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Norma hatte keinen Schuss gehört. Aber Fischers Zusammenbruch konnte nichts anderes sein als die Folge eines Schusses. Aus einer Faustfeuerwaffe. Mit Schalldämpfer. Da war vor ihren Augen ein Attentat verübt worden! Selbst als Polizistin hatte sie ein solches Verbrechen nicht aus unmittelbarer Nähe erleben müssen. Die Zeit schien wie eingefroren. Jede Einzelheit, jedes winzige Detail wurde überdeutlich. Sie sah auf die Redakteurin, deren Mund weit offen stand in fassungslosem Entsetzen. Hörte ihr grelles Schreien. Beobachtete Bruno, wie er sich das blasse Gesicht rieb. Schaute auf die anderen Personen im Stand, die sich in die Ecke stürzten, in die Fischer gefallen war, oder ratlos verharrten. Der Görlitzer Abgesandte hatte noch gar nichts begriffen und beugte sich zu seinen verkleideten Bürgern hinüber, bis er auf einmal spürte, dass etwas passiert war, und sich verunsichert umwandte. Und ihre Blicke suchten nach dem Täter! Sie entdeckte die drei, dann vier Mönche zwischen den Umstehenden, unter denen sich allmählich ein Gedanke ausbreitete. Aus ihrer Mitte heraus war etwas Grauenhaftes geschehen.

Aufgeregte Stimmen wurden laut. Man rief nach der Polizei.

»Ein Arzt!«, brüllte eine Frau mit sich überschlagender Stimme. »Schnell ein Arzt!«

Es war die Betreuerin der Prominenten. Was für ein Albtraum, die Arme, ging es Norma durch den Kopf, während sie hastig nach dem übrigen Mönch Ausschau hielt. Endlich entdeckte sie die in braunes Tuch gehüllte Gestalt beim Marktbrunnen. Der Mörder drängte sich zwischen die Besucher, die von dem Attentat nichts ahnten.

»Es war der Mönch!«, brüllte Norma, so laut sie konnte. »Haltet den Mönch!«

Sofort stürzten sich einige Männer auf die Mönche in der Gruppe, und es entstand ein heilloser Tumult. Norma hastete an der verdatterten Gabi vorbei und sprang auf das Pflaster. Sie lief, das Schimpfen der angerempelten Passanten ignorierend, auf den Brunnen zu und hetzte am alten Rathaus vorbei und in die Marktstraße hinein. Wohin mochte der Mörder fliehen?

In der Gasse herrschte kaum weniger Geschiebe als auf dem Festplatz. Der übliche Betrieb an einem Samstagvormittag. Was für eine Kaltblütigkeit, vor aller Augen einen Mordanschlag zu begehen und dann in einem so auffälligen Kostüm in die Menge einzutauchen!

»War da ein Mönch?«, rief sie den Passanten zu. »Haben Sie einen Mönch gesehen?«

Ratlose, mürrische und gleichgültige Mienen blieben ihr die Antwort schuldig, bis ein Junge die Straße hinauf zeigte. »Er ist da lang!«

In der Ferne waren die Polizeisirenen zu hören.

Im Laufen zog sie das Telefon aus der Hosentasche, drückte den Notruf. »Hier Norma Tann, Ex-Kollegin. Es geht um den Anschlag vor dem Rathaus. Er flieht in Richtung Stadtmitte. Ich verfolge ihn!«

Außer Atem beschrieb sie die Verkleidung.

»Überlass das den Kollegen!«, antwortete eine Männerstimme, die ihr vertraut vorkam. »Der Mann ist bewaffnet! Halte dich da raus, Norma …«

Norma beendete die Verbindung und folgte weiter der Marktstraße, die in die Langgasse, die Haupteinkaufsstraße, mündete. Auf der Kreuzung hatte eine Gruppe afrikanischer Musiker ihr Publikum herbeigetrommelt. Norma zwängte sich zwischen den Zuschauern hindurch, von denen niemand einen Mönch bemerkt haben wollte. Auf gut Glück rannte sie geradeaus weiter und fragte sich durch, bis sie einen neuen Hinweis erhielt.

Eine alte Frau wies mit ausgestrecktem Arm auf einen Hauseingang: »Da iss als einer nei, der wie ein Mönch ausgeschaut hat! Hab noch gedacht, so ein Mann Gottes, der muss auch zum Arzt.«

Norma dankte ihr und stürzte zur Haustür. Die Schilder an der Fassade wiesen auf mehrere Arztpraxen hin. Die Tür ließ sich aufdrücken und führte in ein restauriertes Treppenhaus. Rauf oder runter? Norma entschied sich für die Stufen nach unten und stieß draußen auf einen Hintereingang. Vom Hof aus gelangte man über einen Durchgang in eine verlassene Gasse. Norma hielt zu beiden Seiten Ausschau. In der schmalen Straße lagen keine Läden, die Fußgänger herbeigelockt hätten. Kein Mensch war zu entdecken. Der Mönch war außer Sicht, falls er überhaupt hierher geflohen war. Norma rang nach Luft. Mit ihrer Kondition stand es wirklich nicht zum Besten. Dazu gesellten sich heftige Seitenstiche. Sie blieb stehen und presste die Hand gegen den Bauch, bis die Stiche nachließen. Enttäuscht kehrte sie in den Innenhof zurück. Neben dem Tor befand sich ein Holzschuppen. Vorsichtig zog Norma die Tür auf. Im Schuppen entdeckte sie mehrere Fahrräder. Dahinter türmte sich Gerümpel zwischen einer Reihe von Mülltonnen. Norma riss die Deckel auf. In einer Tonne lag obenauf ein schwarzer Plastiksack, den sie mit spitzen Fingern herauszog. Der Kerl hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Kostüm besser zu verstecken.

Sie wählte wieder den Notruf und beschrieb so gut es ging, wo sie sich befand.

»Bist du in der Hochstättenstraße?«, fragte der Mann an der Zentrale, ein früherer Kollege.

Der Straßenname war ihr nicht eingefallen. Sie bestätigte ihn und fragte hastig nach Moritz Fischer. »War der Notarzt rechtzeitig da? Wird Fischer durchkommen?«

»Dem Opfer konnte kein Arzt mehr helfen«, lautete die lakonische Antwort. »Der Mann ist tot.«

7

Sonntag, der 20. August

Moritz Fischer starb durch ein Projektil des Kalibers 9 mm. Das Geschoss habe sein Herz durchdrungen, hieß es am Sonntagmorgen in den Radionachrichten. Polizei und Stadtverwaltung hätten in Erwägung gezogen, die Rheingauer Weinwoche vorzeitig zu beenden, sich aber nach kontroversen Beratungen dagegen entschieden, berichtete ein Reporter des Hessischen Rundfunks. Spezialisten der Polizei seien zu dem Schluss gekommen, dass man es nicht mit einem Amokläufer zu tun habe. Man rechne nicht mit einer weiteren Tat, wurde erklärt, ohne diese Annahme zu begründen. Die Menschen der Stadt stünden unter Schock, meldete der Journalist mit belegter Stimme.

Trotzdem war das Weinfest an seinem letzten Tag gut besucht; ein Umstand, der Gabi erstaunte, Norma nicht wunderte. Der Tatort eines Mordes übt eine makabere Anziehungskraft aus. Und so wurde der in weitem Abstand abgeschirmte Prominentenstand seit Stunden von Neugierigen umlagert. Viele Besucher brachten Blumen mit, und zur Mittagszeit bedeckte ein Blütenteppich die Stufen vor dem Rathaus.

Gabis Mitleid galt der jungen Witwe. Sie drängte Norma, ihr mehr über Diane zu erzählen. »Du kennst sie doch! Wie mag sie den Tod ihres Mannes verkraften? Hat sie ihn sehr geliebt?«

Ungeachtet ihrer 50 Lebensjahre, von denen sie die meiste Zeit als Bedienung in Kneipen und Restaurants verbracht hatte, schien Gabi wie ein Kind an die heile Welt und die Beständigkeit der Liebe zu glauben. Norma konnte sich nicht vorstellen, dass Diane Fischer außer der eigenen Person ein anderes Wesen als ihr Hündchen, eine kurzatmige Pekinesenhündin, lieben könnte. Moritz Fischer war nicht weniger selbstverliebt. Seine Eifersucht entsprang nach Normas Einschätzung einem reinen Besitzdenken, und er mochte seiner Frau kaum die kleine Cleo gönnen, an der Diane mit einer Affenliebe hing. Diese Meinung behielt Norma für sich. Sie wollte dem Paar nichts Böses nachsagen und Gabi damit verleiten, diesen Klatsch in der Weinstube unter die Leute zu bringen.

Der Polizei gegenüber war Offenheit gefordert. Unmittelbar nach den Ereignissen hatte Norma nur kurz mit ihren ehemaligen Kollegen gesprochen. Am frühen Sonntagnachmittag kam es zu einem ausführlichen Gespräch. Dirk Wolfert und Luigi Milano suchten Norma auf dem Weinfest auf. Ganz und gar in dienstlicher Mission lehnten sie ihre Einladung zu Kartoffeln mit grüner Soße ab und verschmähten selbst ein Glas Wein. Milano wollte lieber einen Espresso, den Norma nicht anzubieten hatte. Sie bat Gabi um eine Pause und begleitete die Kriminalbeamten die wenigen Schritte hinüber zum ›Havanna‹, das dem neuen Rathaus gegenüberlag. Draußen vor dem Eingang waren alle Plätze besetzt, aber drinnen bot das Lokal, eine urige Mischung aus Bar und Café, genügend Auswahl an freien Tischen. Milano strebte am Tresen vorbei in den hinteren Bereich, in dem sie ungestört reden konnten. Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, der sich unter der korpulenten Gestalt in ein Kindermöbel verwandelte. Der dünne Wolfert setzte sich seinem Kollegen gegenüber und bedeutete Norma mit einer Handbewegung, zwischen beiden Männern Platz zu nehmen.

Sie warteten schweigend, bis die Bedienung die Bestellung aufgenommen hatte. Für einen Augenblick rief Norma sich Wolfert und Milano als jene jungen Polizisten in Erinnerung, die kurz nach ihr den Dienst angetreten hatten und damals mit Feuereifer bei der Sache waren. Ein spektakulärer Mord wie dieser hätte ihr Jagdfieber explosionsartig entfacht. Nun wirkten beide eher gelangweilt, wenn nicht sogar abgebrüht. Doch Norma war sich bewusst, dass beider Fähigkeiten als Ermittler darunter nicht leiden mussten. Erfahrung und Routine glichen das Quantum Arbeitseifer aus, das den Männern mittlerweile abhanden gekommen sein mochte.

Milano stützte seine fleischigen Ellenbogen auf die Tischplatte und nickte ihr auffordernd zu. »Also, Norma, wiederhole noch einmal, was du gestern beobachtet hast!«

Kollege Wolfert blätterte unterdessen in seinem Notizbuch. Bei dem Gespräch am Tag zuvor hatte er ihre Aussage mitgeschrieben. Norma wollte ihnen die Arbeit erleichtern und schilderte die Einzelheiten mit akribischer Genauigkeit. Über den mordenden Mönch selbst konnte sie nur vage Angaben machen. Über Nacht waren ihr keine weiteren Einzelheiten eingefallen. Milano und Wolfert wirkten enttäuscht, weil sie mit dem Mönch nicht weiterkamen, ließen Norma aber trotzdem an ihrem derzeitigen Erkenntnisstand teilhaben. Danach war inzwischen immerhin auszuschließen, dass der Mönch zur Görlitzer Gruppe gehört. Das Mönchskostüm war aus einem Raum im Rathaus gestohlen worden, den man der Gruppe zum Umziehen zur Verfügung gestellt hatte. Ob der Diebstahl in der Nacht von Freitag auf Samstag oder erst am Vormittag stattgefunden hatte, stand noch nicht fest. Unbestritten schien, am Samstagmorgen war es dort wie im Taubenschlag zugegangen.

»Könnte Moritz Fischer ein zufälliges Opfer sein?«, fragte Norma.

Milano hob ratlos die Schultern. »Das wissen wir noch nicht. Falls der Mörder es gezielt auf ihn abgesehen hatte, brauchte er die Dienstzeiten der Prominenten nur im Internet nachzulesen. Das war kein Geheimnis.«

Ein junger Mann trug ein Tablett heran. Er stellte je eine Tasse Kaffee, Espresso und Milchkaffee auf den Tisch und wandte sich mit einem Lächeln ab.

Milano schob Norma den Milchkaffee zu. »Du sagtest, du kanntest Moritz Fischer.«

Norma griff nach der Tasse. »Wir standen uns nicht nahe, falls du das meinst, Luigi. Fischer ist ein Schulfreund meines Mannes. Ab und zu haben wir uns privat mit Fischer und seiner Frau Diane getroffen. In den vergangenen Jahren hat Arthur mit Fischer geschäftlich eng zusammengearbeitet.«

Wolfert zückte den Bleistift. »Wie sah diese Zusammenarbeit aus?«

Norma hatte die Wohnung ohne Frühstück verlassen und seitdem nichts zu sich genommen. Ihr Magen war wie zugeschnürt. Vorsichtig nippte sie an der Tasse. »Arthur und Fischer haben dieselbe wohlhabende Klientel: Fischer renoviert die Villen, und Arthur stattet sie mit alten Möbeln und Gemälden aus.«

Wolfert beugte sich vor und fixierte Norma durch seine dicken runden Brillengläser. »Wieso sprichst du von Fischer? Wieso nennst du ihn nicht Moritz?«

Norma nahm einen zweiten Schluck Milchkaffee. Noch revoltierte ihr Magen nicht. »Man soll Toten nichts nachsagen. Aber ich konnte ihn nicht leiden. Fischer klingt distanzierter.«

Milano grinste. »Hatte er weitere Feinde außer dir?«

Er besaß die schwarzen Augen seiner italienischen Eltern, war aber, wie Norma wusste, ein echter Wissbader Bub.

Norma begegnete seinem Blick. »Wenn alle, die mir unsympathisch sind, meine Feinde wären … Fischer war ein Egoist. Arrogant und immer auf seinen Vorteil bedacht. Ich hatte wenig mit ihm zu tun, und Arthur wusste ihn zu nehmen.«

»Und die anderen Geschäftspartner?«, fragte Wolfert. Hinter den Gläsern verschwammen seine wasserblauen Augen. »Wie wusste zum Beispiel Bruno Taschenmacher seinen Freund Fischer zu nehmen?«

Norma blickte zu einem benachbarten Tisch hinüber, an dem ein junges Paar Platz genommen hatte. Beide hielten sich an den Händen und flüsterten verliebt.

Norma konzentrierte sich auf das Gespräch. »Fischer besaß alles, was auch Bruno wollte: Anerkennung, Macht, Einfluss, reiche Freunde und eine Frau, mit der er sich bei gesellschaftlichen Anlässen blicken lassen konnte. Bruno ist seit Kurzem wieder allein. Seine Frau hat ihn verlassen.«

Agnieszka war nach wenigen Ehejahren in ihre polnische Heimat zurückgekehrt. Aus Heimweh, behauptete Bruno.

Norma zögerte. »Eines kam mir immer seltsam vor.«

»Und das wäre?«, fragte Milano, während er eine halbe Tüte Zucker in seinen Espresso schüttete.

»Nun, Bruno ist ein impulsiver Mensch«, erklärte sie, ihre Gedanken ordnend. »Gefühlsbetont. Ein bisschen sentimental sogar.«

»Du meinst, er ist einer, der im Kino heult?« Milano rührte in der Tasse und lachte glucksend.

Wolfert schickte ihm einen missbilligenden Blick.

Norma setzte zu einer ausführlichen Erklärung an. »Was ich meine, ist: Bruno hat niemals Anzeichen von Neid gezeigt, was verständlich wäre. Fischer kommt aus einem reichen Elternhaus, ebenso wie Arthur. Sie bewegen sich auf vertrautem Terrain. Bruno musste sich nach oben kämpfen. Fischer hat er angebetet. Nicht ganz so sehr, wie er Arthur vergöttert. Beide Freunde, vor allem aber Fischer, haben sich Bruno gegenüber oft niederträchtig verhalten. Aber Bruno ist der Typ, der alles in sich hineinfrisst und nach außen die gute Miene macht.«

Eine rundliche Frau eilte auf ihren Tisch zu. Am Stand sei der Teufel los, erklärte Gabi außer Atem. Sie komme sofort, versprach Norma, und Gabi zog wieder los.

»Einen Moment noch, Norma«, bat Wolfert. »Taschenmacher und Fischer schmieden große Pläne mit der ›Villa Stella‹, heißt es.«

Milano kippte den Espresso in einem Zug hinunter. »Gemeinsam mit deinem Mann! Noch seid ihr nicht geschieden, stimmts? Was weißt du über das ›Marcel B.‹?«

Was ihre Ehe betraf, schienen die ehemaligen Kollegen besser informiert als über Fischers Verrat an Bruno und dessen Vorhaben, das geplante Restaurant ausgerechnet Brunos härtestem Konkurrenten zu überlassen. Sie durfte nicht ausschließen, dass gar nichts dran war und Arthur auf ein Gerücht vertraut hatte.

»Darüber redet ihr am besten mit Arthur.«

Milano nickte bedächtig. »Das werden wir. Heute noch. Seine Wohnung liegt in der Taunusstraße?«

Norma diktierte Wolfert die Hausnummer und Telefonnummern von Geschäft, Wohnung und Mobiltelefon ins Notizbuch.

Norma wollte aufstehen, aber Milano hielt sie zurück. »Eins noch: Was kannst du uns über die Beziehung zwischen Fischer und seiner Frau Diane erzählen?«

Sie hatte bereits ausgesagt, dass sie Diane während des Anschlags nirgends gesehen habe. Aber den Mord konnte Diane nicht begangen haben.

»Diane könnt ihr vergessen«, erklärte Norma. »Sie hätte vielleicht ein Motiv. Ihre Ehe war zeitweilig ein Desaster. Fischer konnte vor Eifersucht rasend werden, und sie hat ihm jede Menge Anlässe dafür geliefert. Aber geschossen hat sie nicht.«

»Die Füße unter der Kutte.« Wolfert seufzte resigniert. Diese Spur lief ins Leere. »Sie gehörten zu einem Mann. Bist du dir in dem Punkt sicher?«

Norma nickte bestätigend. »Es steckten Männerfüße in den Sandalen, ganz bestimmt.«

Milano wollte den Verdacht ungern aufgeben. »Diane Fischer kann einen Komplizen haben, einen zu allem bereiten Liebhaber. Weißt du etwas über eine aktuelle Affäre?«

»Keine Ahnung«, erklärte Norma ehrlich und stand auf. Sie musste los, Gabi wartete. Wolfert und Milano erhoben sich ebenfalls. Als sie nacheinander am Tisch des jungen Pärchens vorbei gingen, blickte das Mädchen verträumt auf. Norma erwiderte das Lächeln mit einer Spur Wehmut. Am Tresen zahlte jeder sein Getränk.

»Hoffentlich bringt uns die Waffe auf eine Spur«, bemerkte Milano im Gehen. »Vorausgesetzt, die Pistole wurde bereits für ein Verbrechen benutzt. Dann könnten wir mit einem Projektilvergleich weiterkommen.«

Draußen drängten sich die Besucher des Weinfestes.

Norma ließ eine Frau mit Kinderwagen vorbei. »Das macht mir zu schaffen. Ein kaltblütiger Killer läuft frei herum.«

»Eiskalt, du sagst es!« Milano betrachtete sie mit düsterer Miene, die ihm gut stand. Er bekam etwas Melancholisches, wenn er auf die Scherze und Grimassen verzichtete. »Ist alles ausgelöscht, was du in deinem Beruf gelernt hast? Einen bewaffneten Täter allein zu verfolgen, das war sträflicher Leichtsinn!«

Norma schnaufte ärgerlich. »Immerhin habe ich euch die Mönchskutte geliefert!«

»Und was, wenn du den Kerl beim Umziehen erwischt hättest?«, mischte sich Wolfert ein.

»Das ist allein meine Sache. Ich muss mein Verhalten nicht vor euch rechtfertigen.«

»Schade, dass du nicht mehr im Team bist, Norma.«

Ausgerechnet Wolfert sagte das. Sie waren mehrmals aneinander geraten. Meistens wegen unterschiedlicher Auslegungen der Gesetzeslage. Wolfert war ein Pedant, und Norma hatte manche Bestimmungen zugunsten der Betroffenen gern großzügiger ausgelegt. Wobei die Betroffenen sowohl Opfer als auch Täter sein konnten.

»Ich habe nie kapiert, warum gerade du die Polizei verlassen hast«, fügte er hinzu.

Sein Bedauern klang aufrichtig und stimmte sie versöhnlich. Bevor sie antworten konnte, schob sich eine Gruppe junger Leute vor beide Männer, und als der Blick wieder frei war, hatten sich die Polizisten abgewandt. Norma blickte ihnen nach, dem massigen Milano in seinem wiegenden Gang und dem dürren Wolfert, bevor sie sich aufmachte, um ihren Platz im Stand für die letzten Stunden einzunehmen.

Ade, grüne Soße! Ab morgen war sie wieder die Private Ermittlerin Norma Tann.

Ihr neues freies Leben.

8

Montag, der 21. August

Norma begann den Tag mit Schreibtischarbeit. Ihr Büro war einst ein Blumenladen, und die ursprüngliche Nutzung verrieten der erdbraune Fliesenbelag und die Schaufensterfront. Der Raum lag im Erdgeschoss eines uralten Hauses, unter dessen Dach sie seit einem Vierteljahr wohnte. Das Büro war ein Glücksfall, ebenso wie die Dachwohnung so nahe am Rhein. Eine größere Wohnung hätte sie sich nicht leisten können, aber sie war keinen Kompromiss eingegangen, sondern fühlte sich ausgesprochen wohl darin. Es gab nur zwei weitere Bewohner: Die Vermietern Eva Vogtländer, eine pragmatische Lehrerin, die ihre Wochenenden und einen Teil der Ferien bei ihrem Freund in Köln verbrachte, und den Kartäuserkater. Zum einen fand Eva es schick, eine Privatdetektivin zu beherbergen. Doch in erster Linie hatte Norma es Leopold zu verdanken, dass Eva das Risiko unregelmäßiger Mieteinnahmen einging. Bei der ersten Besichtigung hatte sich der Kater schnurrend an Normas Waden geschmiegt, und ihr Versprechen, ihn mit Futter und Aufmerksamkeit zu versorgen, wenn Eva in Köln war, gab den Ausschlag.

So war Norma hinunter an den Rhein nach Biebrich gezogen. Ihr gefiel dieser lebendige Stadtteil Wiesbadens. Sein Ursprung als unabhängige Kleinstadt ließ sich noch deutlich am Ortskern ablesen. Bescheidene Bürgerhäuser umsäumten einen weitläufigen Park aus dem frühen 18. Jahrhundert. Das Schloss darin glänzte mit einer vollendeten Symmetrie. In den folgenden Jahrhunderten siedelte sich am Rheinufer in Richtung Amöneburg die Industrie an, und es entstanden Straßenzüge mit Mietshäusern, deren Bewohner heute für eine bunte Mischung verschiedener Nationalitäten und Kulturen sorgten. Wenn Norma vom Schreibtisch aufsah, fiel ihr Blick auf die Menschen, die das Schaufenster passierten, um ihren Besorgungen nachzugehen oder durch den Schlosspark oder entlang des Rheinufers zu spazieren.

An diesem Vormittag blickte Norma sehr oft von ihrer Arbeit auf. Sie konnte sich nur schwer auf den Bericht konzentrieren, der ebenso langweilig war wie das Vergehen des Ehemannes, der in Wirklichkeit als einsamer Wolf durch die Wiesbadener Kneipen gezogen war, anstatt sich, wie seine Frau vermutete, mit einer Geliebten zu vergnügen. Norma hatte ihre Auftraggeberin über die Unschuld des Gatten unterrichtet, bevor sie den Job auf dem Weinfest antrat. Die Zweifel der Frau waren so leicht nicht zu beheben. Sie verlangte ein lückenloses Protokoll, und so tippte Norma ihre Aufzeichnungen sorgfältig in eine Tabelle. Zwischendurch versuchte sie mehrmals, ihre Mutter anzurufen, die nach der Stallarbeit gewöhnlich in die Küche ging, um das Mittagessen vorzubereiten. Beim dritten Versuch nahm die Mutter ab.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Norma.

»Wenn du dich monatelang nicht meldest, brauchst du heute auch nicht anzurufen!«

Norma widerstand dem Impuls, umgehend aufzulegen. »Wie geht es dir?«

»Wie solls schon gehen? Bei der Arbeit!«

»Und Folke?«

Sonst kam das Gespräch leicht in Gang, wenn Norma nach ihrem Bruder fragte. Aber nun gelang ihr damit ein Stich ins Wespennest.

»Seine Freundin hat Schluss gemacht! Heutzutage will doch keine mehr einen Bauern heiraten!«

Es folgte ein Rundumschlag gegen die modernen jungen Frauen. Norma hörte wortlos zu und nahm sich vor, anschließend in die Wohnung hinaufzugehen und sich endlich den ersten Yogaübungen zu widmen. Dabei würde sie hoffentlich die Ablenkung finden, die sie dringend brauchte. Die Totenposition hatte sie schon vor dem Aufstehen im Bett ausprobiert. Der Name gefiel ihr nicht.

Sie hatte das Gespräch kaum beendet, als ein Schatten am Fenster sie hochfahren ließ. Doch es war nur ein Junge, der sich nach einem neugierigen Blick davonstahl. Die dunkle Kapuze hatte sie erschreckt. Das Bild des Mönchs verfolgte sie. Dass sie ihn nicht näher beschreiben konnte, quälte sie. Was konnte sie über den Täter sagen? Um die 1,75 m, höchstens 1,80 m groß. Ein Mann, mit höchster Wahrscheinlichkeit, erkennbar an der Art, sich zu bewegen; abgesehen von den nackten Füßen, die ihn flink vorangetragen hatten. Rechtshänder. Zwei Eigenschaften, die er mit unzähligen Männern gemeinsam hatte. Unter anderem mit Arthur.

Norma speicherte die Datei und schenkte sich einen Tee ein. Während sie an der Tasse nippte, rief sie sich die Proportionen des Mönchs ins Gedächtnis. Der breite Rücken, den er ihr zugewandt hatte, als er sich an den Prominentenstand herandrängte. An diesem Detail ihrer Erinnerung störte etwas. Dem kompakten Umfang zum Trotz, war die Person mit einer dynamischen Energie geflüchtet, die man einem korpulenten Menschen nicht zutraute. Eine Fehleinschätzung? Schon möglich, wenn man sich Bruno Taschenmacher zum Beispiel nahm, der behäbig wie ein Bär wirken mochte, sich aber ebenso wie Meister Petz verblüffend geschmeidig bewegen konnte. Doch Bruno hatte – für jedermann sichtbar – nahe beim Opfer gestanden. Abgesehen davon war Bruno der Letzte, dem sie einen Mord zutraute.

War der Täter ein sportlicher Dicker? Oder hatte er sich aufgepolstert, um die Augenzeugen zu verwirren? Norma dachte an die Schutzwesten der Polizei, die reichlich auftrugen. Soweit sie wusste, hatte man im Schuppen nichts anderes Verdächtiges gefunden als jenes Mönchskostüm. Er musste das Polster am Körper behalten haben. Ein Mann, der an einem warmen Tag in einer gepolsterten Weste oder mit einer Jacke bekleidet durch die Fußgängerzone ging, könnte den Passanten aufgefallen sein. Wie auch immer, sie war bestimmt nicht als Einzige auf diesen Gedanken gekommen, und vermutlich gingen die ehemaligen Kollegen dieser Spur bereits nach.

Sie wollte sich wieder dem unschuldigen Ehemann zuwenden, als jemand an das Fenster klopfte und gleich darauf die Tür öffnete. Leopold nutzte die Gelegenheit und stolzierte dem Besucher voran. Norma stand auf, um ihren Gast zu begrüßen. Ludwig Wilhelm Tann, genannt Lutz und ihr Noch-Schwiegervater, erschien hin und wieder auf einen kurzen Besuch in ihrem Büro, wenn er nicht seine übliche Strecke durch den Rabengrund trabte, sondern dem Rheinufer folgte. An diesem Morgen trug er allerdings kein Lauftrikot.

Ob sie endlich etwas von Arthur gehört habe, wollte er wissen und schaute Leopold hinterher, der seinen stämmigen Körper mit einem mühelosen Satz auf das Regal katapultierte, um dort seinen bevorzugten Ausguck einzunehmen.

Sie habe mehrmals versucht, Arthur anzurufen, gab Norma zur Antwort. Leider vergeblich.

Lutz strich sich durch die kurzen stahlgrauen Haare. »Die Polizei will ihn dringend wegen Moritz Fischer sprechen. Und sie sind nicht die Einzigen, die etwas von ihm wollen. Am Samstagvormittag tauchte sogar Diane Fischer im Laden auf und fragte nach Arthur.«

Norma nickte. »Diane war deswegen auch bei mir am Stand. Kurz, bevor diese schreckliche Sache geschah.«

»Sie wird doch nicht mit angesehen haben, wie ihr Mann …« Er brach mitten im Satz ab.

»Nein, Diane war schon gegangen. Den Mord hat sie nicht beobachtet.«

Er betrachtete sie forschend. »Du machst dir genauso Sorgen um Arthur, nicht wahr, Norma?«

Ihr eigenes Lächeln erschien ihr unsicher. »Lass uns ein Stück gehen.«

Norma schaltete das Telefon auf ihren mobilen Anschluss um. Leopold zeigte wenig Lust, seinen Wachposten zu verlassen. Wenn er so missbilligend fauchte, ließ man ihn besser auf seinem Platz. Lutz folgte ihr nach draußen. Mit wenigen Schritten hatten sie die Rheingaustraße erreicht. Sie nutzten eine Lücke im Verkehr und standen gleich darauf vor dem Anleger der Fähre, die zu einer Badeinsel übersetzte. Auf einer Mauer saß eine Frau, eine lebensgroße Plastik. Mit roten Sandalen, einer roten Tasche unter dem Arm, schaute sie auf den Strom hinaus. Auf den zweiten Blick wunderte sich der Betrachter über die blaue Krone und die rote Nase. Norma wusste, Lutz mochte die ›Froschkönigin‹. An diesem Morgen jedoch ging er achtlos an ihr vorüber.

Der regenarme Sommer hielt den Wasserspiegel niedrig. Der Rhein floss mit einer trügerischen Trägheit dahin, die den Kindern zum Verhängnis werden konnte, die eine Rampe am Ufer nutzten und sich bis zu den Oberschenkeln ins graubraune Wasser trauten. Keiner der Erwachsenen, die sich auf der Promenade aufhielten, kümmerte sich um die Kinder und deren gewagtes Spiel. Der Rhein war berüchtigt für seine tückischen Strömungen. Den sichersten Ort zum Schwimmen bot der Badestrand auf der Rettbergsaue gegenüber. Norma mochte den Rhein und liebte den Rheingau, aber vom Ufer aus. Sie war eine leidliche Schwimmerin, badete aber selten zum Vergnügen. Ihre Abneigung gegen Wassersport hatte sie in lebhaften Diskussionen gegenüber Lutz verteidigen müssen, der ein ebenso leidenschaftlicher Schwimmer wie hervorragender Streiter und um kein Thema verlegen war. Norma liebte diese Auseinandersetzungen; ein fairer Wettstreit der Argumente, den beide genossen. Beim Anblick der spielenden Kinder waren sie sich einig. Allerdings überließ er es ihr, den jungen Wasserfreunden die Gefahr zu erklären. Murrend machten sich die Kinder davon.

»Einmal Polizistin, immer Polizistin?«, fragte Lutz mit einem angedeuteten Lächeln.

»Vielleicht. Wollen wir uns setzen?«

Sie deutete auf eine Bank im Schatten einer Platane. Lutz nahm neben ihr Platz. Norma sah auf den Fluss hinaus. Ein Frachter kämpfte sich gegen den Strom voran. Der Bug schnitt tief in die Wellen hinein. Wie von Geisterhand gelenkt, so erschien ihr das Schiff. Kein Mensch war an Bord zu entdecken.

Lutz räusperte sich. »Hast du von Arthurs Reise gewusst? Ihr wart doch am Freitagabend zusammen. Habt ihr nicht über seine Pläne gesprochen?«

Sie hatte Lutz erzählt, dass sie mit Arthur nach Limburg gefahren sei, aber den Streit nicht erwähnt. Er ging davon aus, sein Sohn sei wohlbehalten in der Taunusstraße aus dem Auto gestiegen. Sie kam sich schäbig vor. Eine Lügnerin. Doch die Wahrheit würde Lutz zusätzlich beunruhigen.

Die Tür vom Steuerhaus wurde aufgestoßen. Ein Mann trat auf das Deck hinaus. Norma hatte den Eindruck, er würde unmittelbar zu ihr herübersehen.

Sie wandte sich Lutz zu. »Davon hat Arthur mir nichts gesagt. Wohin wollte er?«

Das wusste auch Lutz nicht. Josef hatte ihm nur erzählt, dass Arthur demnächst für zwei Wochen fort wollte. Mehr war auch Josef nicht bekannt. »Vielleicht ist er früher gefahren. Ganz spontan!«

Norma nickte zustimmend. »Eine Art Ausbruch aus dem Leben. Warum denn nicht?«

Lutz war anzumerken, dass ihm diese Erklärung willkommen war. Aber die Zweifel blieben. »Dieser Mord an Moritz Fischer. Befürchtest du, auch Arthur könnte … etwas zugestoßen sein? Womöglich haben sich beide auf ein gefährliches Geschäft eingelassen.«

»Fischer ist zu allerlei Bösartigkeiten fähig. Bruno hat er offenbar hinterrücks hereingelegt.«

Lutz hörte mit steigender Besorgnis zu, als sie erzählte, was sie von Arthur über den Wechsel im Restaurant erfahren hatte. »Nehmen wir an, Fischer plante auch eine Gemeinheit gegen Arthur. Mein Gott, das hieße im Umkehrschluss, Arthur könnte Fischer getötet haben, um dessen Plänen vorzubeugen. Er wurde zum Mörder, um sich zu schützen, und ist danach untergetaucht.«

Er schien von seiner eigenen Schlussfolgerung bestürzt.

Norma widersprach ihm aufgebracht. »Das kannst du nicht glauben! Arthur ist kein Mörder!«

Er sprang auf. »Norma, ich weiß, der Verdacht ist haltlos. Aber die Polizei ist vielleicht auf genau diese Idee gekommen. Schließlich fahndet man schon nach Arthur!«

Norma legte ihm die Hand auf den Arm. »Beruhige dich, Lutz. Im Augenblick will man ihn nur aus einem Grund sprechen: um mehr Einzelheiten über Fischer zu erfahren. Setz dich wieder hin!«

Zögernd folgte er ihrer Bitte. »Es bleibt eine dritte Möglichkeit. Arthur könnte ebenfalls zum Opfer geworden sein. Das Opfer einer Entführung.«

Norma ließ sich Zeit mit der Antwort. »Glaubst du, darüber habe ich nicht nachgedacht? Bei allem Respekt: Arthur ist wohlhabend, aber nicht reich genug, um für professionelle Entführer interessant zu sein.«

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18+
Release date on Litres:
25 May 2021
Volume:
251 p. 3 illustrations
ISBN:
9783839233344
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