Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

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Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht
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Sylvie Méron-Minuth

Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

Eine qualitativ-empirische Studie zu Einstellungen von Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0122-6

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Inhalt

  Pour Christian, mon mari ...

  Vorwort

 1. Einleitung1.1 Meine Beweggründe, dieses Projekt durchzuführen1.2 Fremdsprachenlehrkräfte und die multilinguale Herausforderung1.3 Lehrerrolle und Pädagogisches Handeln1.4 Aufbau der Arbeit

 2. Historischer Exkurs und theoretische Grundlagen zum Konzept der Mehrsprachigkeit2.1 Europäische Sprachen- und Bildungspolitik und Mehrsprachigkeit2.2 Zweisprachigkeit – Mehrsprachigkeit: Annäherung an eine Begrifflichkeit2.2.1 Zweisprachigkeit2.2.2 Mehrsprachigkeit2.3 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit2.4 Individuelle Mehrsprachigkeit2.4.1 Lebensweltliche Mehrsprachigkeit2.4.2 Schulische Mehrsprachigkeit2.5 Aspekte meines eigenen Verständnisses von Mehrsprachigkeit2.6 Mehrsprachigkeitsdidaktik2.6.1 Begriffsklärung2.6.2 Integrierte Sprachdidaktik2.6.3 Interkomprehensionsforschung2.6.4 Der EuroComRom-Ansatz und seine Umsetzung2.6.5 Schulfremdsprachen als Brückensprachen und ihr Potenzial2.6.6 Lebensweltliche Sprachen als Brückensprachen und ihr Potenzial für das Erlernen einer Schulfremdsprache

 3. Zur Erforschung der Binnensicht von Fremdsprachenlehrkräften3.1 Terminologische Vielfalt: Subjektive Theorien – Einstellungen3.2 Zum Forschungsprozess über Einstellungen von Lehrpersonen3.3 Einstellungen und Unterrichtshandeln

 4. Forschungsmethodischer Ansatz und Erhebungsdesign4.1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen – Rahmenbedingungen, Forschungsverfahren und Fragestellungen4.2 Exkurs: Veränderungen der gesellschaftlichen Situation in Deutschland seit der Datenerhebung im Jahr 20124.3 Datenerhebung – qualitative Interviews als Forschungsmethode4.3.1 Leitfaden-(halbstrukturiertes) Interview4.3.2 Das problemzentrierte Interview4.3.3 Explorativ-problemzentriertes Experteninterview4.4 Diskussion zur Auswertung von verbalen Daten aus mündlichen Befragungen4.5 Durchführung der Erhebung4.6 Transkription4.7 Auswertungsverfahren – qualitative Inhaltsanalyse4.8 Transparenz und Nachvollziehbarkeit

 5. Die Vorstudie5.1 Vorüberlegungen5.2 Genese der Vorstudie5.3 Die Untersuchungsgruppe5.4 Analyse und Ergebnisse der Untersuchungsergebnisse5.4.1 Kategorisierungen der Antworten – Hauptkategorien5.4.2 Nebenkategorien5.5 Fazit und Bedeutung für die Hauptuntersuchung

 6. Die Hauptstudie – Einzelfalldarstellungen6.1 Exemplarische Darstellung einer Interviewpartnerin – Charlotte Heilmann6.1.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.1.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.1.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.1.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.2 Clara Mühlbauer6.2.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.2.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.2.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.2.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.3 Anne Rieder6.3.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.3.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.3.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.3.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.4 Natalia Peréz Sanchez6.4.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.4.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.4.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.4.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.5 Sophie Kallmayer6.5.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.5.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.5.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.5.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.6 Werner Scholl6.6.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.6.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit seiner Schüler / Unterrichtspraxis6.6.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.6.4 Zusammenfassung seiner Einstellungen6.7 Isabel Mayr6.7.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.7.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.7.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.7.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.8 Grit Kaufmann6.8.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.8.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.8.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.8.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.9 Adriana Pini6.9.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.9.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.9.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.9.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.10 Noemie Hartmann6.10.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.10.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.10.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.10.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.11 Constanze Schrader6.11.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.11.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.11.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.11.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.12 Katrin Drewes6.12.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.12.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler/ Unterrichtspraxis6.12.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.12.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen

 7. Gesamtauswertung der Ergebnisse der Lehrerinterviews7.1 Beruflicher Werdegang und berufliches Selbstbild der gymnasialen Fremdsprachenlehrkräfte7.1.1 Beruflicher Werdegang7.1.2 Berufliches Selbstbild und Einstellungen zum Lehrerberuf7.2 Kenntnisse der Sprachbiografien und der lebensweltlich-kulturellen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler7.3 Einstellungen zu den schulischen Fremdsprachenkompetenzen der Schülerinnen und Schüler7.4 Einstellungen zu Herkunftssprachen und -kulturen der mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler7.5 Änderungsvorschläge für die Unterrichtspraxis mit Fokus auf Mehrsprachigkeit7.5.1 Lehrerpersönlichkeit7.5.2 Institutionelle Bedingungen: G8 als Hindernis7.5.3 Fortbildungsmaßnahmen7.6 Änderungsvorschläge zur Lehrerausbildung7.6.1 Defizite im Studium und in der Lehrerausbildung7.6.2 Anregungen7.7 Das interindividuelle Gemeinsame – abschließende Thesen und Ergebnisse

 

 8. Ausblick und Forschungsperspektiven8.1 Kritik der europäischen Mehrsprachigkeitsdoktrin8.1.1 Aus der Forschung8.1.2 Aus Lehrerperspektive8.2 Forschung zum Unterrichtshandeln der Lehrkräfte: ein (wohlwollend-)kritischer Blick8.3 Forschungsdesiderata8.3.1 Bezogen auf Lehrerfort- und -weiterbildung8.3.2 Bezogen auf Unterrichtsbeobachtung / Fremdsprachenlehrpraxis8.3.3 Bezogen auf die aktuelle Migrationsentwicklung

  9. Literaturverzeichnis

Pour Christian, mon mari et pour David, mon fils

Vorwort

Die vorliegende Habilitationsschrift wurde im Dezember 2017 in der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg eingereicht und angenommen.

Mein ganz besonderer und herzlicher Dank gilt meiner Erstbetreuerin, der Lehrstuhlinhaberin Frau Prof. Dr. Christiane Fäcke, unter deren Leitung ich viele Jahre in Augsburg als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet habe, für ihre stete Unterstützung, ihre wertvolle Beratung und engagierte Betreuung sowie ihre fachlich anspruchsvollen und konstruktiven Denkanstöße zu dieser Arbeit. Diese Betreuung erstreckte sich über die vielen Jahre meiner Tätigkeit als Mitarbeiterin und auch weit darüber hinaus.

Ein herzliches Dankeschön gebührt ebenfalls meinem zweiten Betreuer, Herrn Prof. Dr. Engelbert Thaler, der den Fortgang meiner Arbeit mit Interesse verfolgt hat und mir bereichernde Rückmeldungen – insbesondere in den Jahren 2013 und 2014 – mit auf den Weg geben konnte.

Weiterhin danke ich Frau Prof. Dr. Hélène Martinez sehr herzlich dafür, dass sie mir für die externe Betreuung meiner Habilitationsschrift unverzüglich zusagte und mir bei der Fertigstellung dieser Arbeit immer erneut Mut zuflüsterte.

Meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen der Universität Augsburg und vor allem den Mitgliedern des Forschungskolloquiums in den Jahren 2013 und 2014 danke ich für bereichernde Gespräche und die vielen wertvollen Hinweise und Anregungen, die ich im Anschluss an meine Präsentationen erfahren durfte.

Allen voran gilt meiner Kollegin und Freundin Frau Dr. Senem Şahin mein lieber Dank für ihre permanente Unterstützung, für die intensiven und konstruktiven Gespräche und unseren kontinuierlichen Austausch u.a. über die Validierung der qualitativen Daten in den letzten Jahren. Ihre aufmunternden Worte waren mir eine wertvolle Hilfe und haben mich immer wieder in Phasen des Zweifels bestärkt und ermutigt, weiterzumachen.

Meinen ehemaligen Augsburger Studierenden aus dem Wintersemester 2010/11 danke ich recht herzlich für ihre Mitarbeit, den regen und produktiven Austausch während der Seminare und ihre Kooperationsbereitschaft bei der Durchführung der Vorstudie. Diese Diskussionen haben mir wichtige Impulse für die Konzeption meiner Studie geliefert. Ebenfalls bin ich meinen wissenschaftlichen Hilfskräften, Frau Kathrin Pöhlmann und Frau Beate Valadez Vazquez aus den Jahren 2011–2012 für ihre Mithilfe bei der aufwändigen Transkriptionsarbeit zu großem Dank verpflichtet.

Allen befragten Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern aus Bayern, Baden-Württemberg und Hessen – auch denjenigen, die aus forschungsimmanenten Gründen nicht in meine Studie aufgenommen wurden – danke ich ebenfalls sehr herzlich für die Zeit, die sie mir für ein Interview gewährt haben und für die Einblicke in ihre alltägliche Unterrichtspraxis, die ich in erzählerischer Form erfahren durfte und die mich oft an meine eigene, frühere Praxis als Lehrerin zurückdenken ließen.

Für sorgfältiges Korrekturlesen danke ich meiner derzeitigen studentischen Hilfskraft an der Universität Bonn, Frau Bareen Wahed.

Weiterhin danke ich allen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere meiner früheren Mitarbeiterin Frau Aurélie Pérez von der Universität Regensburg für ihre engagierte Mitarbeit bei der Analyse, Ergänzung und Validierung größerer Teile der empirischen Daten, sowie meinen Freundinnen und Freunden von fern und nah, die mir im Laufe meines Forschungsprozesses interessierte Nachfragen stellten, mit mir animierende Gespräche über meine Forschungsarbeit führten und mich auf unterschiedliche Weise immer wieder motivierten.

Pour terminer, je souhaiterais remercier ma petite famille du fond du cœur – en particulier mon mari Christian et mon fils David – pour le soutien constant et l’amour intarissable qu’ils me témoignent depuis toujours. Sans eux, sans leur aide, ce projet n’aurait sans doute pas abouti. Je vous dis merci.

C’est à eux deux que je dédie ce travail.

Hirschhorn am Neckar, im August 2018 Sylvie Méron-Minuth

Er suchte zu allen Menschen in ‚ihrer’ Sprache zu sprechen, und da er diese nur nebenher auf seinen Reisen gelernt hatte, waren seine Kenntnisse, mit Ausnahme der Sprachen des Balkans, zu denen auch sein Spanisch gehörte, höchst mangelhaft. Er zählte gerne an den Fingern auf, wieviel Sprachen er spreche, und die drollige Sicherheit, mit der er es bei dieser Aufzählung – Gott weiß wie – manchmal auf 17, manchmal auf 19 Sprachen brachte, war trotz seiner komischen Aussprache für die meisten Menschen unwiderstehlich. Ich schämte mich dieser Szenen, wenn sie sich vor mir abspielten, denn was er da von sich gab, war so fehlerhaft, dass er selbst in meiner Volksschule beim Herrn Lehrer Tegel damit durchgefallen wäre, wie erst bei uns zu Hause, wo die Mutter uns mit erbarmungslosem Hohn den kleinsten Fehler verwies. Dafür beschränkten wir uns zu Hause auf bloß vier Sprachen, und wenn ich die Mutter fragte, ob es möglich sei, 17 Sprachen zu sprechen, sagte sie, ohne den Großvater zu nennen: »Nein! Dann kann man keine!« (Elias Canetti 1977: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, S. 103)

1. Einleitung
1.1 Meine Beweggründe, dieses Projekt durchzuführen

Die Ideen für die vorliegende Studie entstanden schon lange bevor ich als Lehrerin für Französisch an baden-württembergischen, sächsischen und brandenburgischen Schulen unterrichtete, oder an verschiedenen Universitäten lehren konnte. Der Themenkomplex Mehrsprachigkeit ist mir als Französin, die seit mehr als 25 Jahren in Deutschland lebt, immer bewusst gewesen. Mein eigener Migrationshintergrund unterscheidet sich in vielen Punkten von dem der meisten Migranten und Flüchtlinge, weil ich aus freien Stücken und voller Begeisterung nach Deutschland kam, um als Auslandsgermanistin meine Sprachkenntnisse zu perfektionieren und in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Meine Motive sind nicht aus körperlicher und materieller Not geboren, niemand hat mich verfolgt oder bedroht, niemand hat mir in Deutschland unangenehme Fragen gestellt oder Hindernisse aufgebaut. Die junge Französin, die ich war, wurde als assistante de langue in Esslingen am Neckar herzlich in die Schulgemeinde aufgenommen, mein Ansehen bei den Schülerinnen und Schülern war groß, wie im Jahr darauf auch bei den Thomasschülern in Leipzig. Mein Aufenthalt in Deutschland ist dauerhaft gesichert, ich genieße (natürlich) völlige Reisefreiheit und verfüge über alle Rechte einer Bürgerin der Europäischen Union.

Die Realität der meisten Migranten in Deutschland ist dagegen vielfach eine ganz Andere. Aufgrund verschieden motivierter Migrationsbewegungen wie Arbeitsmigration, politische Verfolgung und Terror, Folter, (Bürger-)Kriege und Flucht ist die aktuelle Zuwanderungsbewegung durch Furcht und Existenzangst geprägt und von einer allgemeinen Ablehnung durch populistische, diskriminierende Parolen verunsichert. Die Migrantensprachen werden nicht wertgeschätzt, sondern als lästig und hinderlich für eine mögliche Integration angesehen.

Meine eigene Mehrsprachigkeit hingegen war ein Vorteil für meine rasche Integration in Deutschland, und als Fremdsprachenlehrerin hat es mich immer interessiert, wie Kolleginnen und Kollegen mit der in ihren Klassen vorgefundenen – schulischen und lebensweltlichen – Mehrsprachigkeit umgehen. In diesem Zusammenhang zeichnete sich mein beruflicher, wissenschaftlicher Werdegang Anfang der 2000er Jahre durch die langjährige Begleitung einer sprachlich sehr heterogenen Schülergruppe aus, die ich im Rahmen des an der Universität in Tübingen angesiedelten Pilotprojektes WIBE – Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Fremdsprache in der Grundschule; Zielsprache Englisch und Zielsprache Französisch – kennenlernte und wissenschaftlich und unterrichtlich begleitete. Vier Jahre lang, während der gesamten Grundschulzeit der jungen Lernenden (damals 6 bis 10 Jahre), nahm ich am immersiv angelegten, zweistündigen Französischunterricht teil bzw. unterrichtete zuweilen selbst, beobachtete, beschrieb, analysierte und interpretierte nach und nach ihre anfänglichen und allmählich häufiger verwendeten fremdsprachlichen Kommunikationsstrategien. Diese befähigten die Lernenden zur aktiven Beteiligung an der Interaktion mit der Lehrkraft im Unterricht. Dieses umfangreiche, von mir erhobene Datenmaterial konnte ich anschließend in mein Dissertationsprojekt münden lassen (vgl. Publikationen Méron-Minuth, insbesondere von 2009 bis 2012). Die eigene Mehrsprachigkeit, die Beobachtungen des frühen Fremdsprachenlernens und der Lern- und Kommunikationsstrategien von Lernenden, mit einem nicht-romanischen, herkunftssprachlichen Hintergrund und schließlich der Kontakt mit Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern im Zusammenhang mit studentischen Praktika ließen immer deutlicher die Frage in mir reifen, in welcher Weise die Schule und hier speziell der Fremdsprachenunterricht mit vorhandener Mehrsprachigkeit umgehen würde.

Hinzu kamen sprachenpolitische Bestrebungen und schulische Zielsetzungen, die mich letztendlich dazu bewogen haben, einen Perspektivenwechsel von den jungen Lernenden zu den Lehrenden vorzunehmen und im Rahmen meines Habilitationsprojektes Näheres über die Einstellungen und die Unterrichtspraxis von Fremdsprachenlehrkräften zu erfahren, die im Kontext realer Mehrsprachigkeit in ihren Klassen in der Institution Schule arbeiten. Infolgedessen habe ich diese Studie in der Erwartung durchgeführt, Informationen über ihre Innenperspektive, ihre subjektiven Sichtweisen zur Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler zu sammeln und zu analysieren, um letztendlich daraus mögliche Schlussfolgerungen für eine veränderte Praxis der Lehreraus-, -fort und -weiterbildung, vor allem mit Blick auf eine sich verändernde Schülerschaft, ableiten zu können.

Denn durch Flucht, Vertreibung und Arbeitsmigration hat sich die Schülerschaft in den letzten Jahren beträchtlich verändert (vgl. dazu Kapitel 4.2). Bei den Ergebnissen der PISA-Studie von 2000 stammt bereits über ein Fünftel (21,7 %) der fünfzehnjährigen Jugendlichen aus Familien mit Migrationshintergrund (vgl. Baumert, Klieme et alii, Deutsches PISA-Konsortium 2002). Bereits die Arbeitsmigranten (Italien, Spanien, Türkei) der ersten Generation hatten mit Problemen der Integration zu kämpfen, und die Nachkommen der zweiten und dritten Generation sind teilweise heute noch die Verlierer des deutschen Bildungssystems (vgl. Bildungsbericht der Bundesregierung 2016):

„Hinsichtlich der Beteiligung an den weiterführenden Schulen zeigen sich – zunächst in der schulstatistischen Unterscheidung nach deutschen und ausländischen Jugendlichen – eklatante Unterschiede: Während deutsche Jugendliche im Schuljahr 2014/15 fast zur Hälfte am Gymnasium sind (rund 44 %) und nur zu 8 % an Hauptschulen, besucht lediglich knapp ein Viertel (24 %) der ausländischen Jugendlichen das Gymnasium und ein weiteres Viertel (25 %) die Hauptschule […].“ (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2016: 173)

Der folgende Auszug aus demselben Bericht hebt die hohen Diskrepanzen hervor, die auf dem Arbeitsmarkt zwischen Ausländern und Deutschen besteht:

„Die Disparitäten in der Ausbildung setzen sich auf dem Arbeitsmarkt fort. Die Differenz im Erwerbsstatus zwischen jungen Erwachsenen ohne und mit Migrationshintergrund erweist sich als beträchtlich. Bei der Erwerbstätigkeit macht sie 13 Prozentpunkte (86 gegenüber 73 %) aus (Abb. H2–5). Die Differenz erklärt sich weniger aus Arbeitslosigkeit als aus der Quote der Nichterwerbspersonen, die bei jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch ist wie bei Personen ohne Migrationshintergrund (21 zu 10 %).“ (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2016: 178; Hervorhebungen im Text)

 

Dabei ist schulische Bildung der Kinder der wichtigste Faktor der Hoffnungen der Migrantenfamilien auf Integration ihrer Sprösslinge in Deutschland. Diese Hoffnungen werden durch deren schlechte Schullaufbahnchancen häufig gedämpft. Schulische Anforderungen orientieren sich an der Majoritätskultur und der schulische Habitus ist weiterhin monolingual (vgl. Göbel & Schmelter 2016; Gogolin 1994, 2011). Die noch unzureichende Beherrschung der Schulsprache und mögliche Bildungsferne sind dabei die Hauptgründe für das Scheitern der Kinder mit Migrationshintergrund. Aus diesem Grunde haben alle Bundesländer diverse Sprachförderprogramme mit dem Anspruch der Verringerung von Disparitäten aufgelegt (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007). Die meisten Familien- und (vor allem) Minderheitensprachen stehen in einer möglichen Beliebtheitsliste der Sprachen ganz unten; sie werden gar im institutionellen Schulkontext ignoriert, wie es Senem Aydin (2016) hervorhebt:

“[…] the already existing migration-related multilingualism of pupils speaking minority languages is generally ignored in the school context.” (Aydin 2016: 8)

Weiterhin betrachtet Aydin kritisch, dass die Forschung im Bereich von Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenunterricht die Bedürfnisse sowie das Potenzial der Migrationsschülerinnen und -schüler mit Minderheitensprachen vernachlässigt beziehungsweise geringgeschätzt wird. Die entsprechenden Studien in diesem Feld sind „[…] still very modest” (Aydin 2016: 9), obgleich die migrationsbedingte sprachliche Heterogenität längst zur Landschaft des deutschen Schullebens gehört:

“[…] Although migration-related linguistic heterogeneity has become part of school life in Germany, the needs of pupils with a migration background have been neglected in research in the field of multilingualism and foreign language education.” (Aydin 2016: 8)

Demgegenüber genießen die romanischen Sprachen beziehungsweise die institutionell gelehrten Fremdsprachen ein erheblich höheres Ansehen. Es bleibt allerdings festzustellen, dass dieser negative Blick kein komplettes Spiegelbild der Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund repräsentiert, weil diese eben auch bemerkenswerte Erfolge aufweisen, wenn ihre sprachlichen Kompetenzen und individuelle, familiäre und (schul-)kontextuale Merkmale als positive Einflussfaktoren für effizientes Englischlernen als dritte Sprache berücksichtigt werden (vgl. Özkul 2015 und Aydin 2016). Diese Aussagen sind insofern wichtig, als Berichte jüngeren Datums zeigen, dass ausländische Kinder weniger Bildungschancen haben bzw. bildungserfolgreich und demgemäß weniger an Gymnasien anzutreffen sind. Dies zeigen vor allem beispielsweise Flam und Schönefeld in einem Beitrag von 2007 oder auch Siegert in einem Bericht von 2008 zur schulischen Bildung von Migrantenkindern in Deutschland:

„Ausländische Schüler besuchen häufiger eine Hauptschule und seltener eine Realschule oder ein Gymnasium als deutsche. Darüber hinaus gehen sie häufiger auf eine Förderschule und speziell auf eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen.“ (Siegert 2008: 32)

Es ist also Aufgabe der Schule, die Integrationsbemühungen der Kinder mit Migrationshintergrund zu fördern und ihre verschiedenen Sprachkompetenzen und vorgängige Sprachlernerfahrungen in den Unterricht zu integrieren und zu persönlichen Erfolgserlebnissen zu verdichten. Die seit den letzten zwei Jahren präsenten Fluchtbewegungen werden zukünftig Einfluss auf die Bildungseinrichtungen der Zielländer – hier Deutschlands – haben. Denn die neu zugewanderten Menschen bringen neue Herkunftssprachen sowie bedingt durch Kriege, Konflikte etc. traumatisierende Erfahrungen mit sich, die das Leben in der Gemeinschaft in der schulischen Institution sowie in weiteren Bildungseinrichtungen in den kommenden Jahren prägen werden.

„Dabei wird aber auch deutlich, dass von „dem“ ausländischen Schüler prinzipiell nicht gesprochen werden kann. Differenziert man die ausländischen Schüler nach ihrer Staatsangehörigkeit, so zeigen sich zwischen den einzelnen Gruppen teilweise deutliche Unterschiede: Polnische, russische und kroatische Schüler können sich im deutschen Schulsystem vergleichsweise gut positionieren, Schüler aus Serbien und Montenegro, der Türkei und Italien dagegen vergleichsweise schlecht.“ (Siegert 2008: 32f.; Hervorhebungen im Text)

Aber im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen nicht nur die Schülerinnen und Schüler mit ihren herkunftssprachlichen Diversitäten, sondern auch die übrigen Lernenden, die ja bereits in ihrer Schullaufbahn Fremdsprachen gelernt haben und bis zu einem Punkt ihrer jeweiligen Interimssprache mehrsprachig sind. Die Einstellungen der Lehrenden zu den beiden unterschiedlichen Populationen und ihrer jeweiligen Mehrsprachigkeit soll untersucht werden, um der Antwort auf die Frage: „Mehrsprachigkeit als Ressource“ (Göbel & Schmelter 2016: 274) näher zu kommen. Die letztgenannten Autoren bemängeln zu Recht, dass in den letzten Dekaden innerhalb der Fremdsprachendidaktik kein Unterschied zwischen dem Erlernen der ersten, zweiten oder dritten Fremdsprache gemacht wurde. Auch stellen sie eingangs fest, dass weder die Herkunftssprachen noch die schulischen Fremdsprachen wirklich in den regulären Unterricht integriert würden (vgl. Göbel & Schmelter 2016). Zur Exploration dieses Problems spielt die Kenntnis der Einstellungen der Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer eine essenzielle Rolle und dies wird der Kern meiner Untersuchung sein.