Fulcher von Fabeln - TOD IN ELBING

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Viele behaupten, Kummer und Sorgen könne man nicht ertränken, da sie schwömmen. Da ich jedoch festgestellt hatte, dass es nur einer ausreichend großen Menge Weins bedurfte, um sie zumindest zu betäuben, war ich durchaus optimistisch, sie oder mich irgendwann tot gesoffen zu haben. Die Verzweiflung verlieh dieser Hoffnung Flügel. Letztendlich war Saufen das Einzige, was mich noch am Leben hielt. Sofern man mein Dasein noch als Leben bezeichnen konnte, denn das meiste davon bekam ich ohnehin nicht mehr mit. Wäre ich nicht ständig betrunken gewesen und hätte ich nicht mein Schwert mitsamt Rüstung bereits versoffen, wäre ich aus reiner Verzweiflung bestimmt irgendwann auf die glorreiche Idee gekommen, mich in meine rostige Waffe zu stürzen. Da ich aber wie alle anderen auch unbedingt in den Himmel wollte und mein Schwert schon lange versetzt war, fiel der Selbstmord wohl oder übel aus und ich versuchte stattdessen, meine Sinne beständig in einem Zustand der Betäubung zu lassen, der in der Tat näher am Tod als am Leben war.

Kapitel 3

Es hatten sich bereits alle zum Gottesdienst in der Kapelle versammelt. Wie üblich war ich einer der Letzten, was mir ziemlich recht war. Andere Menschen zu ertragen, brachte mittlerweile meinen Magen regelmäßig zum Rumoren. Leider nahm Gott darauf keine Rücksicht und schickte mir den Teufel in Menschengestalt, um mich noch zusätzlich zu quälen.

Ordensbruder Otto von Witzig war ein paar Jahre älter als ich, einen ganzen Kopf kleiner, um Längen dümmer, und versuchte ständig, seinem Namen gerecht zu werden und besonders witzig zu sein. Dabei kam er aber nie übers Versuchen hinaus. In ganz Elbing hatte sich dieser umtriebige Bruder mit seinem struppigen roten Haarschopf den Ruf des lokalen Hofnarren redlich verdient. Und wie alle Narren war er äußerst unbeliebt bei den Leuten, die er quälte. Jeder, wirklich absolut jeder, hasste diesen Kerl. Er war schlimmer als alle mongolischen Horden zusammen. Immer wenn Freiwillige für irgendein selbstmörderisches Unternehmen in diesem Krieg gesucht wurden, sorgte dieser Kerl dafür, dass die Ordensleute Schlange standen, nur um ihn nicht länger ertragen zu müssen. Da stand er auch schon mitten im Weg – wo auch sonst – und wedelte mit seinen Armen. Dabei grinste er mich dümmlich an.

„Fulcher!“, kam er mir feixend entgegen. Damit war es zu spät, um noch wegzulaufen. Er klopfte mir auf die rechte Schulter und greinte mit seiner schrillen Stimme direkt in mein Ohr.

„Ich hoffe deine Waffe ist mittlerweile wieder scharf geworden!“

Natürlich wusste er von meinem Problem. Jeder wusste es. So etwas musste einfach jeder wissen. Seit wir uns kannten, begrüßte Witzig mich jedes Mal mit diesem einen furchtbar geistreichen Satz. Und jedes Mal hatte ich dabei das unstillbare Verlangen, ihn zu Brei zu schlagen. Er meckerte sein Ziegenlachen und tanzte dann förmlich in den Versammlungsraum, in dem das Matutin stattfand. Ich seufzte tief und hatte endlich einmal eine ungefähre Vorstellung, wie sich Jesus gefühlt haben musste, als er sein Kreuz Golgatha hinaufschleppte.

Bevor ich mit dem Saufen begann, als mich noch die schwindenden Reste meiner Manneskraft zu Aggression und Wahnsinn getrieben hatten, hatte ich nie gezögert, solche Sprücheklopfer kurzerhand zusammenzuprügeln. Heute, wo ich nur noch ein abgefüllter Weinschlauch war, konnte ich jedoch mit so etwas besser umgehen. Denn körperlich war ich maximal noch in der Lage, Jacop hin und wieder eine zu verpassen, ohne gleich zusammenzubrechen.

Der Versammlungssaal unseres Konvents war brechend voll und verströmte den Duft Dutzender ungewaschener Kerle. Das wollte ich mir nun wirklich nicht auch noch antun und lehnte mich am Eingang an den Türrahmen. Bruder Otto stand direkt vor mir und fand, trotz der Gebete, in welche mittlerweile alle vertieft waren, Gelegenheit, mich anzugrinsen und eine obszöne Geste in Hüfthöhe zu vollführen. Nur mühsam unterdrückte ich das Verlangen, ihm den Schädel am Türrahmen einzuschlagen.

Ob es nun der Gestank, der Kater oder die Müdigkeit waren, jedenfalls überrollten mich Erinnerungsfetzen voller Schmerz und Agonie. Wie ein Ertrinkender musste ich nach Luft ringen. Kalter Schweiß brach mir aus und rann in Strömen meinen Rücken herab. Alles schwankte und drehte sich, ich stolperte davon und floh vor der Menge in die Ruhe des Kreuzganges. An den Wänden befestigte Pechfackeln erhellten die feindselige, tiefschwarze Finsternis mit Inseln sanften Lichts. Dahinter jedoch meinte ich, bedrohliche Schatten wahrzunehmen. Der Kreuzgang war eine Welt des Übergangs, in dem das Irdische auf das Überirdische traf. An einem solchen Ort konnte man Gott verlieren und den Teufel finden, denn die Finsternis löste die Grenzen aller Wahrnehmung auf. Gedanken und Gefühle verschwanden in der Dunkelheit, um kurz darauf als Dämonen wieder ans Licht zu treten. Benommen wankte ich noch bis zur nächsten Nische, ehe mich dort die Kräfte endgültig verließen. Aus den Schatten wähnte ich hasserfüllte Weiber mit Knüppeln nach mir schlagen und begann, wie ein kleines Kind zu heulen. Bis mir endgültig die Sinne schwanden und ich in einen tröstlichen Dämmerschlaf verfiel.

Es war doch immer wieder dasselbe. Kaum wurde ich ein wenig nüchtern, bedrängten und folterten mich meine Erinnerungen. Ich hätte schreien können. Manchmal tat ich das auch. Leider half es nie sonderlich weiter. Meine Welt war völlig aus den Fugen geraten, und meine fatale Lustlosigkeit brachte mich immer mehr an den Rand des Irreseins. Eine Erinnerung sitzt im Gedächtnis, Gefühle jedoch bewohnen den ganzen Körper und befallen ihn wie eine Krankheit. Meine Qualen verfolgten mich im Wachen wie in meinen Träumen. Die Erinnerungen folterten mich. Sobald ich die Augen schloss, kehrte ich im Geiste in das kleine Prußendorf zurück, und erlebte dort wieder und wieder, wie die wüste Weiberhorde mit Ruten und Knüppeln auf mein Gemächt einschlug. So viel ich auch in mich hineinschüttete, um diese Gefühle in die Tiefen meiner Seele zurückzuspülen, ich wurde sie nicht los. Sie drängten sich mit erbarmungsloser Wucht hervor und zerrissen stets aufs Neue mein Gemüt. So lebte ich in einem permanenten Albtraum, aus dem ich nicht mehr aufwachen konnte.

Mein Geist war vom vielen Nachdenken bereits verwest und ich litt Qualen, wie eine arme Seele in der Hölle. Schlaflosigkeit, Nervenflattern, Händezittern, Übelkeit und Schweißausbrüche taten ihr Übriges. Ich war ein jämmerliches Wrack. Mein Leben war im Arsch und dieses schwarze Loch war angefüllt mit dem bestialischen Gestank der Angst. Felsenfest nahm ich mir vor, auf schnellstem Weg endlich etwas zu saufen. Nur betrunken war es mir möglich, mich selbst und diese Welt wenigstens für einige Zeit zu ertragen. Zumindest bis ich sie vollkotzen musste.

Die Angst nagte an meinem Geist wie eine Horde Ratten an einem Kadaver. Ich wusste, alle Männer machten irgendwann dasselbe wie ich durch. Das Ersterben der Potenz war eine natürliche und gottgewollte Entwicklung. Das tröstete mich jedoch nicht im Geringsten. Außerdem betraf es alle anderen erst in weit fortgeschrittenem Alter. Mir hingegen wurde dieses Los in der Blüte meiner Jahre auferlegt.

Noch bevor ich überhaupt Gelegenheit hatte, den Höhepunkt der Manneskraft zu erreichen und zu genießen, war sie mir schon entschwunden. Womit ich eindeutig viel zu jung für dieses schlaffe Schicksal war. Wäre ich ein alter Sack gewesen, stockblind, völlig verblödet und halb verwest, ein Nichts, nur noch ein Echo des Lebens, dann hätte ich mich wohl diesem Schicksal beugen können. Denn ein tattriger Greis hatte zwar noch seinen Schwengel, aber längst dessen Gebrauch vergessen, und was man vergaß, vermisste man nicht. Viele lachten über mich und meine Unfähigkeit, meinen Mann zu stehen. Meistens Frauen. Manche Bekloppte beneideten mich sogar, da mir durch diese göttliche Fügung etwas ermöglicht wurde, wozu sie allesamt als die geilen Böcke, die sie waren, nicht fähig waren: ein vollkommen keusches Leben. Wen verwundert es da noch, dass ich schließlich anfing, genau solche Typen zu verdreschen. Ich war Ordensritter, verdammt, bis zum Halse hatte ich in Blut, Scheiße und Gedärmen gewühlt. Ein Kämpfer akzeptiert den Tod in der Schlacht oder den Verlust von Gliedmaßen, das gehörte zu seinem alltäglichen Broterwerb. Aber keiner rechnete damit, dass ihm im Krieg die Männlichkeit abhanden kommen könnte. So etwas gab es einfach nicht.

Meine Kameraden vögelten und verspritzten sich in den Tagen und Nächten der Welt, während ich meine Welt mit einem fetten Mönchlein teilen musste, das wie ein Ochse schnarchte und dem Widernatürlichen mehr als zugetan war. Allein die Vorstellung daran reichte aus, dass es mich vor Ekel schüttelte und ich aus meinem Halbschlaf aufwachte.

Großartig! Jetzt war mir wirklich richtig schlecht. Rasch betete ich ein Vaterunser. Danach verfluchte ich den miesen Schweinehund im Himmel. Genau wie seinen widerwärtigen kleinen Kumpel in der Hölle, um mich im Anschluss daran noch zweimal zu übergeben.

Die Glocke zur drei Uhr Laudes mitsamt Gebeten hatte ich offenbar verpennt, denn gerade wurde zum sechs Uhr Prim, dem eigentlichen Morgengebet gebimmelt. Benommen erhob ich mich und musste mich erst einmal orientieren. Niemand schien mein Fehlen während der Gottesdienste bemerkt zu haben oder, was wahrscheinlicher war, es war allen egal. Also stellte ich mich auf meine wackeligen Beine und reckte mich ausgiebig.

Sonnenaufgang. Endlich! Das war wenigstens eine halbwegs christliche Zeit, um aus der Bewusstlosigkeit des Schlafes in die Wirklichkeit der Welt zurückzukehren. Jetzt hatte ich bis neun Uhr Terz erst einmal meine Ruhe. Die drei Psalmen, die dabei geschmettert werden würden, konnte ich wohl gerade noch so ertragen. Vorausgesetzt, ich fand bis dahin etwas zu saufen. Taumelnd machte ich mich auf den Weg zurück in die Kapelle, um die üblichen Morgengebete hinter mich zu bringen. Danach war es Zeit an mein Tagewerk zu gehen. Falls man es so nennen wollte.

 

Kapitel 4

Das Skriptorium befand sich in einem überdeckten Raum zwischen Saal und Kapelle. Wie jeder Vorgesetzte konnte ich mich um Stunden verspäten, ohne dass man mich vermisste. Als ich die Stube betrat, schienen die beiden mir unterstellten Ordensbrüder fleißig bei der Arbeit zu sein. Offenbar hatten sie mich kommen hören und taten wie gewöhnlich überaus geschäftig. Ich grunzte mürrisch zur Begrüßung, ging an meinen Platz und ließ mich schwer auf die Holzbank fallen. Keiner der beiden sah von seinem Schriftstück auf oder nahm sonst Notiz von mir. Da ich das gewohnt war, störte es mich nicht. Vermutlich fragten sich die beiden Schmierfinken jeden Tag aufs Neue, wieso man ausgerechnet ihnen jemanden wie mich vor die Nase gesetzt hatte. Zwar reizte es mich durchaus zu erfahren, ob im Gegensatz zu mir einer von den zwei Eierköpfen eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte. Jedoch war ich niemals gelangweilt genug, um sie tatsächlich danach zu fragen.

Langsam ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen und gähnte ausgiebig. Geschriebenem hatte ich noch nie viel abgewinnen können. Und als ich von den schlimmen Folgen des Trinkens las, gab ich das Lesen vollends auf. Bei meiner Tätigkeit kam ich so auch ganz gut zurecht, denn sie war im Grunde einfach: Ich saß herum, machte einen wichtigen Gesichtsausdruck und kontrollierte die Arbeit meiner beiden Untergebenen.

Zu Beginn hatte ich wenigstens noch so getan, als läse ich mir das Vorgelegte auch wirklich durch. Zumindest so lange, bis ich bemerkte, dass davon die Stimmung der mir unterstellten Brüder spürbar sank. Schließlich verzichtete ich auf jegliche Art der Kontrolle und ließ sie einfach ihre Arbeit machen. Sie ignorierten mich, und ich nervte nicht – eine wortlose Übereinkunft, mit der wir alle hervorragend leben konnten.

Wie immer wurde ich nach einer Weile des schweigenden Herumsitzens unruhig. Getrieben von irrationaler Hoffnung und einem mörderischen Kater fing ich an, den Raum nach etwas Trinkbarem zu durchsuchen. Doch außer den leeren Bechern von gestern fand ich nichts vor. Natürlich missbilligten Albertus und Bernardus die von mir veranstaltete Unruhe und warfen mir verächtliche Blicke zu. Also gab ich die Suche auf und stapfte stattdessen ohne Ziel im Raum umher.

Albertus war ein schmächtiges, ergrautes, altes Männlein, das immer etwas Tinte im Gesicht hatte. Seine schwachen Augen zwangen ihn, ständig mit der Nasenspitze dicht über das Pergament zu fahren, was dazu führte, dass sein faltiges Antlitz stets mit Farbe verziert war. Auf seinem Schreibpult thronte für jedermann gut sichtbar ein Totenschädel als Memento Mori. Dies war als Staubfänger auf den Pulten vieler Skriptoren sehr beliebt. Es galt als Sinnbild für die Nichtigkeit irdischen Strebens und die Unausweichlichkeit des Todes. Die eigene Eitelkeit als phallisches Symbol darzustellen, war eine recht beliebte männliche Eigenschaft, denn jeder einfältige Idiot versuchte, seine Dummheit auf die eigene Art zu kompensieren. So prahlte der eine mit seinem Verstand, wie der andere es mit seinem Schwert tat. Klüger machte dies keinen und die meisten nur noch umso dümmer.

Albertus gegenüber saß sein Kumpan Bernardus. Er war ungefähr in meinem Alter, hatte blasse Lippen und ein teigiges Gesicht. Seine Finger waren gewöhnlich voller Tinte und hinterließen auf allem, was er anfasste, schmierige Farbkleckse. Lediglich die Pergamente und Bücher, mit denen er arbeitete, blieben erstaunlicherweise immer sauber. Interessanterweise wies seine Kutte genau im Schritt besonders viele Farbflecken auf. Offensichtlich spielte er während der Arbeit gerne an sich herum. Ich ignorierte diese skurrile Angewohnheit dem eisernen Prinzip folgend, mich weder in Gedanken noch in Taten mit den Schwänzen anderer Kerle zu befassen. Deshalb sah ich ihm auch nur durch Zufall über seine gebeugte Schulter und machte die überraschende Entdeckung, dass sich dieser kleine Schmutzfink doch tatsächlich mit äußerst anrüchigen Werken beschäftigte.

Erbost entriss ich ihm die Pergamentrolle, die seine Fantasie und seinen Schwengel so augenscheinlich beflügelte. Natürlich nur, um sie selber genauer zu studieren. Ich war erstaunt, welch skandalöse Schriften wir in unserem Armarium aufbewahrten und empört, dass man sie vor mir verborgen hatte.

Bernardus erschrak, und sein Gesicht wurde noch blasser als sonst. Es war ihm sichtlich peinlich, erwischt worden zu sein. Als Wüstling würde er noch üben müssen. Der alte Albertus warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Daraufhin schrumpfte Bernardus ein weiteres Stück in sich zusammen und sah aus, als wolle er sich gleich unter dem Pult verkriechen.

Das alles nahm ich nur am Rande wahr, denn voller Inbrunst betrachtete ich das Pergament. Die lateinischen Texte waren sehr gut und anschaulich illustriert. Mit Kennermiene nahm ich genüsslich sämtliche Abbildungen und eindeutigen Positionen in Augenschein. Als mir bewusst wurde, dass ich damit sowieso nichts würde anfangen können, ließ ich das Pergament wieder auf sein Pult fallen.

„Ich verstehe, wenn du bei dieser Lektüre die Lust verspürst, an deinem Schwengel zu spielen. Aber tue das in Zukunft, wenn ich nicht anwesend bin, oder benutze für solche Handlungen den Lokus! Ist das klar?“

Mein unerregbarer Zustand war schon schlimm genug zu ertragen, da wollte ich anderen nicht noch dabei zusehen, wie sie sich selbst beglückten.

Bernardus glotzte mich an und nickte dümmlich. Fast wäre ihm vor Erstaunen der Unterkiefer auf das Pult gefallen. Offenbar hatte er wie die meisten einfältigen Mönche gedacht, er sei der Einzige mit schmutzigen Bedürfnissen. Dem alten Albertus hingegen quollen beinahe die Augen aus dem Kopf. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich niemals gesehen, dass der Alte seine Fassung verlor. Offenbar wollte er mir dieses Vergnügen just heute zuteilwerden lassen.

Dieser Tag bot immer neue Überraschungen, und keine von ihnen entzückte mich. Albertus begann, über die Verwerflichkeit des Ganzen zu lamentieren. Davon bekam ich noch schlimmere Kopfschmerzen und sagte ihm unverblümt, er solle sich zum Teufel scheren. Aber anstatt sich dorthin zu trollen, besprang er nun erst recht sein moralisches Ross und ritt es feurig mit einem langatmigen und langweiligen Vortrag über die aktuelle christliche Morallehre. Ich schnaubte nur verächtlich, ging zurück auf meinen Platz und ließ meinen Kopf auf das harte Schreibpult fallen. Inzwischen hatte Albertus ein Pergament über Augustinus hervorgekramt. Mit vor Ehrfurcht zitternden Händen hielt er es hoch und begann daraus vorzulesen. Richtig ausführlich natürlich, wie auch sonst, dazu sehr, sehr langatmig, und monoton.

„Der große Augustinus, Bischof der Stadt Hippo und glorreicher Verfechter des Gottesstaates, sagte uns: ‘Weiber sind unrein und nicht zu mehr nütze als alleine für das fleischliche Tun. Gerade dieses abscheuliche, zutiefst verwerfliche Treiben verurteilte er jedoch aufs Schärfste …!’“

In dieser Art fuhr er vor sich hinleiernd fort. Er las sehr laut und sehr deutlich, und wenn ich mich recht entsinne, las er sogar jedes Eselsohr einzeln mit vor, als ob er sagen wolle: „Nun wissen wir es aber ganz genau.“

Für Leute wie Albertus war Wissen nicht Macht sondern Pracht! Als hässliches kleines Männlein brauchte er irgendetwas, womit er sich selbst schmücken konnte. Dieses Etwas musste er natürlich denen, die es nicht im Geringsten interessierte, unter die Nase reiben.

Ich schielte nach einem der vielen Gänsekiele, die überall herumlagen und überlegte, wie wohl die Chancen stünden, diesem Redefluss ein Ende zu setzen, indem ich ihm einen davon durchs Auge in sein Gehirn rammte.

Aus langer qualvoller Erfahrung wusste ich, dass geübte Schmierfinken wie Albertus jede Menge Phrasen kannten, die sie allzeit zum Dreschen bereithielten, wenn man ihnen nur Gelegenheit dazu bot. Die meisten Kopisten saugten das Geschriebene wie eine Art Gift in sich ein, wo es dann in ihrem Inneren wirkte und ganz langsam etwaige Reste eigenständigen Denkens, dessen sie eventuell einmal fähig gewesen waren, abtötete. Nicht aufzuhalten waren sie, wenn sie mit erhobenem Zeigefinger dumm in der Gegend herumstanden und irgendwelchen Unsinn verzapften, den sich irgendwann einmal weitere geistig umnachtete Gestalten aus den Fingern gesogen und aus Langeweile auf dem Lokus niedergekritzelt hatten.

Natürlich verfolgte Bernardus im Gegensatz zu mir die Ausführungen des alten Albertus mit einem andächtigen Glitzern in seinen braunen Augen. Er war schließlich auch ein Kopist. Die beiden lebten in ihrer ganz eigenen kleinen Welt, in der ich keinen Platz hatte. Deshalb tat ich das, was jeder tat, der keinen Platz in der Welt hatte: Ich nahm ihn mir und schlug mit der Faust auf das Pult.

„Es reicht mir jetzt! Euer glorreicher Augustinus hätte mal ein paar Weiber besteigen sollen, anstatt ständig solchen Mist zu verzapfen. Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass man bei einem Leben ohne auskömmlich wilde und regelmäßige Fleischeslust sehr schnell überspannt und leicht schwachsinnig wird.“

Während Bernardus sichtlich pikiert blinzelte, war Albertus aufs Höchste beleidigt. Solche Gedanken schienen ihnen wohl noch nie gekommen zu sein. Albertus plusterte sich auf, warf hochmütig seinen Kopf zurück und verkündete mit stolzgeschwellter Brust.

„Unsinn! Ich lebe schließlich auch in Keuschheit!“

„Eben!“, bemerkte ich trocken.

„Kein Wunder, dass Gott Euch gestraft hat. Ihr solltet beten, Askese üben und eure unkeuschen Gedanken verbannen“, giftete der Alte zurück.

„Ich weiß, ich weiß. Mein Zustand im Diesseits ist die Strafe für ein sündhaftes Dasein in Vergangenheit und Gegenwart.“

Theatralisch hob ich die Hände zur Decke:

„Herr, gib mir Keuschheit – aber nicht jetzt!“

„Ihr spottet des Herrn!“

Albertus lief knallrot an, und ich hoffte, er würde tot umfallen. Aber den Gefallen wollte er mir nicht tun. Stattdessen wischte er sich den Schaum vom Mund, riss sich zusammen und nickte gnädig.

„Ich vergebe Euch, Bruder!“

Diese gönnerhafte Äußerung machte mich nun wirklich wütend.

„Bruder, ich bin nicht dein verdammter Bruder!“

Meine Wut beeindruckte ihn weder, noch brachte sie ihn dazu, endlich den Mund zu halten.

„Origenes von Alexandrien entkam auf genau dieselbe Art und Weise der Versuchung wie Ihr!“

„Ach?“

Das war neu.

„Ja! Er kastrierte sich selbst!“

Jetzt schrie ich:

„Ich bin nicht kastriert, nur beschädigt; und mit Freiwilligkeit hatte das Ganze schon gar nichts zu tun, sondern mit einer Horde blutrünstiger prußischer Weiber!“

„Vielleicht war es ein unbewusster Akt, um Euer sündiges Leben zu beenden!“

„Wenn du weiterhin so einen Blödsinn von dir gibst, werde ich dich kastrieren. Und glaub mir: Daran wird garantiert nichts Unbewusstes sein!“

„Ihr müsst die Weiber verachten, um sie Euch aus dem Herzen zu reißen!“

„Dir sollte man etwas rausreißen! Ich bin nicht Ordensritter geworden, um als keuscher und entsagungsfroher Heiliger zu enden.“

„Aber warum denn dann?“

Das klang erfrischend ratlos. Man merkte deutlich, dass Albertus noch nie in seinem Leben die Schreibstube verlassen hatte.

„Aus dem gleichen Grund, aus dem alle zum Orden gehen. Um Kriegsbeute zu machen und um jede Menge willige und unwillige Weiber zu haben, ohne sich deswegen gleich Sorgen um das eigene Seelenheil machen zu müssen!“

„Du bist ein Wüstling über alle Maßen!“

„Wie alle Männer erfreue und berausche ich mich gerne an der Frau – ihrem Wesen, ihrer Weiblichkeit und ihrer Schönheit!“

Man konnte Albertus deutlich ansehen, wie sehr er von meiner Schwärmerei abgestoßen und angewidert war. Ich befürchtete schon, er würde sich vor Ekel übergeben. Glücklicherweise riss er sich jedoch zusammen.

„Das ist zutiefst verwerflich“, befand er. „Als wahrer Gläubiger berauscht man sich nur an Gott!“

Pure Abscheu sprach aus seinen Worten. Aber diese empfand ich in gleichem Maße ihm gegenüber.

„Das solltest du ihm besser nicht erzählen, wenn du ihn später einmal triffst, denn solche Gelüste könnte er dir übelnehmen.“

„Wüstling! Du wirst in der Hölle schmoren!“, brüllte er lauthals und stürmte aus dem Raum. Die Tür knallte hinter ihm zu und es herrschte betretene Stille.

Bernardus vermied es, mich anzusehen und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Seine hochgezogenen Schultern zeigten deutlich, was er von mir hielt. Ich ließ meinen Kopf zwischen die Hände sinken und massierte meine Schläfen. Das schlechte Gewissen bereitete mir weniger Schmerzen als die Schritt für Schritt einsetzende Nüchternheit.

 

Albertus tauchte nach dem Mittagsmahl wieder auf. Offenbar hatte er sich abgeregt und beschlossen, mich bis auf weiteres mit Missachtung zu strafen. Was nicht wirklich etwas Neues war.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit intensiven Betrachtungen der Wände. Die Arbeit im Skriptorium wurde bis nach der Vesper fortgesetzt, solange, bis es trotz Beleuchtung irgendwann zu dunkel wurde, um noch weitermachen zu können. Nachdem Albertus und Bernardus alles recht ordentlich aufgeräumt hatten und ich dies einige Male ausgiebig kontrollierte oder zumindest so tat, machten wir uns danach alle drei auf den Weg in Richtung Kapelle, um den Tag mit einem ordentlichen Hymnus zum 21 Uhr Komplett abzuschließen.

Ein paar Meter vor der Kapelle trafen wir auf die Ordensritter Karl und Paul von Gillingham. Die beiden leiblichen Brüder waren von englischem Adel und über Gottes verschlungene Pfade zum deutschen Ritterorden in Prußen gekommen. Jedermann konnte sofort die große Familienähnlichkeit erkennen. Sie waren blond, groß, schlank, unverschämt gutaussehend und galten alle beide als Getreue des neuen Landmeisters Hartmud von Grumbach. Dieser hatte sich vor ein paar Monaten mit Unterstützung der Gebrüder Gillingham und einiger anderer Anhänger seiner Person das Amt des Landmeisters von Prußen unter den Nagel gerissen. Mit diversen Intrigen hatten sie den vorherigen Landmeister Gerhard von Hirzberg sanft genötigt, sein Amt niederzulegen. Er war ihnen nämlich viel zu milde gewesen.

Jetzt herrschte also von Grumbach mit harter Hand über den Deutschen Orden in Prußen. Viele meiner Ordensbrüder ersehnten die Milde seines Vorgängers zurück, denn Grumbachs herrische Wesensart war unter uns Ordensbrüdern ebenso legendär wie unpopulär.

Durch den oligarchischen Charakter des Ordens wurde dessen Politik durch die führenden Fraktionen innerhalb der Ordensbrüder bestimmt. Die gewählten Landmeister gehörten normalerweise einer der stärksten Gruppen innerhalb des Ordens an. Diese ließen sich grob in drei Kategorien einteilen: In die offensichtlich Unfähigen. In die Kümmerlichen, Habgierigen und Brutalen. Und in die ausgemachten Esel. Die Aufgabe der Ordensbrüder bei einer Wahl war es, denjenigen auszuwählen, der am besten passte. Die Entscheidung war diesmal auf von Grumbach gefallen. Vermutlich weil er alle drei Kategorien im Übermaß verkörperte. Eine der ersten Amtshandlungen bei jedem Machtwechsel bestand üblicherweise darin, sich bei den Günstlingen, die den Aufstieg ermöglicht hatten, erkenntlich zu zeigen. Bei Karl, dem Älteren der beiden Gillinghams, hatte sich von Grumbach mit dem zwar wichtigen aber unbedeutenden Amt des Trappiers für dessen Unterstützung bedankt. Damit war dieser der wichtigste Ratgeber für die Launen des Landmeisters geworden, was das Bekleidungswesen betraf. Die deutliche Neigung Grumbachs zum Geiz äußerte sich nicht nur in der seit seinem Amtsantritt deutlichen Verschlechterung der allgemeinen Ordensverpflegung, sondern zeichnete sich inzwischen auch an der Kleidung aller Ordensleute ab. Das führte zu großer Empörung vor allem unter uns Ritterbrüdern. Gemäß unserem Rang gab es zwar allergrößtes Verständnis für jedwede Sparsamkeit. Aber nur solange diese die anderen betraf, denn das Gefühl vom Ritter zum Bettler erniedrigt zu werden, schätzte man als Ordensherr nicht sonderlich. Dementsprechend war die aktuelle Beliebtheit des Landmeisters und seiner Anhänger unter uns Ritterbrüdern auch äußerst gering. Das machte Karl von Gillingham als Grumbachs Arm im Orden zu einem vielbeschäftigten Mann, denn Unmut unter Rittern konnte sich durchaus auch einmal handgreiflich zeigen. Zu seinem Glück stand ihm jedoch sein Bruder Paul tatkräftig zur Seite. Brutalität galt als dessen überragendste Eigenschaft, ähnlich wie Freundlichkeit als eine der hervorstechenden Eigenheiten seines Bruders Karl angesehen wurde.

Dadurch, dass die Gillinghams in ihrem Wesen so grundverschieden waren, ergänzten sie sich gegenseitig hervorragend. War Karl die Sonne, so war sein Bruder der Schatten, der Karl in den Augen der Welt nur umso heller erstrahlen ließ. Als er mich sah, machte er ein ernstes Gesicht. Das war ungewöhnlich. Normalerweise lächelte er ständig. Als er mich zur Seite nahm, konnte ich mir schon denken, worum es ging. Ich warf Albertus einen giftigen Blick zu, den dieser geflissentlich ignorierte.

„Bruder Albertus hat sich über dich beschwert.“

Ich tat als könne ich kein Wässerchen trüben.

„Ach?“

„Ja! Er behauptet, du würdest unchristliche und ketzerische Reden schwingen!“

„Nein!?“

Niemand hätte erstaunter tun können als ich.

„Doch!“, meinte Karl.

Mich bei den Ordensoberen anschwärzen! Offenbar hatte ich die Gemeinheit des alten Schmierfinks gewaltig unterschätzt. Das würde ich ihm noch heimzahlen.

„Ist mir ein Rätsel, wie Albertus auf so etwas kommt!“

Karl war das ganz unangenehm.

„Du weißt Fulcher, dass ich so etwas untersuchen muss! Falls sich herausstellt, dass an den Vorwürfen etwas dran ist, kann dies ernste Konsequenzen nach sich ziehen!“

Diese Drohung war natürlich vollkommen lächerlich, und wir beide wussten es. Selbst wenn ich öffentlich auf dem Elbinger Marktplatz alle sieben Todsünden nacheinander begänge, gäbe es keine Konsequenzen. Der Deutsche Ritterorden war ein zusammengewürfelter Haufen wüster und fragwürdiger Gestalten. Was daran lag, dass keiner große Lust verspürte, irgendwo am Arsch der christlichen Welt in ständigen Kleinkriegen gegen heidnische Hungerleider sein Leben zu riskieren. Vor allem, da es an vielen anderen Orten weitaus lukrativere Kriege gab. Deshalb wurden die Rekrutierungsanforderungen des Ordens so tief gehängt, dass sogar die schlimmsten Kriminellen problemlos bei uns aufgenommen wurden.

„Du verschwendest nur deine Zeit, Karl! Albertus ist in einem gewissen Alter. Da verlassen einen schon hin und wieder die Sinne und man fängt an, sich Dinge einzubilden die es gar nicht gibt!“

„Seltsam! Auf mich machte er einen recht klaren Eindruck!“

„Das täuscht! Der arme wirre Kerl macht sich wohl Sorgen, dass ich ihn wegen seiner zunehmenden Senilität aus dem Skriptorium hinauswerfe! Du weißt, wie viel ihm diese Arbeit bedeutet!“

„Natürlich!“

Karl nickte verständnisvoll.

„Ich war wohl etwas zu streng mit ihm! Aber dass er deswegen gleich haltlose Anschuldigungen gegen mich ausstößt, schockiert mich doch!“

Voller Mitgefühl ob dieser menschlichen Schlechtigkeit legte Karl mir tröstend die Hand auf die Schulter.

„Versuch bitte in Zukunft, ihn weniger hart anzupacken. Er ist ein hilfloser, gebrechlicher, alter Mann.“

Hilfloser, gebrechlicher, alter Mann? Von wegen!

„Das werde ich!“

Diese Lüge ging mir glatt von der Zunge. Karl war zufriedengestellt, auch wenn er mir vermutlich kein Wort glaubte und schlenderte gelassen zu seinem Bruder Paul, der am Eingang der Kapelle auf ihn gewartet hatte. Ich folgte ihnen mit zusammengebissenen Zähnen zum Gebet und nahm mir vor, Albertus in Zukunft genau im Auge zu behalten, denn einer der mit zwanzig Worten sagt, was er auch mit zehn hätte sagen können, der war auch zu allen anderen weltlichen Schlechtigkeiten fähig. Was für ein Tag! Ich brauchte unbedingt dringend einen Vollrausch.

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