Schatten der Anderwelt

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Schatten der Anderwelt
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Thomas Hoffmann

Schatten der Anderwelt

Die Fahrten des Norbert Lederer 2

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I. Teil

1.

2.

3.

4.

5.

II. Teil

6.

7.

8.

9.

10.

11.

III. Teil

12.

13.

14.

15.

IV. Teil

16.

17.

18.

Impressum neobooks

I. Teil

Der Abenteurerjunge

1.

Am Frühjahrsfest des Jahres 816 ereignete sich in der Markgrafenstadt Altenweil eine Brandkatastrophe. Es war das katastrophalste Ereignis seit dem Horgarensturm im Jahr 214, welcher einst die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Das Feuer brach gegen Mitternacht im Turm des stadtbekannten Dämonologen Anton Dreyfuß aus. Die Brände breiteten sich schnell aus. Weite Teile der Unterstadt standen in Flammen.

Inmitten der Panik auf den Gassen um den Bereich brennender Häuserzeilen, zwischen den Schreien Verbrannter, die sich aus den Flammen herausschleppten, dem verzweifelten Kreischen von Müttern, die ihre Kinder in den Flammen verloren hatten, verbrennen sehen hatten, dem Entsetzen derer, die innerhalb einer Viertelstunde alles verloren hatten, versuchten Torwachen und Kriegsknechte des Markgrafen, Brandschneisen zu schlagen. Sie brachen Haustüren ein, zerschlugen Mobiliar, zertrümmerten alles Brennbare, sogar die Fensterläden brachen sie heraus und warfen die Trümmer zur dem Feuer abgewandten Seite in die Hinterhöfe. Mit Eimerketten versuchten sie im beißenden Qualm, Fußbodendielen und Dachstühle unter Wasser zu setzen im Wettlauf mit den von der gegenüberliegenden Seite der Gasse herüberstiebenden Brandfunken.

Unter dem nachtschwarzen Himmel färbte die lodernde Feuersbrunst den Burgfelsen inmitten der Stadt glühend rot. Im flackernden Feuerschein tauchten hoch über der Stadt immer wieder für Augenblicke die abweisenden Mauern der Grafenburg aus der Dunkelheit auf. Die ganze Nacht über und bis in den vom Rauch verdunkelten Morgen hinein läuteten die Klosterglocken Sturm. Unablässig verbrannten die Mönche kostbaren Weihrauch auf den Klosteraltären und beteten auf Knien zur heiligen Mutter von Altenweil um Erbarmen für die Stadt.

Und tatsächlich erinnerten sich später nicht wenige daran, dass das Feuer eine Häuserzeile vor den Klostermauern Halt gemacht hatte und sich dann nicht einen Schritt mehr weiterfraß - genau dort, wo die Knechte des Markgrafen unter dem Jammer- und Protestgeschrei der Anwohner die Brandschneisen geschlagen hatten. Allen Frommen war es offensichtlich: Die Gebete der Mönche hatten die Stadt gerettet.

Den ganzen Tag über wollte das Feuer in den niedergebrannten Teilen der Unterstadt nicht erlöschen. Immer wieder schossen Flammengarben aus den rauchenden Trümmerhaufen, aus denen rußgeschwärzte Kaminschlote aufragten wie abgebrochene Armstümpfe einer verzweifelt gegen den abweisenden Himmel krallenden, glühenden Hölle. Die erschöpften, vom giftigen Rauch hustenden Kriegsknechte und wer nur immer mithelfen konnte, ließen die Eimerketten nicht abreißen, um das Überspringen der Flammen in die noch stehenden Reihen von Fachwerkhäusern jenseits der glühend heißen Zerstörungszone zu verhindern. Inmitten der rauchenden Trümmer ragte die ausgebrannte Ruine des Zaubererturms auf. Blaue Flammen loderten aus den rußgeschwärzten Mauern. Sie wollten nicht erlöschen, allen Gebeten der Mönche und allem Glockenläuten zum Trotz.

Noch am Abend kämpften die Altenweiler gegen das Überspringen des Feuers auf die Häuser nahe der Brandzone. Im Geschrei auf den Gassen, zwischen den heiser gebellten Befehlen der Hauptleute, die ihren Männern unter Flüchen und Drohungen das Äußerste abverlangten, dem überall kauernden und die Löschketten behindernden Stadtvolk – Frauen, Männer und Kinder, die sich weinend über sterbende, nach Wasser schreiende Verbrannte beugten - zwischen umher wankenden Traumatisierten, die über Tote stolperten, in Eimerketten hineintaumelten oder vor sich hinstarrend im Weg saßen - in dem überall herrschenden Chaos fiel der Junge in Ledermontur niemandem auf, der reglos am Rand der Brandzone stand und über das rauchende Trümmerfeld zu der von blauen Flammen eingehüllten Turmruine hinüberstarrte.

Der Junge mochte zwischen sechzehn und siebzehn Jahren alt sein. Er trug ein Schwert in einer Lederscheide an der Seite. Seine Stiefel waren schlammverkrustet. Sein dunkles, schulterlanges Haar unterschied sich in nichts von dem anderer junger Männer, wenn sie nicht gerade Adelige waren oder auf Brautschau: es war lange nicht gekämmt worden und die einzige Wäsche, die ihm seit Wochen zuteil geworden war, war der Regen. Den dunklen Flecken auf seiner Ledermontur war nicht anzusehen, ob sie vom Regen stammten, oder ob es Blutflecken waren aus einem durchgestandenen Kampf auf Leben und Tod.

Kriegsknechte und Stadtvolk in seiner Nähe hielten ihn für einen fahrenden Abenteurer, einen Gesetzlosen. Sie vermieden es, ihm nahe zu kommen. Den Ausdruck bitterer Entschlossenheit, den seine Gesichtszüge annahmen, sah niemand. Der Junge umschloss den Schwertgriff mit der Faust, als blickte er einem Feind entgegen. Niemand hörte die gemurmelte Zauberformel, die über seine Lippen kam. Erst als er langsam, Schritt für Schritt die vor ihm liegende, von glühenden Schlacken und rauchenden Trümmern verschüttete Gasse entlang in die Brandzone hineinstieg, richteten sich alle Blicke in der Umgegend auf ihn.

Mit einem Mal wollten einzelne ihn erkannt haben.

„Das ist der Schüler des Hexenmeisters!“

„Er ist Norbert Lederer!“ riefen Stimmen durcheinander.

„Was tut er da?“

„Heilige Mutter, beschütze uns!“

Er schritt durch das Trümmerfeld der Turmruine entgegen, aus der loderndes blaues Feuer schlug. Dort, wo er ging, erloschen die Flammen.

Durch Rauchschwaden hindurch sahen Markgrafenknechte und Stadtvolk ihn mit gezogenem Schwert vor der Turmruine stehen. Einige behaupteten, er kämpfe mit einem unsichtbaren Gegner. Andere glaubten, er schwanke in der Gluthitze, die dort herrschen musste. Eine Alte, die wohl besonders gute Augen hatte, schrie, seine Haare stünden in Flammen, jeden Augenblick müsse er verbrennen.

„Da, das blaue Feuer,“ brüllte ein Kriegsknecht. „Es versiegt! Das blaue Feuer im Turm erlischt!“

Als die blauen Flammen erloschen, erstarb auch die Feuersglut in der Brandzone. Die stumm gewordene Menge starrte über das rauchende Trümmerfeld. Die Abenddämmerung tauchte die Ruinen rings um die rußgeschwärzten Mauerreste des Zaubererturms in Dunkelheit. Der Junge, von dem einige meinten, er sei der Schüler des in den Flammen umgekommenen Dämonologen Anton Dreyfuß, kniete lange auf sein Schwert gestützt vor der Turmruine. Vor Erschöpfung, meinten einige. Andere glaubten, er bete – zur heiligen Jungfrau oder auch zu irgendeinem Teufel, der ihm geholfen hatte. Später wurde gesehen, wie er aus der Brandzone heraus und längs der Klostermauer in Richtung Armenviertel davonging.

Ein paar erschöpfte Tagelöhner, die seit der vergangenen Nacht bei den Löschketten geholfen hatten, sahen ihn am späten Abend im Durchgang zu einem Hinterhof stehen und zu dem schiefen Fachwerkhaus auf der gegenüberliegenden Hofseite hinüberschauen. Sie wussten, dass das Haus einer Alten gehörte, von der gemunkelt wurde, sie sei eine Hexe, um deren Haus des Nachts Totengeister schlichen. Die Schwarzalben, die in den Hofecken lauerten, waren für die Tagelöhner nicht sichtbar. Der Junge sah sie. Er blickte zu einem kleinen Fenster im oberen Stockwerk hinauf. In dem Fenster brannte kein Licht. Einen Moment überlegte er, ob er trotz der dämonischen Geister zur Hintertür hinübergehen sollte. Aber er verwarf den Gedanken gleich wieder. Noch einmal blickte er zum oberen Stockwerk hinauf, aber als kein Licht sich in dem kleinen Fenster zeigte, wandte er sich um und ging.

 

***

Die Schänke Zum schwarzen Raben, ein Jahrhunderte alter, zweistöckiger Fachwerkbau mit kleinen Fenstern, lag zwischen sich schief aneinanderdrängenden Holzhäusern in einer Mauergasse des Armenviertels hinter dem Burgfelsen. In dem von wenigen Kienspänen spärlich erhellten Schankraum, unter dessen niedriger Balkendecke der Rauch der Feuerstelle sich sammelte, hatte sich bei Einbruch der Nacht ein halbes Dutzend Reisender eingefunden, die sich zufällig in Altenweil aufhielten, als in der vergangenen Nacht die Feuersbrunst ausbrach. Die Frauen und Männer hatten rußgeschwärzte Gesichter. Reisekleider und Ledermonturen rochen nach Rauch. Die letzte Nacht und den Tag über hatten sie gemeinsam mit Kriegsknechten und Städtern das Feuer bekämpft, über die Brandschneisen herüberspringende Brände gelöscht, Verletzte, Verbrannte und vom Rauch Vergiftete geheilt, Verzweifelten Mut zugesprochen und Plünderer aus den Hinterhöfen bei den Brandschneisen verjagt. Aber was sie auch taten, es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein vor dem Ausmaß der Katastrophe.

Jetzt saßen sie schweigend um einen Tisch beim offenen Fenster, wo es weniger rauchig war und schlürften Fleischsuppe, zu müde, um darüber zu sprechen, was sie erlebt hatten. Eine sehr schlanke, in weiches Leder gekleidete Frau, der das blonde Haar in schmutzigen Strähnen um den Kopf hing, hatte ihren Stuhl abgerückt. Auf der Reiseharfe auf ihrem Schoß spielte sie leise, melancholische Töne und sang dazu mit gedämpfter Stimme in fremder Sprache. Wie Tränen über ein verlorenes Glück perlten die Harfenklänge herab.

Das Klacken der Holzschuhe der Küchenmagd Sarah, einer hochaufgeschossenen Sechzehnjährigen mit trotzigem, selbstsicherem Gesichtsausdruck, hob sich misstönend von den sanften Harfentönen ab, als Sarah Bier und Brot an den Tisch brachte. Ein breitschultriger Mann mit einer Augenklappe und riesigen Fäusten nickte ihr schweigend mit auf die Tischplatte gestützten Armen zu. Dass dieser Mann der Wirt des Schwarzen Raben war, hätte niemand erraten, der das nicht wusste. Sarah warf sich das braune, zum Pferdeschwanz zusammengebundene Haar in den Nacken und verschwand klackend im Flur zur Küche.

Ein Nachtfalter verirrte sich durch das offene Fenster in den Schankraum und verbrannte in der Flamme des Kienspans auf dem Tisch. Es war wie ein Zeichen des Grauens, welches der Markgrafenstadt widerfahren war.

Nur Gordon, der Wirt, schaute auf, als die Eingangstür geöffnet wurde.

Erst, als jemand erstaunt rief: „Das ist er!“ blickten alle auf den Jungen mit dem verrußten Gesicht in der Ledermontur voller alter, dunkler Blutflecken. Die Harfenmusik verstummte.

Norbert sah die Frauen und Männer am Tisch. Sie schauten ihm entgegen. Er bemerkte den festen, ruhigen Blick aus Gordons gesundem Auge. Er roch den Essensgeruch, sah die Bierkrüge auf dem Tisch und sah die Abenteurer auseinanderrücken, um ihm einen Stuhl an den Tisch zu stellen. Erst in diesem Moment spürte er die abgrundtiefe Mattigkeit seines Körpers. Jeder einzelne seiner Muskeln schmerzte. Der Schädel hämmerte ihm von den Nachwirkungen der Magie, die er im Kampf in der Brandzone freigesetzt hatte. Er machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Der Schankraum begann, sich um ihn zu drehen. Ihm wurde schwarz vor Augen.

***

Gluthitze. Ein brüllender Feuersturm blauer Flammen jagte Norbert aus den verbrannten Turmmauerresten entgegen. Mit aller Macht stemmte er sich gegen den Sog in den Abgrund der Anderwelt. Das bleckende Gebiss mit den dolchartigen Zähnen. Es zuckte vor Norberts hell aufstrahlender Schwertklinge zurück. Hohles Kreischen drang aus dem geifernden Rachen...

Norbert riss die Augen auf. Er fand sich in einem mit Decken ausgeschlagenen Lehnstuhl am offenen Fenster des Schankraums wieder. Das ernste Gesicht der Bardin beugte sich über ihm. Ihre schmale Hand hielt ihm ein Tonfläschchen entgegen.

„Nimm noch einen Schluck. Dein Körper kann es gebrauchen.“

Gehorsam trank er den Schluck Heilwasser. Die dumpfen Schmerzen im Bauchraum nahmen ab. Milde Wärme breitete sich vom Magen her in Norberts Körper aus. Kopfweh und Übelkeit verschwanden. Erleichtert atmete er auf. Er hatte befürchtet, die inneren Verletzungen wären wieder aufgebrochen, die er vor drei Tagen im Kampf mit dem untoten Wächterschädel während der Flucht aus dem Haus des Schwarzhexers erlitten hatte. Noch immer konnte er kaum begreifen, dass es ihm gelungen war, aus jener Hölle zu entkommen.

Er blickte in die rußverschmierten Gesichter rings umher.

„Was ist geschehen?“

„Das würden wir gerne von dir wissen, Junge,“ antwortete ein heiserer Alter.

Seine Jacke war voller Brandflecken, seine Augenbrauen und sein weißes Haar waren versengt.

„Wie hast du das gemacht, das dämonische Feuer zu bannen? Ich hätte es nicht gekonnt, mit all meinen Jahren. Keiner von uns hier hätte das gekonnt. Nicht einmal Helena.“

Er warf einer blassen Frau in schwarzer Ledermontur einen Blick zu. Sie nickte langsam. Schweigend schaute sie Norbert an. Ihre hellgrünen Augen schienen mehr zu sehen als den umgebenden Schankraum und die hier Anwesenden. Norbert setzte sich auf. Er wusste keine Antwort auf die Frage des Alten.

Die Banshee im Zentrum des blauen Feuersturms. Klauennägel lang wie Dolche krallten nach Norbert. Überall um ihn her Todesschreie. Der Himmel wurde schwarz. Vor einem blau glühenden Horizont umgaben ihn die Trümmer der vor sechshundert Jahren geschleiften Stadt. Geisterschreie Gefolterter und vergewaltigter Mädchen und Frauen. In den Ruinen röchelten Sterbende. Norberts Bannzauber versagten...

„Es war eine Todesfee,“ murmelte Norbert. „Eine von der ganz bösen Sorte.“

Nach und nach begann ihm klar zu werden, was geschehen sein musste. Tränen schossen ihm in die Augen.

„Ich bin zu spät gekommen!“

Er konnte es nur flüstern. Die Stimme versagte ihm.

Der Alte schüttelte unwirsch den Kopf: „Für ein paar tausend Altenweiler bist du gerade rechtzeitig gekommen, Junge. Du hast die Stadt gerettet.“

Norbert wusste, dass es nicht so war. Er brauchte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte.

„Es... es hätte überhaupt nicht passieren müssen. Dreyfuß hatte gesagt, die Zeit um die Frühlingsfeier wäre günstig für Anderweltfahrten. Er befahl mir, rechtzeitig zurück zu sein. Wenn ich da gewesen wäre...“

Mit entschiedener Stimme erwiderte Gordon: „Nein, Norbert! Glaube nicht, du könntest Schicksal spielen. Wir sind bloß Wanderer in dieser Welt. Ihren Fortgang zu bestimmen, ist niemandem von uns gegeben!“

Im Schweigen im Raum auf Norberts Worte klang die Stimme des Wirts seltsam laut. Jemand hielt Norbert einen Bierhumpen entgegen. Norbert trank gierig und musste laut aufstoßen. Gedankenverloren wischte er sich Bierschaum vom Kinn. Das Bier stieg ihm schnell in den Kopf. Vielleicht hatte Gordon recht. Aber sie konnten nicht wissen, was er wusste...

„Wenn jemand schuld ist an der Katastrophe,“ knurrte der Alte, „dann Anton Dreyfuß. Er hätte um die Folgen seiner wahnsinnigen Experimente wissen müssen. Aber wenn man seinem Verwalter glauben will, hatte er schon lange den Verstand verloren. In den letzten Tagen soll er völlig wahnsinnig geworden sein.“

Norbert blickte überrascht auf.

„Du hast mit Telluk gesprochen?“

„Er war hier,“ hauchte die Hellgrünäugige. „Er hatte sich hier für eine Nacht ein Zimmer gemietet, bevor er vorgestern abgereist ist. Er sagte, er wolle nach Karrakadar, zu seinem Volk. Die Kiepe voller Bücher, die er aus dem Turm mitgenommen hat – ich glaube nicht, dass Anton Dreyfuß ihm diese Bücher geschenkt oder verkauft hat. Telluk sagte voraus, dass es ein Unglück geben würde.“

Sie sah Norbert mit ihrem seltsamen Blick in die Augen.

„Du hättest niemanden gerettet, wenn du hier gewesen wärst. Du wärst gestorben – wärst hinabgerissen worden, wie dein Lehrmeister!“

Auch so schon wäre es um ein Haar über seine Kräfte gegangen.

Die Bannsprüche, die Dreyfuß ihm beigebracht hatte zur Vertreibung von Schwarzalben und Nachtmahren aus den Häusern von Altenweiler Bürgern und Handwerkern, konnten der Banshee nichts anhaben. Mit Mühe und Not konnte Norbert sich mit dem Schwert der Angriffe ihrer Klauen und ihres Rachens erwehren. Als das dunkle Blau der Anderwelt rings umher aufstieg, wusste er, dass sie ihn hinüber gezogen hatte...

Er konnte sich nicht erinnern, wie er darauf gekommen war, die Lebensmagie des Hexenmeisters anzuwenden.

...War da der Ruf eines Mädchens in seinem Rücken?

Der Ritualgesang des Lebens! Schnell, Bert! Ehe sie dich tötet!“

Nach den Wochen unerbittlicher Schulung in Darulans Haus, diesem Vorort der Hölle für jene, die dort gefangen waren, sprangen Norbert die Zauberformeln wie von selbst ins Bewusstsein.

Gemyne dhu mucwyrt, hwaet thu ameldodest...“

Das grausame Kreischen der Banshee, als sie vor seinen Augen zum morschen Skelett zusammenschrumpfte, zu Staub zerfiel. Als er die von Rauchschwaden erfüllte Luft des diesseitigen Abends schmeckte, konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Kniend stützte er sich auf sein Schwert, um nicht zusammenzubrechen und das Bewusstsein zu verlieren.

Die Stimme der Frau, die bei Norberts eintreten Harfe gespielt hatte, riss Norbert aus seinen Erinnerungen.

„Nimm etwas zu essen zu dir. Später kannst du uns immer noch berichten.“

Das schmale Gesicht der Bardin mit den weit auseinanderliegenden Augen irritierte Norbert. Einem Moment lang glaubte er, er müsse sie irgendwo schon einmal gesehen haben. Er stand auf und ging zum Tisch. Er spürte keine körperliche Schwäche mehr, aber er hatte furchtbaren Hunger. Er machte sich über Fleischsuppe, Brot, Käse und Bier her, die ihm zugeschoben wurden. Während er aß, beobachtete er die Bardin im Augenwinkel. Sie war groß und sehr schlank, beinahe schmal in der dünnen, rußverdreckten Lederjacke, die sie eng auf dem Leib trug. Das glatte blonde Haar hing ihr in schmutzigen Strähnen ums Gesicht. Schweigend und mit unbewegter Miene nahm sie Anteil an dem leisen Gespräch, das am Tisch geführt wurde. Und mit einem Mal wusste Norbert, an wen sie ihn erinnerte: Sie hatte dasselbe Gesicht wie die Geister in den Ruinen des Elbendorfs in der Flussaue nahe Wildenbruch, seiner Heimat im Gornwald - seiner ehemaligen Heimat, korrigierte er sich bitter. Inzwischen bestand auch Wildenbruch nur noch aus verfallenen Hütten. Ob jetzt auch dort die Geister der verhungerten Familien umherwandelten, auf der verzweifelten Suche nach einem verlorenen Leben? Grausen erfasste ihn und er zwang sich, an anderes zu denken.

Sarah kam herein, nahm sich einen Stuhl vom Nebentisch und setzte sich zwischen Norbert und einen rothaarigen Mann in den Vierzigern mit müden Gesichtszügen. Norbert hielt ihn für einen Wilderer, wegen des Waidmessers in seinem Gürtel. Norbert rückte ein wenig zur Seite, um Sarah Platz zu machen. Sie betrachtete ihn ernst und aufmerksam.

„Du bist lange fort gewesen.“

Norbert nickte. Er schluckte den Bissen herunter, den er im Mund hatte.

„Ja. Ich hab gedacht, ich könnte innerhalb einer Woche zurück sein. Die alte Elena, bei der Melanie und ich Sterntags das Zimmer gemietet haben, hatte mir von jemandem erzählt, der die Zauberformeln weiß, nach denen Dreyfuß suchte.“

Am Tisch wurde es still. Alle Augen richteten sich auf Norbert. Im schütteren Licht des Kienspans auf dem Tisch zeichneten sich die Gesichter der Zuhörer kaum vor der Dunkelheit im Raum ab. Von der anderen Seite des Tischs blickte Gordon Norbert mit dem klaren, festen Blick seines gesunden Auges an.

„Ich wusste ja nicht, was mich erwartet,“ flüsterte Norbert. „Ich war am Rand des Gebirges im Norden des Gornwalds. Ich glaube, es ist das Laendorgebirge.“

Jemand nickte.

„Drei Wochen lang war ich bei Darulan gefangen. Er hat mir den Ritualgesang beigebracht, mit dem ich die Banshee im blauen Feuersturm in die Anderwelt zurück bannen konnte. Aber er brachte sie mir nur deshalb bei, weil er mich abhängig machen und in seine blutige Magie initiieren wollte. Wie Linda und Ruth, die er bei sich gefangen hält – hielt,“ korrigierte er sich.

Bei der Erwähnung von Ruth bekam er einen Kloß im Hals. Ruth war tot. Erschlagen von seinem Schwert. Er bezwang die Schuldgefühle, die ihn überkamen.

 

Mit belegter Stimme erklärte er: „Erst vorgestern ist mir die Flucht gelungen.“

Es war nur die halbe Wahrheit. Er wollte Lonnie nicht erwähnen. Gordon und Sarah wussten ohnehin von ihr.

„Erzähl uns mehr darüber, Junge,“ forderte der weißhaarige Alte, aber Gordon winkte ab.

„Nein, du bist müde und abgekämpft, Norbert. Morgen Abend kannst du mehr berichten, wenn du willst. Aber heute ruhe dich aus. Selbstverständlich übernachtest du hier.“

Der einäugige Wirt blickte Norbert fest an.

„Quäle dich nicht wegen dem, was dir widerfahren ist. Du hast Großes geleistet.“

Gordons Worte waren Balsam für Norberts von Schuldgefühlen und Horrorträumen zermarterte Seele. Norbert fragte sich schon lange nicht mehr, wie der Wirt der Abenteurertaverne Zum schwarzen Raben es immer wieder zustande brachte, ihm mit wenigen Worten Mut zu machen, wenn er allen Mut verloren hatte. Er nickte und atmete durch.

„Ja. Danke für den Schlafplatz. Ich muss morgen vor Morgengrauen wieder los.“

Zweifelnd fragte Sarah: „Warum musst du wieder los? Wohin?“

Norbert blickte auf die Tischplatte.

„Heute ist doch Sterntag,“ druckste er. „Ich... ich war vorhin noch beim Haus der alten Elena. Ich dachte, vielleicht wartet Melanie auf mich in unserem Zimmer. Aber im Fenster war kein Licht. Morgen in der allerersten Dämmerung geh ich wieder hin, sobald die Dämonen um das Haus herum sich verzogen haben. Wenn Melanie das Licht vorhin schon gelöscht hatte, treffe ich sie noch, bevor sie zu ihrer Dienstherrschaft zurückgeht.“

„Halb Altenweil steht in Flammen und du denkst, deine Liebste hat nichts anderes im Kopf als euer Stelldichein?“ spottete Sarah.

„Aber der Feuerbrand war ja in der Unterstadt, nicht im Armenviertel, wo Elenas Haus steht,“ verteidigte sich Norbert.

Es fiel ihm gleich selber auf, dass es ziemlich dumm war, was er gesagt hatte. Sarah hätte gar nicht erst so höhnisch gucken brauchen.

Doch statt weiter zu spotten, wechselte sie das Thema: „Mark war ein paar Mal hier und hat nach dir gefragt.“

Bei der Erwähnung des jungen Kriegsknechts hellte sich Norberts trübe Stimmung auf.

„Wirklich, er war hier? Wie geht es... äh, ihm?“

Beinahe hätte er gefragt: Wie geht es euch beiden? Aber er wusste, dass Sarah es nicht dulden würde, wenn er die heimliche, unausgesprochene Sympathie der beiden füreinander ansprach. Doch wer weiß, vielleicht taten sie ja inzwischen gar nicht mehr so heimlich miteinander? Möglicherweise waren sie endlich ein Pärchen geworden. Er musste seinen besten Freund unbedingt fragen, wenn er ihn wiedersah.

Sarah antwortete wortkarg und ruppiger, als sie gemusst hätte: „Bisher hat er jedenfalls noch keinen Ärger beim Obristen bekommen, weil er hierherkommt.“

Die Bardin nahm ihr Harfenspiel wieder auf. Norbert blieb nicht mehr lange bei den Abenteurern sitzen. Gordon gab ihm einen Kerzenstumpen mit nach oben. Als Norbert die Stiege zum Obergeschoss hinaufstieg, perlten die Harfenklänge von unten aus dem Gastraum herauf ihm nach. Die dunkle, traurige Melodie wurde immer wieder durchbrochen von hellen Klängen, die Norbert an Sonne und mutige Wege denken ließen, als wollten die Klänge ihn erinnern, dass sein Weg weiterging, heraus aus Erschöpfung und Zerstörung, fernen, noch kaum greifbaren Zielen entgegen.

***

Mit dem brennenden Kerzenstumpen in der Hand ging er den Gang entlang zu dem Zimmer, das Gordon ihm zugeteilt hatte. Er war froh, dass es nicht dasselbe Zimmer war, in welchem er vor einem Jahr an seinem ersten Tag in Altenweil mit Sturmkind geschlafen hatte. Trotz allem, was sich seither ereignet hatte, hatte er das unbändige Mädchen nicht vergessen. Er würde sie nie vergessen.

Das Zimmer ging zum Hof hinaus. Den meisten Platz nahm das breite Bett gegenüber dem Wandkamin ein. In saubere Leinentücher eingeschlagene Decken waren über den mit Stroh gefüllten Bettkasten gebreitet. Der Kamin war kalt. Unter dem mit Pergament bespannten Fenster standen ein Tisch und ein Stuhl. Ein Kerzenhalter stand auf dem Tisch. Norbert setzte den Kerzenstumpen hinein. Dann blickte er in den Schrank neben der Tür. Er war leer bis auf ein paar Decken. Norbert hatte nichts, was er in den Schrank hätte legen können. Die wenigen Sachen, die er besessen hatte, waren in Dreyfuß‘ Turm dem Feuer zum Opfer gefallen. Er besaß nichts, als was er auf dem Leib trug, dazu ein paar Kupfermünzen und das magische Schwert, eine Leihgabe seines Lehrmeisters. Jetzt konnte er es wohl als sein Erbstück betrachten.

Er gürtete das Schwert ab, öffnete die Lederjacke, setzte sich aufs Bett und starrte ins schwache Kerzenlicht. Der Turm niedergebrannt, sein Lehrmeister tot, die Unterstadt vom Feuer verwüstet. Überall hatte er Verzweifelte, Sterbende und Tote gesehen. Er war nicht der einzige, der alles verloren hatte. Aber das machte es nicht weniger schlimm. Wie sollte es weitergehen? Mit der Lehrstelle bei Anton Dreyfuß hatte er auch das Lehrgeld, seine einzige Einkommensquelle verloren. Wovon sollte er leben? Wovon das Zimmer bezahlen, das er für Melanie und sich bei Elena gemietet hatte? Und selbst Gordon würde ihm nicht ewig Kost und Schlafplatz für umsonst anbieten.

Melanie – wie sehr er sich nach ihr sehnte. Der Gedanke an sie hatte ihn am Leben gehalten in Darulans Hölle.

Hoffentlich war sie bei Elena. Hoffentlich hatte sie morgen früh noch ein kleines Bisschen Zeit für ihn. Wenn er sie nicht bei Elena traf, würde er zum Haus des Ratsherrn Hohenwart gehen, wo sie Dienstmagd war.

Mach dir keine Sorgen um mich, Melanie, dachte er. Ich habe dir doch gesagt, dass ich zu dir zurückkommen werde. Mein Leben lang!

Er zog die Lederjacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und holte den Packen Schreibbögen unter dem Hemd hervor, den er Darulan gestohlen hatte. Den Halsanhänger von Sturmkind, den er unversehens mit hervorgezogen hatte, steckte er wieder unter sein Hemd. Er legte die zusammengefalteten, zerknitterten Seiten auf den Tisch. Er konnte nicht lesen, was Darulan darauf geschrieben hatte. Er hatte nie lesen gelernt. Die Blätter, von denen er hoffte, dass darauf die Worte des Zauberrituals der Lebensmagie standen, hatte er seinem Lehrmeister bringen wollen. Mit ihnen, davon war Norbert überzeugt, wäre Dreyfuß an dem Vorhaben, das Telluk wahnsinnig genannt hatte, nicht gescheitert. Der Turm stünde noch. Die Unterstadt wäre nicht in Flammen aufgegangen. Dreyfuß wäre noch am Leben. Und die Banshee, die sein Meister ins Leben zurückholen gewollt hatte... es war ein abstruses Experiment mit kaum vorhersehbarem Ausgang gewesen. Wäre Norbert eine Woche früher zurück gewesen...

Norbert selbst hatte den Zaubergesang auswendig gelernt. Und hatte er nicht selbst Ungeheuerliches damit vor? Aber er hatte einen Schwur getan. Er hatte Lonnie versprochen, ihr zu helfen.

Er zog Stiefel, Wolljacke und die ledernen Hosen aus, löschte das Licht und kroch im Hemd unter die Bettdecken. Nachtlicht sickerte durch das Pergamentfenster herein. Er blickte ins Dunkel am Bettende gegenüber dem Fenster. Halb erwartete er, dort ein leises Schluchzen zu hören, die verschwommene Gestalt des Geistermädchens zu sehen im dünnen Kleid, frierend und nass vom Brunnenwasser. Aber nur Nachtdunkel verhüllte die Zimmerecken. Sobald er die Augen schloss, klangen ihm Schreie in den Ohren.

Lindas Schreie im Haus des Hexenmeisters mischten sich mit dem Geistergeschrei Gefolterter und Sterbender um die brennende Turmruine. Überall sah er Blut. Der Blutschwall aus Lindas aufgeschlitzten Unterarmen, zischend im weißen Rauch des Kohlenfeuers. Sein eigenes Blut, das er erbrach nach dem Kampf mit dem untoten Wächter.

Er tastete nach dem Metallanhänger von Sturmkind. Habe immer den Mut, deinen Träumen zu folgen, war ihre Botschaft gewesen, die sie ihm mit dem Anhänger gesandt hatte. Er umschloss den Anhänger fest mit der Faust. Noch einmal öffnete er die Augen und blickte ins dunkle Zimmer. Lonnie erschien nicht. Er drehte sich zur Seite und wickelte sich fest in die Decken, als könnten sie ihn bewahren vor den blutigen Horrorträumen, die ihn jede Nacht verfolgten. Sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, war der Gedanke an Melanie. Ob sie jetzt schlief, dort in dem kleinen Zimmer bei Elena? Oder lag sie wach und dachte an ihn?

Durch Träume von Flammen und schwarzmagischen Räuschen, die ihn in dieser Nacht verfolgten, hallte wieder und wieder Wolfsgeheul, einsam und unermesslich fern.

***

Eine Stunde vor Morgengrauen wurde er wach. Er war es gewohnt, mit dem allerersten Halblicht des sich ankündigenden Tages aufzuwachen, wenn die Schwärze der Nacht in erstes Dämmergrau überging. Nur als kleiner Junge hatte er noch bis Tagesanbruch geschlafen, wenn die Frauen schon längst Feuer gemacht und mit der Tagesarbeit begonnen hatten.

Er zog Hosen und Stiefel an und raffte seine wollene Schlupfjacke, die Lederjacke und sein Schwert zusammen. Einen Moment überlegte er, ob den Packen Schreibbögen auf dem Tisch liegen lassen oder besser in den Schrank legen sollte. Aber dann entschied er sich, ihn mitzunehmen. Wenn Sarah die Bögen beim Ausfegen fand, wer weiß, was sie am Ende noch damit anstellte? Kurzentschlossen schob er den Packen unter sein Hemd.