für die man nur kurzfristige Überbrückungskredite brauche.

Ich habe bereits Anfang 2011 Analysen gesehen, in denen Analysten aus der Privatwirtschaft einen Schuldenschnitt von 60 bis 90 Prozent vorhersagten. Doch die Politik sträubte sich noch lange gegen eine realistische Einschätzung der Lage. Es dauerte bis Mitte 2011, bis überhaupt eine Reduzierung der Schulden Griechenlands in der Öffentlichkeit ins Gespräch gebracht wurde, zunächst zaghaft mit einem Schuldenschnitt von mickrigen 20 Prozent. Erst im Oktober 2011 ging es dann um eine Reduzierung des Nominalwertes der Schulden um fünfzig Prozent, was aufgrund der Ausgestaltung jedoch einem Wertverlust von 70 bis 80 Prozent entsprach.

Manche Politiker waren sich über den Unterschied zwischen Zahlungsunfähigkeit und Insolvenz auch noch nicht im Klaren, als Griechenland schon auf eine Umschuldung hinarbeitete. Noch im Februar 2012 behauptete Peer Steinbrück, der als Finanzexperte gilt und es eigentlich besser wissen müsste, dass eine schnelle Einführung von Eurobonds Zeit schaffen würde, auf eine geordnete Insolvenz Griechenlands hinzuarbeiten. Doch Eurobonds hätten eine Insolvenz eben gerade verhindern sollen.

Wenn die Lage erst einmal stabilisiert ist, besteht kein Grund mehr für eine Insolvenz, denn der wirtschaftliche Druck für einen Schuldenschnitt geht zurück. Steinbrück glaubte, es handle sich um eine Refinanzierungs-Krise einzelner Staaten aus unterschiedlichen Gründen.23 Dies ist ein anderer Ausdruck für eine Kreditklemme oder einen Liquiditätsengpass, der mit Überbrückungskrediten wie Eurobonds gelöst werden kann. Doch genau das war es eben nicht.

Die Rating-Agenturen standen zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr im Mittelpunkt der Kritik, auch nicht, als sie im Oktober 2011 Griechenland auf CCC- herabstuften. Dies ist die niedrigste Stufe vor der Insolvenz. Inzwischen hatte sich auch in der Öffentlichkeit herumgesprochen, dass keine Hoffnung auf Rückzahlung der Schulden Griechenlands besteht, Rating-Agenturen hin oder her.

Während der Finanzkrise mussten sich die Rating-Agenturen vorwerfen lassen, zu langsam mit Herabstufungen von Verbriefungen amerikanischer Hypotheken gewesen zu sein. In der Griechenlandkrise waren sie dann angeblich zu schnell. Doch die Kritiker haben keine vernünftigen Alternativvorschläge zu bieten. Wann genau hätten die Rating-Agenturen denn Griechenland auf Ramschstatus herabstufen sollen? Erst 2011, als endlich auch die Politik einsah, dass es zum Schuldenschnitt kommen sollte? Der Ruf der Rating-Agenturen ist nicht ruiniert, weil sie schlecht gearbeitet haben, sondern weil oft genug wiederholt wurde, sie würden alles falsch machen und seien zu mächtig.

Der Grund für diese scheinbare Macht der Rating-Agenturen liegt teilweise in der Bedeutung, die ihnen von den Aufsichtsbehörden eingeräumt wird. Banken und Versicherungen dürfen nur in Anlagen guter Bonität investieren. Wird die Bonität durch eine Bank oder Versicherung selbst festgelegt, ist dies für Kunden nicht zu durchschauen. Jedes Institut würde andere Maßstäbe anlegen – und im Zweifel auch die schlechtesten Schuldner bestens einstufen.

Niemand würde beispielsweise einer Lebensversicherung seine Ersparnisse anvertrauen, wenn sie die Risiken ihrer Anlagen selbst einschätzt. Dann bestünde die Gefahr, dass die Versicherungen mit Kundeneinlagen riskante Anlagen tätigen, um eine etwas höhere Rendite zu erzielen. Schließlich sind Renditen ein wichtiges Verkaufsargument von Lebensversicherungen, und Verbraucherzeitschriften nutzen Renditen als Grundlage von Empfehlungen. Kunden könnten nicht abschätzen, ob eine höhere Rendite durch bessere Anlagen und geringere Kosten zustande kam, oder ob sie lediglich das Ergebnis laxer Standards bei der Bonitätsprüfung ist, durch die riskantere Anlagen mit hoher Rendite in der Versicherung landeten. Eine Aufweichung der Vorschriften mag vielleicht im Sinne der Politik sein, ist aber sicherlich nicht im Sinne der Verbraucher.