Der Fluch der drei Generationen

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Der Fluch der drei Generationen
Font:Smaller АаLarger Aa

Theresia Emmersberger

Der Fluch der drei Generationen

Impressum

©NIBE Media ©Theresia Emmersberger

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Created by NIBE Media

Für den Inhalt des Buches ist allein der Autor verantwortlich und muss nicht der Meinung des Verlags entsprechen.

NIBE Media

Broicher Straße 130

52146 Würselen

Telefon: +49 (0) 2405 4064447

E-Mail:info@nibe-media.de

www.nibe-media.de

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.

Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Kirchenuhr mit ihrem lauten Klang kündigte den frühen Morgen an. Gleich nach dem Glockenschlag war ein lauter Schrei eines Neugeborenen zu hören, der die Stille des Dorfes durchdrang. Das sechste Kind, ein Mädchen, erblickte das Licht der Welt. Die Hebamme legte den kleinen Blondschopf mit himmelblauen Augen in die Arme der noch sehr erschöpften Mutter. In ihrem Blick sah man das große Glück, war nun doch ihre Sehnsucht in Erfüllung gegangen, die Gebärende einer Tochter zu sein.

Solange die Hebamme im Zimmer noch anwesend war, sprach Leo, der Vater, der angelehnt an der Kommode stand, kein Wort. Aber als sie kurz den Raum verließ, richtete er sich auf, als wollte er seine ganze Größe zeigen und meinte: „Was soll ich mit einem Mädchen? Das hat mir gerade noch gefehlt!“ Seine Stimme klang hart, freudlos und verbittert.

Anne richtete sich auf, immer noch das Baby auf ihrer Brust und starrte Leo entsetzt an. „Was fällt dir ein, so über dein Kind zu sprechen? Hast du überhaupt ein Herz, oder bist du gar kein Mensch, sondern ein Monster, der nur Buben braucht, damit er Arbeitstiere heranziehen kann?“

„Halte deinen Mund, sonst vergesse ich mich! Was ich gesagt habe, das meine ich auch so.“

Eine tiefe Betroffenheit zeichnete sich jetzt in Annes Gesicht ab, mit den Tränen kämpfend zog sie das kleine Bündel noch mehr an ihr Herz, so als wollte sie es schützen vor jemandem, der dem Kind schaden könnte.

Sie wagte jetzt kein Wort mehr von sich zu geben, nur zu gut kannte sie Leo und seine Gewaltausbrüche. In diesem Augenblick kam die Hebamme zurück, sie überkam ein ungutes Gefühl, als sie Anne sah, die verängstigt ihr Baby im Arm hielt. „Soll ich noch bleiben?“, fragte sie zögerlich.

„Nein, danke!“, erwiderte der Mann im Hintergrund mit fester Stimme, „wir kommen zurecht!“

Die Hebamme warf noch einen Blick in den Raum, wandte sich dann noch einmal dem Vater zu: „Ich möchte dich, Leo, beglückwünschen zu so einem gesunden Baby, noch dazu ein Mädchen! Das ist ja die Krönung eurer Familie und ist sicher ein Juwel für eure Bubenschar!“

Ohne die Antwort abzuwarten, den Blick noch auf Anne gerichtet, sagte sie: „Morgen komme ich wieder, um nach euch beiden zu schauen, Anne!“

Verunsichert nahm sie ihre Tasche und verließ das Haus. Die Hebamme war sehr müde, als sie in das Auto stieg. Normalerweise freute sie sich nach so einer Nacht auf ihr Bett, aber heute nahmen die Gedanken sie gefangen und stahlen ihre Ruhe. Ständig fragte sie sich, was mit dem Vater des Neugeborenen los sei, denn sein Verhalten konnte sie sich nicht erklären. Sie kannte Leo schon lange Jahre und wusste, dass er ein harter und wortkarger Mann war. Aber so wie heute hatte die Hebamme ihn noch nie erlebt.

Es war sehr still im ganzen Haus, nur die Wanduhr tickte, die unwiderruflich mit lautem Klang den Tag ankündigte. Noch immer stand Leo wie gefesselt am Ende des Bettes und starrte vor sich hin. Dann trat er ein paar Schritte zurück, drehte sich zum Fenster, öffnete es und zog die Vorhänge zur Seite. Das Sonnenlicht erhellte den Raum und die würzige Luft durchströmte das Zimmer.

„Möchtest du sie nicht einmal sehen? Sie ist so…“ Doch bevor Anne den Satz zu Ende sprechen konnte, unterbrach ihr Mann sie mit den Worten: „Ich muss jetzt gehen, die Arbeit wartet!“ Ohne noch einen Blick auf sie zu werfen, verließ er hastig und mit großen Schritten das Schlafzimmer.

Das Baby schlief anmutig an der Brust der Mutter, die jetzt in Tränen ausbrach und ein lautes Schluchzen schüttelte ihren Körper und gab dem tiefen Schmerz seinen Raum. Ihr Glück war so betrübt und sie fühlte sich verlassen, so unendlich allein.

*

Schon in jungen Jahren hatte Anna hart arbeiten müssen. Ihre Eltern besaßen einen Hof, und sie war die Älteste von neun Kindern. Als die Jüngste noch sehr klein war, wurde ihre Mutter schwer krank und starb. Eine große Bürde wurde ihr nun auferlegt, jetzt musste sie die Mutter ersetzen. Die beträchtliche Verantwortung lastete auf ihren Schultern, die sie immer wieder an die Grenze ihrer Kraft führte. Oft war sie in Gedanken versunken, in ihrer Welt der Trauer, deren Wunden noch so schmerzten. Trotzdem besuchte sie weiter die Krankenpflegeschule und lernte bis in die Nacht hinein.

Die Großmutter war Anne sehr vertraut und es brach dieser fast das Herz, wenn sie ihre Enkelin in der Kammer weinen hörte. Immer wieder versuchte sie, Anne zu trösten, sie zu ermutigen, dass diese schwere Zeit auch vorbeigehen werde.

Ihr Vater wollte keine Gespräche über diese „Sache“, wie er sie nannte, denn davon werde keiner mehr lebendig. Seine Worte klangen oft wie eine Blechtrommel, auf die man ständig schlägt und Befehle weitergibt. Sie kannte ihren Vater nicht so, aber seit dem Tod ihrer Mutter hatte er sich verändert. Er wurde teilnahmslos und hart gegenüber seiner Familie. Wenn er abends am Tisch saß, den Kopf auf seine Hände gestützt und auf einen Fleck starrte, beobachtete ihn Anne manchmal. Ein tiefer Seufzer brach dann aus ihr heraus und der brennende Schmerz in ihrem Herzen löste ein Gefühl der Ohnmacht aus. Ihre Seele schrie: „Ach Vater, du bist mir fremd geworden, so unnahbar ist dein Herz und doch fühle ich deine Einsamkeit. Warum können wir unseren Schmerz nicht teilen? Ich brauche dich, und du willst meine Hilfeschreie nicht hören! Wir sind deine Familie, aber du vergräbst dich in deiner Arbeit und lässt uns allein in der Trauer und in unserer Angst!“ Diese Gedanken quälten Anne, Tag für Tag. Sie wagte es nicht noch einmal, mit ihrem Vater darüber zu reden, hatte dieses Thema doch erst vor ein paar Tagen einen fürchterlichen Streit ausgelöst.

Plötzlich hörte sie einen lauten Ruck des Stuhls, der sie aus ihrer Gefühlswelt riss. Ihr Vater stand neben dem Tisch, die Hand noch abgestützt auf dem Stuhl, seine ernste Miene versprach nichts Gutes. Er drehte sich zu Anne und sagte: „Morgen habe ich mit dir zu reden Tochter, es geht um eine wichtige Entscheidung, die ich getroffen habe.“

Ohne noch gute Nacht zu sagen, war er hinter der Türe verschwunden. Anne war verwundert, sie rätselte noch einige Zeit, welche Entscheidung das sein könnte, aber sie kam zu keinem Resultat. Sie verstaute das letzte Geschirr in der Küche und schlich auf Zehenspitzen in ihr Zimmer. Plötzlich hörte sie ein Wimmern in der Ecke des Flurs. Der Lichtschimmer, der durch die mondklare Nacht durchs Dachfenster fiel, zeigte eine kleine Gestalt.

„Hanna“, hauchte Anne und nahm sie liebevoll in die Arme. „Du solltest schon lange schlafen, meine Kleine, es ist schon so spät und morgen musst du wieder früh aufstehen.“

Anne legte sie in ihr Bett und wiegte sie sanft in den Schlaf. Hanna war die Jüngste, sie litt am meisten von ihren Geschwistern an dem Verlust ihrer Mama. Jeden Tag schlich sie sich in die Kammer von Anne, um ihren Schmerz zu beweinen.

Nach dem Tod der Mutter wurde durch energisches Einwirken des Vaters die Zukunft von Anne zerstört, alle ihre Pläne und Vorstellungen musste sie verwerfen, weil ihr Vater es so wollte.

„Meine Entscheidung ist gefallen, ich brauche dich jetzt hier am Hof, du musst die Schwesternschule verlassen! Ich dulde keine Widerrede und keine Diskussion!“

Anne konnte nicht glauben, was sie gerade zu hören bekam, ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Nein, Vater, das kannst du nicht von mir verlangen, damit zerstörst du meinen Traum und mit ihm meine Zukunft!“

In diesem Augenblick schlug Annes Vater mit der Faust auf den Tisch und schrie seine Tochter wütend an: „Ich sage nicht noch einmal, was du zu tun hast, denn mein Entschluss steht fest!“

Dann wandte er sich ab und stampfte zur Tür hinaus. Noch immer weinend ließ sich Anne auf den neben ihren stehenden Stuhl fallen und trocknete ihre Tränen mit der Schürze. Ihre Großmutter stand plötzlich hinter ihr, sie musste sich leise in das Zimmer geschlichen haben.

„Meine Liebe, ich habe alles gehört und es tut mir so leid, aber ich kenne deinen Vater, und du weißt so gut wie ich, dass ihn keiner umstimmen kann.“

Mit schwerem Herzen musste Anne hinnehmen, was ihr an diesem Tag gesagt worden war, denn sie lebte in einer Zeit, in der man als junger Mensch völlig mittellos war.

Trotz der Kinderschar fühlte Anne eine Einsamkeit, die kaum auszuhalten war. Sie hatte oft den Wunsch, mit jungen Leuten zusammen zu sein. Manchmal kam ihre Freundin Isa, sie erzählte ihr heiter und ausgelassen von den hübschen jungen Burschen, die sie auf den Tanzboden führten. Wie spannend es sei, mit ihnen zu plaudern und zu lachen, auch den romantischen Liebesgeschichten ihrer Freundinnen zu lauschen.

 

„Anne, du musst unbedingt einmal mitkommen, glaube mir, der Spaß vertreibt deine traurigen Gedanken.“ Isa gab ihr einen kleinen Stups und rief lachend: „Hörst du mir überhaupt zu, oder interessiert dich das alles nicht?“

Anne, die mit dem Rücken zu ihrer Freundin stand, drehte sich zu ihr, die Tränen sprangen förmlich aus ihren Augen und nichts hätte sie jetzt noch beruhigen können. Laut schluchzend warf sie sich in die Arme der jungen Frau.

„Mein Vater will nicht, dass ich weg gehe und mich vergnüge. Seiner Meinung nach hätte ich ohnehin im Haus mit der Versorgung meiner Geschwister zu tun, und dass für solchen Unsinn keine Zeit bliebe.“

Isa erschrak, hatte sie doch keine Ahnung, dass der Vater sie wie eine Gefangene hielt.

Sie hatte angenommen, Anne wollte mit dem Ausgehen und Tanzen noch länger warten, um ihre Trauer zu bewältigen.

Laut polternd sprang in diesem Augenblick die Türe auf. Annes Vater stand vor ihnen, warf einen flüchtigen Blick auf die Besucherin und ging, ohne sie zu grüßen, an ihr vorbei. Ruckartig löste Anne sich von Isas Umarmung und wandte sich augenblicklich ihrer Arbeit zu. Der große und kräftige Mann blieb mitten im Raum stehen, drehte sich um die eigene Achse, zeigte mit seiner Hand auf die Tür. Missmutig gab er zu verstehen, dass er keine Besucher duldete, schon gar nicht solche, die seine Tochter von ihrer Arbeit abhielten.

Isa verabschiedete sich von Anne und verließ fluchtartig das Haus. „Da gehe ich nicht mehr hin, dieser Mann ist zum Fürchten“, murmelte sie vor sich her, wobei ihre Schritte schneller und schneller wurden, um von diesem Ort wegzukommen.

Anne schämte sich für die unfreundliche Art ihres Vaters, sogar ihre Freundin warf er aus dem Haus, als wollte er sie völlig isolieren. Sie musste einen Weg finden, egal wie er aussehen würde, um sich mit Isa zu treffen.

*

Tief in ihren Gedanken versunken, an eine Zeit, die lange schon hinter ihr lag, schreckte sie auf, als das Baby in ihren Armen zu schreien anfing. Auch im Haus wurde es laut, die ganze Bubenschar kam in das Schlafzimmer gestürmt!

Sie schrien und lachten, sprangen auf die herumstehenden Stühle und ließen sich auch von den Ermahnungen der Mutter, leiser zu sein, in ihrem wilden Freudentanz über das Baby nicht abbringen.

Erst als der Vater an der Türe stand und laut fluchend mit seiner Faust auf den neben ihm stehenden Tisch schlug, konnte man außer dem noch immer schreienden Baby nichts mehr hören.

„Was fällt euch ein!“, schrie er. „Verschwindet sofort und geht der Arbeit nach!“ Wie ein geölter Blitz schossen sie am Vater vorbei, dann war es augenblicklich wieder still, auch das Baby hatte sich wieder beruhigt.

Nur der Älteste, Jakob, stand am Fenster, das noch immer offenstand und dessen Platz die Sonne erwärmte. Er war der Stillste von allen. Vor einigen Wochen war er vierzehn Jahre alt geworden. Das schwarze Haar fiel lockig in seine Stirn. Sein hoch gewachsener Körper war athletisch, dessen Haltung aber zu erkennen gab, dass er eine schwere Last trug. Der Ausdruck seiner Mimik, die Niedergeschlagenheit preisgab, ließen eine Schwermut erahnen. Jakob war dem gewalttätigen Vater ausgeliefert, physische wie auch psychische Verletzungen trug er von Kindesbeinen an davon. In seinem Herzen empfand er eine tiefe Abneigung gegen ihn, der sein Stiefvater war. Nur seine Mutter wusste davon, weil er sich immer wieder einmal sein Herz bei ihr ausschüttete und sie ihm zuhörte. Bei ihr fühlte er sich verstanden und geliebt, auch wenn sie ihn nicht beschützen konnte. Schon sehr früh mussten die kleinen Hände von Jakob harte Arbeit leisten. Seine Mutter litt unter der schweren Bürde ihres Sohnes, der Tag für Tag todmüde in sein Bett fiel. Immer wieder brach fürchterlicher Streit zwischen den Eltern aus, in dem es zur Gewalttätigkeit kam, wenn Anne nur versuchte, ihren Sohn zu schonen. Sehr oft musste Jakob mit ansehen, wie sein Vater auf die Mutter einschlug, und er hielt sich verzweifelt die Ohren zu, wenn er das laute Brüllen hörte: „Ich erziehe ihn und du kümmere dich ums Haus, mische dich nicht in meine Angelegenheit ein!“

Anne hatte oft Todesangst, wenn sie seine Fäuste am ganzen Körper spürte, zitternd und weinend am Boden lag, hilflos ausgeliefert. Deshalb wollte Jakob alles tun, um solche grausamen Szenarien zu vermeiden, wenn es um ihn ging.

An einem kalten frostigen Wintertag wollte Leo den Buben in den Wald mitnehmen, um Holz zu fällen. Es war eine gefährliche Arbeit und die eisige Kälte würde dem kleinen Kinderkörper schwer zusetzen. Jakob musste schon öfters seinen Vater in die Wälder begleiten, in denen er sich Erfrierungen an Händen und Gesicht zuzog. Dieses Mal wollte Anne ihren Mann umstimmen, bittend und flehend, aber ohne Erfolg. Wutentbrannt stampfte der Vater mit seinen Stiefeln auf den Boden, und riss seinen Sohn, der nahe vor der Mutter stand, an sich und gab Anne einen gewaltigen Stoß, der ihren Körper an die Wand warf. Der Junge schrie laut auf und wollte sich aus der kräftigen Hand des Vaters lösen, doch der drückte ihn nur noch fester und schrie ihn an: „Du Taugenichts, dich werde ich lehren, ein Mann zu werden. Verschwinde und mache dich fertig, wir werden jetzt sofort aufbrechen!“ Verängstigt und hilfesuchend richtete er seinen Blick zur Mutter, die aber ihren Kopf gesenkt hielt und die Verzweiflung von Jakob nicht sehen konnte.

„Jetzt verschwinde, oder soll ich dir Beine machen?“, wiederholte die zornige Stimme. Der Bub verließ das Zimmer, um sich warme Kleidung anzuziehen und wartete auf seinen Vater.

Noch immer lag Anne am Boden, ihre Nase blutete, der Kopf schmerzte. Sie richtete sich langsam auf und sah ihren Mann vor sich stehen, die beiden Hände waren noch immer zu Fäusten geballt. In seinem Gesicht sah sie eine Zornesader, die bedrohlich wirkte, noch mehr in Gewalt auszubrechen.

„Ich sage es dir nur noch einmal und es wäre gut für dich, sich daran zu halten! Die Erziehung des Buben übernehme ich, und nur ich entscheide über das, was er zu tun hat, verstanden!“ Verächtlich wandte er seinen Blick ab, polterte zur Türe hinaus und schlug sie hinter sich zu.

Anne lag am Boden, den Kopf mit beiden Händen verdeckt, laut schluchzend, ein Tränenmeer floss über die heißen Wangen. Bilder zogen in ihren Gedanken vorbei, in denen sie mitansehen musste, wie ihr Sohn geschlagen und gedemütigt wurde; wie sie hilflos zusehen musste, wenn Leo neben Jakob mit der Rute saß und ihn immer und immer wieder auf die kleinen Finger schlug, wenn er bei den Hausaufgaben einen Fehler machte. So oft wollte sie mit ihren Jungen weglaufen, doch sie wusste nicht wohin. Ihr Vater hätte sie auf keinen Fall unterstützt, war er es doch, der sie mit diesem Mann verheiratet hatte.

*

Da stand er, ein groß gewachsener Mann mit einem markanten Gesicht, schwarz gelocktem Haar, borstigen Augenbrauen und blauen Augen. Eine aufrechte Haltung gebend, die von Selbstsicherheit und einem nicht zu brechenden Willen zeugte. Den Blick auf Jakob werfend, grinste er höhnisch und spöttelte: „Brauchst du auch eine extra Einladung, oder soll ich nachhelfen!“

Mit gesenktem Kopf ging Jakob an seinem Vater vorbei.

Er verspürte aber keine Angst mehr, so wie früher, als er noch jünger war. So viel war geschehen, die sich wiederholende Gewalt und die ständige Demütigung brachten seine Kinderseele zum Erstarren.

Leo warf Anne einen kurzen Blick zu und sagte: „Ich werde dir die Dienstbotin schicken, sie wird dich versorgen, wenn du etwas brauchst!“

Eilig, wie getrieben, hastete er wieder davon, ohne ein liebes Wort oder eine Geste, die Anne jetzt so dringend brauchen würde.

Jeden Morgen verteilte der Vater die Arbeit an die Buben. Alle trugen Verantwortung über die Ausführung und deren Fertigstellung.

Auf dem Hof wurde jeder eingesetzt, auch wenn die Hände noch so klein waren. Am frühen Morgen vor Schulbeginn mussten die Rinder und die Pferde versorgt werden. Auch das Einstreuen von frischem Stroh in die gesäuberten Boxen und das Füttern der Kälber war ihre Aufgabe. Nach der Schule gab es keine Ausnahme, alle Kinder mussten auf die Felder. Hausaufgaben durften sie erst am Abend verrichten, wobei mancher Bub dabei einschlief. Unsanft wurde er dann vom Vater geweckt, angetrieben, fertig zu arbeiten und erst dann schlafen zu gehen.

Anne streichelte das Baby zärtlich an den Wangen, betrachtete es und flüsterte: „Du wirst Marlen heißen, nach meiner Großmutter. Sie hätte sich mit mir gefreut über dich, wenn sie noch bei uns wäre.“

Ein tiefer Seufzer verließ Annes Seele und ihre Gedanken führten sie zurück in eine Zeit, in der sie sehr glücklich gewesen war. Sie erinnerte sich, als sie ihren Vater fragte, in die Stadt fahren zu dürfen und er mit Unverständnis reagierte und wie schon so oft dieses Vorhaben als Zeitverschwendung erklärte. Diesmal überlistete sie ihn aber mit einer Ausrede. „Ich muss zur Schneiderin, die Mädchen brauchen neue Kleidung für die Schule!“ Damit konnte sie ihren Vater von der Dringlichkeit überzeugen.

Die leise Hoffnung von Anne war, dort Isa zu treffen und sie um Hilfe zu bitten, Möglichkeiten zu finden, ihrer Gefangenschaft zu entfliehen.

In einem Kaffeehaus saß ihre Freundin mit ein paar jungen Burschen. Sie lachten und scherzten voller Übermut.

Anne setzte sich an einen Tisch, der etwas abseits stand. Durch ihre Schüchternheit zögerte sie zuerst und spielte mit dem Gedanken, das Lokal schnellstens wieder zu verlassen. Wollte sie doch Isa allein sprechen und nun waren so viele junge Leute um sie herum, die Anne fremd waren. Unsicherheit, aber auch Neugier vermischte sich in ihrer Gefühlswelt: „Wie soll ich mich diesen Burschen gegenüber verhalten, was ist, wenn ich mich blamiere und ihrer gerade so fröhlichen, ausgelassener Stimmung nicht folgen kann?“

Diese und viele andere Gedanken ließen sie noch etwas mehr an die Wand rücken, die ihr Schutz gab, um nicht entdeckt zu werden. Anne genoss es langsam, diesem Lachen und der Ausgelassenheit zuhören. Wehmütig dachte sie aber zugleich an zu Hause, denn dort gab es keinen Platz mehr für das Lachen oder die Lebensfreude. Sie erinnerte sich an Vaters Ermahnung, sich nicht lange in der Stadt aufzuhalten.

Noch in diesem Gedanken versunken, spürte sie, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Erschrocken blickte sie auf und sah in wunderschöne, braune und lachende Augen. „Hallo Mädchen, möchtest du dich nicht zu uns setzen und uns Gesellschaft leisten? Wir würden uns alle sehr freuen!“

Anne war so verlegen, dass sie kein Wort über ihre Lippen brachte. Sie blickte ihn verdattert an, immer noch nach Worte suchend.

„Darf ich mich vorstellen, ich heiße Josef“, redete er weiter. In diesem Augenblick entdeckte Isa ihre Freundin und rief ihr zu: „Hallo Anne, welch eine Überraschung, setze dich zu uns!“ Sie winkte ihr zu und lachte. Anne war froh, aus der misslichen Lage herauszukommen, in der sie sich befand, denn noch immer fehlten ihr die Worte. Mit einem Ruck erhob sie sich, rückte ihren Stuhl zurecht, nahm ihre Tasche und ging mit schnellen Schritten auf Isa zu. Die Burschen sprangen auf, um die junge Frau zu begrüßen. Mit einer flüchtigen Umarmung, immer noch lachend, zog Isa Anne an den Tisch und stellte ihr die Freunde vor.

„Ach ja, da fehlt noch unser Josef, den du schon kennengelernt hast! Er ist einer, von dem man nicht sagen könnte, dass er schüchtern sei.“

Da kam er auch schon schlendernd mit einem lachenden Gesicht. „Was für ein schöner Mann“, dachte Anne. Dieser leichte, fast tänzelnde Gang, groß gewachsen und schwarze Locken fielen in seine hohe Stirn.

„Was ist denn mit mir los?“, fragte sie sich und merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

„Anne, hallo!“, rief Isa, „bist du anwesend, geht’s dir gut?“, und alle lachten wieder.

Sie saßen noch eine ganze Weile zusammen und erzählten sich lustige Geschichten. Anne warf einen Blick auf ihre Uhr und zuckte zusammen, die Zeit war so schnell vergangen, jetzt musste sie sofort nach Hause. Betroffen stand sie auf, wandte sich hektisch zu Isa. „Ich muss gehen, mein Vater wird wütend sein, dass ich so spät nach Hause komme!“ Sie nahm ihre Tasche, verabschiedete sich hastig und eilte davon.

 

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie vor der Haustüre stand. Sie hatte Angst, denn nur zu gut kannte sie die Wutausbrüche ihres Vaters. Unberechenbar und gefährlich war der Zorn, in dem er oft handgreiflich wurde.

Als Anne die Küche betrat und sich ängstlich umschaute, stellte sie fest, dass er nicht im Hause war. Von ihren Geschwistern erfuhr sie, er würde immer noch auf dem Feld arbeiten. Eine große Last fiel von ihrer Schulter, jetzt musste sie schnell sein, und die verlorene Zeit einholen, um den Eindruck zu hinterlassen, nur kurz weg gewesen zu sein.

Todmüde legte sich Anne, als alle anderen schon schliefen, in ihr Bett. Aber sie fand keinen Schlaf, sie dachte an die wunderbaren Stunden, die Geselligkeit, das Lachen, das sie immer noch zu hören schien. Noch nie vorher hatte sie so viel Lust am Leben verspürt.

Der Gedanke an Josef wühlte sie auf, seine Berührung der weichen und gepflegten Hände. Die Gänsehaut, die sich jetzt über ihren Körper zog, das Kribbeln im Bauch und das wunderschöne Gefühl der tanzenden Schmetterlinge in ihrem Herzen lösten in ihr einen Glückstaumel aus.

Die wunderschönen Augen, die sanfte und doch männliche Stimme, der athletische Körper, Anne konnte nicht aufhören, an ihn zu denken mit all ihren Sinnen.

„Ich muss ihn wiedersehen, will sein Leben kennenlernen!“ So redete sie laut vor sich hin. Sie war so aufgeregt und stellte sich vor, Josef gegenüberzustehen, ihm tief in die Augen zu sehen …, aber was ist, wenn er von mir gar nichts wissen will? „Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein!“

Die schlaflose Nacht machte sich bei Anne bemerkbar, denn die Hausarbeit wollte nicht so recht von ihren Händen gehen. Sie sollte schon mit dem Zubereiten des Mittagessens fertig sein. Doch immer wieder war sie mit den Gedanken bei dem Mann, der in ihr ein Chaos der Gefühle auslöste. Das Hören der stampfenden Schritte riss Anne in die Realität zurück. Mit einem Ruck stieß ihr Vater die Türe auf, setzte sich schweigend zu Tisch, mit der selbstverständlichen Annahme, dass das Essen schon bereitstand. Er hatte kaum ein Wort für Anne übrig, dadurch war die Stille im Raum erdrückend, nur durch das Hereinstürmen der Kinder und ihrem ausgelassenen Lachen wurde die Spannung im Raum erträglich gemacht.

Sobald die Familie mit dem Essen fertig war, teilte der Vater jedem der älteren Kinder eine Arbeit auf dem Feld zu.

Als alle wieder aus dem Haus waren, ergriff Anne den Mut, mit ihrem Vater, der noch am Tisch saß, zu reden. „Ich muss noch einmal in die Stadt und bei der Schneiderin die Kleider der Mädchen abzuholen.“ Er antwortete nicht und starrte vor sich hin. „Vater würdest du …“

„Ja, ich habe dich verstanden! Aber wenn du glaubst, dass du deine Zeit so unsinnig verbringen kannst und zu einer Gewohnheit wird, dann kannst du was erleben!“

Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch, erhob sich, ohne Anne eines Blickes zu würdigen, und verließ das Haus. Betroffenheit überkam die junge Frau, sie konnte das Verhalten ihres Vaters nicht verstehen, der ihr jede Freiheit nahm und von dem sie keine Hilfe erwarten konnte. Sie kam sich wie seine Sklavin vor, die keine Wertschätzung erhielt und nur dem Befehl ihres Vaters gehorchen musste. Die Verzweiflung trieb die Tränen aus ihren Augen, die ihr kleines Glück in den Hintergrund stellte.

*

Plötzlich hörte sie Schritte vor ihrer Schlafzimmertüre und ein Geräusch, das aus der Küche kam. Sie wurde augenblicklich aus den Gedanken der Vergangenheit gerissen. Die Magd klopfte an die Türe, und ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie in das Zimmer. Sie war ohnehin sehr wortkarg und verrichtete die Arbeit im Haus. Aber heute war sie neugierig und wollte das Baby sehen. Dass es ein Mädchen war, wusste sie schon, Jakob hatte es ihr erzählt.

„Komm her und schau sie dir an, ist sie nicht wunderschön?“ strahlte Anne.

„Ja, das ist sie wirklich, welch ein Glück!“

Die Magd war sehr angetan von dem kleinen Menschen, der vor einigen Stunden das Licht der Welt erblickt hatte. Sie trat einen Schritt zurück, blickte auf Anne und fragte sie, ob sie ihr von der frisch gekochten Hühnersuppe bringen dürfe.

„Ja, das wäre jetzt gut, sie würde mir sicher Kraft geben!“, meinte Anne. Vorsichtig legte sie das Baby, das in ihren Armen immer noch schlief, neben sich. Dann richtete sich Anne langsam auf, ließ ihre Füße am Bettrand herabhängen und merkte jetzt erst die Schwäche ihres Körpers.

Ein starker Schwindel versuchte sie wieder auf das Bett zurückwerfen. Da kam auch schon die Magd mit der Suppe, stellte sie auf den Nachttisch und legte die Kopfkissen so, dass sie zur Stütze von Annes Körper wurden. Mit einem Lächeln im Gesicht, das man kaum einmal bei der Magd sah, wünschte sie einen guten Appetit, drehte sich um und verließ das Zimmer. Nach einigen Minuten saß Anne fest am Bettrand und ließ sich die Suppe schmecken.

Im Haus wohnte noch die Stiefmutter ihres Mannes. Eine verbitterte harte, Frau, die als Tyrannin bekannt war. Ihre Herrschsucht und die Hartherzigkeit fürchtete die ganze Familie. Leo und Anne mussten als Knecht und Magd jahrelang schuften, um irgendwann Hoferben zu werden. Sie mischte sich überall ein und ihre böse Zunge war scharf wie ein zweischneidiges Schwert.

Die Stiefmutter beschimpfte Anne als Hure und Schlampe. Sie wäre nur gut, Balgen auf die Welt zu bringen und zu faul zum Arbeiten, warf ihr böse Blicke zu und trieb ständig mit Verleumdungen gegenüber Anne einen Keil zwischen das junge Paar.

Dass es noch einen Nachkömmling auf den Hof gab, interessierte sie nicht und tat dieses Ereignis mit den Worten: „Noch ein Brotfresser mehr!“ ab.

Unermessliches Leid musste Anne vom ersten Tag an nach der Heirat mit Leo erleiden.

Allzu oft hörte Leo seine Stiefmutter laut mit den Kindern schreien und fluchen: „Ein verdammtes Pack seid ihr, verschwindet aus meinen Augen, so Nichtsnutze und faules Gesindel haben hier am Hof nichts zu suchen! Ich kann euer Geschrei nicht ertragen!“

*

Leo war erst zwei Jahre alt, als für ihn eine Welt zusammenbrach, eine Welt, in der er erst kurze Zeit lebte. Eine Welt, in der er von einer unendlichen Liebe seiner Eltern umgeben und geborgen war.

An einem herrlichen Sommertag war Leo mit seinen Eltern auf dem Feld, um die Heuernte einbringen. Eine Person, die von Nachbarn beobachtet wurde, schlich zu der Zeit ständig um das Haus von Leos Eltern. Er war jener Mann, wie sich später herausstellte, der Maria, Leos Mutter, zur Frau wollte. Unsterblich war er in sie verliebt und konnte es nie verkraften, dass Maria ihren Josef geheiratet hatte. Immer wieder stellte er der jungen Frau nach, um ihr neuerlich seine Liebe zu bekunden, bis Maria ihm endgültig erklärte, er sollte endlich Ruhe geben und sich nicht mehr blicken lassen. Die verschmähte Liebe brodelte und kochte in ihm, so dass er nur noch an Rache dachte. Diese Gedanken wurden so mächtig und nahmen ihn gefangen. Ein teuflischer Plan trieb in Tag und Nacht in die Unruhe. Er wollte das Glück von Maria zerstören, denn sie sollte auch nicht glücklich sein und alles verlieren, was ihr lieb war. Dann blieb er vor der Scheune stehen, das getrocknete Heu war gut für sein Vorhaben. Mit einem Grinsen zündete er das Heu an, das sofort zu brennen begann. Sekundenschnell entwickelten sich riesigen Flammen.

„Ja“, schrie er laut und lachte: „Verflucht seist du mit deiner Familie und deinen folgenden Generationen!“ Dann suchte er das Weite, drehte sich auf der Flucht noch einmal um, um sein Werk zu bewundern.

Maria nahm gerade den kleinen Leo auf den Arm, als sie plötzlich aufschrie: „Seht, unser Haus brennt, unser Haus brennt“!

Sie sprang vom Heuwagen und rannte zum Hof, riss die Eingangstüre auf. Rauchwolken schlugen ihr entgegen, durch die sie rannte. Sie stolperte die Stiege hinauf, bis sie im Schlafzimmer war und ihr Erspartes holte, das in der Truhe versteckt war. Aber als sie die Treppe erreichte, schlugen ihr gewaltige Flammen entgegen. Maria hörte noch das Schreien ihres kleinen Sohnes: „Mama, Mama!“

You have finished the free preview. Would you like to read more?